Im Sommer dieses Jahres galt mein Hauptinteresse dem großartigem Buch Stichwort Liebe von David Grossmann. Hierzulande ist Grossmann mit seinem Roman Eine Frau flieht vor einer Nachricht einer größeren Öffentlichkeit bekannt geworden, es erschien 2010, dem Jahr, in dem er auch den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekam. 2008 erschien ein Aufsatzband Grossmanns, der die wichtigsten Stellungnahmen zu Politik und Literatur aus den letzten Jahren beinhaltet. In dem Artikel Die Sprache des Einzelnen und die Sprache der Masse finden sich folgende bedenkenswerte Sätze zur Aufgabe der Literatur:
„ … Die Literatur hat keine einflussreichen Repräsentanten in den Machtzentren dieser von mir beschriebenen Welt, und es fällt mir schwer zu glauben, dass sie sie verändern kann. Doch sie vermag alternative Wege aufzuzeigen, wie man in dieser Welt nach einem inneren Rhythmus und mit einer inneren Kontinuität leben kann, die unseren natürlichen, seelischen und geistigen Bedürfnissen viel mehr entsprechen als das, was uns mit Gewalt von äußeren Systemen aufgezwungen wird.
Ich weiß, dass ich bei der Lektüre eines guten Buches ein inneres Aufklaren durchlebe: Das Gefühl meiner Einzigartigkeit als Mensch wird deutlicher. Die differenzierte, präzise Stimme, die von außen zu mir vordringt, bringt Stimmen in mir zum Sprechen, die vielleicht stumm waren, bis jenes bestimmte Buch kam und sie weckte. Auch wenn Tausende von Menschen in einem bestimmten Moment das gleiche Buch lesen wie ich, steht schließlich jeder von uns allein davor. Für jeden Einzelnen von uns ist das Buch ein Lackmuspapier von einer anderen Sorte.
Das gute Buch – und es gibt nicht viele gute Bücher, denn auch die Literatur ist selbstverständlich den Verführungen und Hindernissen der „Massenmedien“ ausgesetzt – macht den Leser einzigartig und befreit ihn aus der Menge. Es gibt ihm die Möglichkeit zu spüren, wie aus unbekannten Regionen Seeleninhalte, Erinnerungen und Existenzmöglich-keiten in ihm auftauchen und an die Oberfläche steigen, die ihm allein gehören und nur ihm. Die ausschließlich die Frucht seiner Persönlichkeit sind. Das Ergebnis seiner intimsten Schlussfolgerungen. Denn im alltäglichen Leben, in der Vulgarität des Alltags, in der allgemeinen Beschmutzung des Intellekts, der flachen, undifferenzierten Sprache, haben diese Seelenstoffe es schwer, aus jenen inneren Tiefen aufzusteigen und zu Wort zu kommen.
Im Idealfall kann die Literatur unser Schicksal und das Schicksal anderer, die weit von uns entfernt leben und uns völlig fremd sind, verbinden. Sie kann uns zuweilen zum Staunen darüber bringen, dass wir nur mit knapper Not dem Schicksal fremder Menschen entgangen sind, oder Trauer darüber in uns auslösen, dass wir diesen Fremden nicht wirklich nah sind, nicht die Hand nach ihnen ausstrecken und sie berühren können. Ich sage nicht, dass diese Gefühle uns sofort zu irgendeiner Handlung motivieren, doch ohne sie ist sicher keine Solidarität, Verbindlichkeit und Verantwortung möglich.
Im Idealfall kann die Literatur uns die Gnade gewähren, die Kränkung der Entmenschlichung ein wenig zu überwinden, die das Leben in großen, anonymen, globalisierten Gesellschaften uns antut: die Kränkung, selbst in einer „groben“ Sprache beschrieben zu werden, in Klischees, Verallgemeinerungen und in Stereotypen; die Kränkung unserer Verwandlung in einen – wie Herbert Marcuse sagte – eindimensionalen Menschen.
Und die Literatur gibt uns auch das Gefühl, es gäbe einen Weg, die brutale Willkür unseres Schicksals zu bekämpfen: Selbst, wenn am Ende von Kafkas Prozess die Behörden Josef K. „wie einen Hund“ erschießen. Auch wenn Antigone hingerichtet wird, auch wenn Hans Castorp im Zauberberg am Ende stirbt, haben wir, die wir sie in ihrem Kampf begleitet haben, die Macht des Einzelnen entdeckt, menschlich zu bleiben, auch unter schwierigsten Bedingungen. Das Lesen – die Literatur – gibt uns unsere Selbstachtung zurück und unser ursprüngliches Gesicht, unser menschliches Antlitz, bevor es in der Masse verschwamm und ausradiert wurde. Bevor wir von unserem Selbst enteignet, vergesellschaftet und als Massenware zum billigsten Preis verkauft wurden.“
David Grossman, Die Sprache des Einzelnen und die Sprache der Masse, in:David Grossman, Die Kraft zur Korrektur – Über Politik und Literatur, Frankfurt a.M. 2010, S.95ff