„Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust …“ – dieses faustische Wehklagen liessen sich spielend auf meine Hörgewohnheiten übertragen, allerdings mit deutlich heiter-gelassenem Grundton: da ist zuweilen das Bedürfnis, schönen Frauenstimmen der eingängigen (und gewiss geschmackvollen) Popmuse zu lauschen, wie etwa Tori Amos, Alanis Morisette oder Taylor Swift (nein, es muss nicht immer Anna Calvi sein oder Johanna Newsom). Zum anderen, eigentlich ein ziemlicher Gegensatz: Musik aus dem Jazz- und Avantgardebereich, der eben nicht gefangen nimmt oder zur Ohrwurm-Paranoia führt („Herr Doktor, ich werde diesen Refrain nicht mehr los!“). In die erste Kategorie lädt mich desöfteren, ganz ohne Imperativ, der Song „Win Win“ von Alanis Morisette ein, dessen Akkordfolge (hier simpel zwischen G und C changierend, wohlmerkend mit dem Kapo auf dem ersten Bund) und Melodielinien dieser temperamentvollen Power-Chansonnière ich mir mittels Gitarre einverleibe. Einverleibungen sind in der zweiten Kategorie fast unmöglich, in die sich beispielsweise der Schlagzeuger Jim Black einreiht, mir vertraut aus zahlreichen Formationen, etwa im Zusammenspiel mit dem Saxofonisten Tim Berne. Hier kann sich bestenfalls ein Appetit auf freies Spiel einstellen und die Bewunderung für rhythmische Versiertheit: so geschehen beim Hören von It’s All In Your Head, dem aktuellen Album des jungen Tenorsaxofonisten Julius Gawlik, das mir wieder einmal offenbarte, wie lohnend es sein kann, von solcher Musik überrascht zu werden. Warum schreibe ich das hier? Vielleicht aus reiner Lust am Text oder schlicht als kleine Randnotiz.
One Battle After Another (2025) von Paul Thomas Anderson
Es fängt recht charmant an mit der Befreiung von Mexikanern, die man an der Borderline zum Land der unbegrenzten Möglichkeiten festgesetzt hatte – mit MG-Geballer, Mollisschmeissen und Viva la Revoluçion – mal flott das Feuer der 60er in das gegenwärtige präfaschistische Amerika transplantiert – da kommt Freude auf. Wer sich aber darauf verlassen will, dass es halbwegs geordnet weitergeht oder jetzt eine Politsatire ihren hoffentlich amüsanten Gang geht, ist hier nicht gut bedient. Der Regisseur hat noch anderes vor und offensichtlich keine Lust sich festzulegen und nur ein Segment zu bedienen. Das ist meistens anstrengend, aber unterhaltsam, gelegentlich fühlt man sich inmitten eines Tsunamis. OneBattle After Another ist ein Genre-Hybrid, ein ausuferndes Werk, das sich dem klassischen Anspruch entzieht: Thriller, Satire, Politdrama, Familiengeschichte – all das kollidiert und explodiert in Andersons Version und lässt jemanden zunächst etwas verblüfft zurück, der sich zuletzt tapfer durch There will be blood hindurchgegähnt hat. By the way mag ich diese Genremixe jetzt weniger, aber bleiben wir objektiv und lassen die eigenen Anstrengungsbemühungen mal beiseite.
Die Handlung:
Bob (natürlich wieder der Leo), ein ehemaliger Revolutionär im Exil, lebt abgeschieden mit seiner Tochter Willa, bis ein alter Feind wieder auftaucht, Willa verschwindet und er sie befreien muss. Vorher können wir ihm beim Kiffen und langsamen Versanden zuzusehen, das ist tatsächlich amüsant und er fügt seinen Rollenpersönlichkeiten noch das Segment des Komischen hinzu … a sad clown, von seinem ehemals revolutionären drive im Stich gelassen, resigniert und zusehends den Kopf in den Wolken. Sean Penn als Gegenspieler in seiner schrägen Rolle ist natürlich wie immer der Brüller, TheOdd Couple in Neuauflage. Der Film ist, so ließe sich sagen, eine Mixtur aus Paranoia, Sehnsucht nach Sozialromantik und zugleich eine Meditation über Erinnerung, politisches Engagement und Vaterliebe. Anderson (nicht der Wes sondern der Paul Thomas) nimmt Elemente aus Thomas Pynchons Roman Vineland, adaptiert diese jedoch freier denn je, nachdem er sich von dessen literarischer Sprengkraft distanziert und sie zugleich in seine eigene Bildsprache überführt, bis der Ursprung nicht mehr wiederzuerkennen ist – und diese Bildsprache funktioniert. Das furiose Jonglieren mit Klischees eines Tarantino gelingt ihm natürlich nicht, der melancholische Witz der Coens schon eher, dafür fehlt ihm deren Kontinuität, er wechselt mehrfach den Stil, das Tempo, die Bildsprache atmosphärisch ist der Ductus des Films selten stabil – er oszilliert zwischen lakonischer Komik, beunruhigendem Ernst und absurden Exzessen, die etwas befremden. Man spürt oft eine Leere, wenn der Wirbel allzu gross wird – ist das gewollt oder ist ihm da etwas verrutscht? Die Leere und der letzte Atemzug einer Revolution, die sich totgelaufen hat und deren letzte Spuren sich in Mariahuanadämpfen verflüchtigen? Macht Widerstand überhaupt noch Sinn, kann man es wieder aufgreifen im Zeitalter sterbender Demokratien und gut ausgeschlafener Oligarchen, die jetzt den Laden schmeissen? Ein dunkler, melancholischer Unterton, der den ganzen Film begleitet – aber vielleicht ist das mein Problem, der melancholische Unterton des eigenen Lebens und einer Resignation gegenüber der Veränderbarkeit der Welt. Ein Stück Selbsterfahrung schadet auch mal nicht.
Die Beziehung zwischen Bob und Willa bildet das emotionale Herzstück. Bob ist kein archetypischer Held – er ist zersplittert, von Selbstzweifeln geplagt, ein Vater, der mehr instinktiv als rational handelt. Willa wiederum wächst auf mit den Kodizes ihrer Mutter, mit einem halb ererbten, halb reflektierten politisch-revolutionären Erbe. Ihre Spannung gegenüber Bob symbolisiert auch die Disjunktion zwischen Generationen, zwischen Idealen und Pragmatismus gepaart mit Depression. Neu ist das jetzt allerdings nicht und man hätte sich noch einiges reizvolle Zubehör in der etwas abgeklapperten Vater-Tochter-Geschichte gewünscht – hier wird ein Klischee bemüht, das in den letzten Jahrzehnten weidlich ausgeschlachtet wurde: Abgehalfterter Gangster oder Kommissar oder Wrestler oder Übergewichtiger entdeckt plötzlich seine Vaterliebe und wirbt um seine Tochter (es sind immer Töchter), für die er letztlich sogar sein Leben opfern will, nachdem sie ihm vorher offenbar herzlich wurscht war oder von der bösen Mama gehindert wurde, den Vater zu sehen – über dieses Standardmotiv muss ich mir später noch ein Paar warme Gedanken machen, ein Dauertopos von Hollywood mittlerweile, auch hier wieder weidlich aufgewärmt.
Der politische Mythos implodiert schliesslich im familiären Mikrokosmos. Der Versuch, das große Ganze im Kleinen zu retten, macht die Auswegslosigkeit sichtbar, womit wir wieder bei der Leere wären. Irgendetwas ist unwiderruflich vorbei, was uns einmal berauschte, aber immerhin hat man noch die Familie als regressiven Zufluchtsort. Als Gegenspieler dient Colonel Steven J. Lockjaw (Sean Penn) – kein banaler Bösewicht, sondern eine Chiffre politischer Gewalt: autoritär, charismatisch und perfide. Sein Auftreten offenbart, wie eng Gewalt und Herrschaft zwangsweise verzahnt sind – und auch mit pervertierter Sexualität. Diese Szenen sind die besten.
Ein wiederkehrendes Motiv ist das Spiel mit Geheimnissen, Codes und verschlüsselten Wissen. Diese Struktur erinnert an die Pynchon’schen Labyrinthe, auch hier geschickt ins Filmische umgesetzt. Die Rezeption ist überwältigend positiv: Auf Rotten Tomatoes liegt der Film bei ~97 % Zustimmung. Roger Ebert lobt ihn als „remarkably propulsive, fun, and eventually moving piece of work“. The Guardian hebt die tonale Fusion hervor: „serious and unserious, exciting and baffling“. Doch nicht alle Stimmen sind uneingeschränkt begeistert. Manche Kritiker monieren eine gewisse Unschärfe: dass Figuren in karikaturhafte Extreme gezogen werden oder dass die satirischen Aspekte gelegentlich hölzern wirken. Manche sehen gar eine Selbstgerechtigkeit in der politischen Positionierung. Diese Spannweite ist letztlich produktiv: Ein Film, der nicht nur angenommen, sondern auch diskutiert werden will – und das genau deshalb eine künstlerische Relevanz besitzt.
So kann sich jeder aus dem Film herausdestillieren, was ihn interessiert. Für mich war er vor allem eines: Ein furioser und zugleich melancholischer Abgesang auf Revolte, Widerstand und politische Integrität in deren letzten Zuckungen vor der Agonie. Ein Requiem …
Zu Ruth Schweikert, „Augen zu“ Ammann Verlag, Zürich, 1998, erste Auflage; das Titelbild zeigt Paula Modersohn-Beckers Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag von 1906
Im Oktober 2025 gab es im Literaturhaus Salzburg die Veranstaltung „lesenswert“: Wir waren an diesem Abend vier Autor*innen, die Lieblingsbücher mitbrachten – solche, die „lebensbegleitend wurden (…) Reibebaum oder Grund, weiterzumachen und seinen Stil ein Leben lang zu schärfen“ (aus dem Ankündigungstext von Christoph Janacs). Bei mir war das „Augen zu“, das zweite, 1998 erschienene Buch der Autorin Ruth Schweikert, dessen Erzählhaltung mich über viele Jahre beschäftigt und begleitet hat. Nach der ersten Lektüre Anfang der Nuller-Jahre, zu der ich vermutlich über eine Rezension in der Zeitung gelangte, hatte ich alle verfügbaren Bücher zusammen gesucht, die ich von Ruth Schweikert zu lesen fand: Ihr Debüt, der Erzählband „Erdnüsse, Totschlagen“ von 1994; bald darauf, 2005, erschien ihr drittes Buch „Ohio“, ein Roman; dann 2015 „Wie wir älter werden“ und schließlich 2019 ihr letztes, eine durch ihre Krebserkrankung motivierte, autofiktionale Erzählung „Tage wie Hunde“ – die Autorin starb 2023 mit 58 Jahren; posthum ist 2025 noch eine Sammlung mit Erzählungen, Essays und Kollumnen erschienen: „Fallen sie nicht. Fliegen sie lieber“.
Aber zurück zu „Augen zu“: An dem Buch fasziniert mich, dass ich in das Lebensgefühl der Protagonistin Aleks hinein gezogen werde, ohne viel Konkretes von dieser Figur zu erfahren. Die aufeinanderfolgenden Szenen fühlen sich an wie ein Geschiebe, und das erzeugt eine eigentümliche Spannung, die durch das Buch hindurch nicht nachlässt. Der Text verhält sich wie ein Strom, der dicke Brocken mitschleift, die im Rhythmus des Fließens rumpeln und pumpeln.
Beim Wiederlesen des Buches fühle ich mich erneut in einer gedanklichen Achterbahn, aufregend ist das und meine Neugier geschärft. Denn kaum ergibt sich mit einigen Worten ein Sinn im gelesenen Satz, führen mich die folgenden Worte in einer unerklärlichen Drift wieder davon weg – und am Ende eines Absatzes komme ich jedenfalls nicht dort heraus, wo ich es erwarte: „Zürich, Freitag, sechzehnter Juni 1995, neun Uhr fünfzehn, es regnete sanft auf die Dachterrassen und Satteldächer der Stadt, auf die neunzehn durchsichtigen Lion’s King-Regenschirme jener Erstkläßler, die in Zweierreihen obligatorisch unterwegs waren zur Schulschwimmanlage in der Besenrainstraße, auf die Gräber im Friedhof Nordheim, auf plattgetretene, zahnschonende Kaugummis in den Fußgängerzonen, durchs offene Schlafzimmerfenster auf die beiden Gesichter, fast reglos atmend, eines nicht mehr ganz jungen Mannes, Raoul Felix Lieben, und einer haargenau dreißigjährigen Frau, Aleks Martin Schwarz, die dreizehn Stunden später ein gesundes Kind zeugten, das namenlos starb und vor seiner Geburt.“ (S. 7)
Beim Wiederlesen fällt mir auch auf, dass Ruth Schweikert gleich vom Beginn des Textes an immer neue Details in den geschilderten Szenen aufgreift und so weitere Sinn-Stränge in ihre am Ende sehr komplexen Textgeflechte einwebt, die beim Lesen mehrstimmig mitschwingen, unvermutet wieder auftauchen und weitergeführt werden – bis am Ende ein Gewebe entstanden ist, das von verschiedenen Seiten aus zugänglich ist. Mit fortschreitender Lektüre tun sich einzelne Bedeutungs-Gefüge auf, aber kein Ganzes; es gibt auch keine Auflösung oder Herleitung der Geschehnisse. In „Augen zu“ ist es wie im echten Leben auch: Es tun sich Fragen auf, die wir mit einer gewissen Notwendigkeit weitertreiben, oft nur stück- oder schrittweise. Mit einer plötzlich auftauchenden, lang schon ersehnten Antwort kehrt nicht etwa Ruhe ein, sondern es tut sich gleich eine nächste Frage auf.
Wie wir schon gehört haben ist der Kern und Ausgangspunkt von „Augen zu“ der dreißigste Geburtstag der Künstlerin Aleks, der sechzehnte Juni 1995 – nur hier bilden vergangene und zukünftige Handlungsstränge einen gesicherten Zusammenhang. Darüber hinaus bewegt sich der Text vorwärts und auch wieder rückwärts, setzt an verschiedenen Stellen mit aufgelassenen Fäden noch einmal neu an. Wie nebenbei sind wir Leser*innen andauernd mit einer Fülle von Bedeutungen beschäftigt, die uns vom eigentlich Erzählten (was das sein soll, kann man natürlich fragen) weg- und dann wieder hinlenkt – wie Aleks und auch ihr Lebensgefährte Raoul den plötzlichen Coups de foudre – das bedeutet übersetzt ungefähr so viel wie ‚Liebesblitze‘ – ausgeliefert sind, niemals sicher sind davor. Denn Aleks neigt dazu, sich plötzlich und haltlos zu verlieben, sie weiß es selbst – und auch Raoul sagt es ihr am Ende des Buches. In dieser Schlussszene verwebt Ruth Schweikert Aleks Gedanken in die Erzählhandlung, an ein künstlerisches Experiment von Sophie Calle und Greg Shephard, das wie in einem Musikstück das Thema von Aleks und Raoul vorwegnimmt und variiert: „Ich möchte dich heiraten, sagte Aleks, jetzt auf der Stelle sofort, und Raoul zog eine kleine Schachtel aus der Innentasche seines abgenutzten Jacketts. Raouls und Aleks’ Kleider alterten schnell, beide waren sie auf verschiedene Weise nachlässig im Umgang mit Dingen, in ihren Kühlschränken verwelkten Salate, an Raouls Hemden sprangen die Knöpfe ab, wenn er sie zum ersten Mal trug, Aleks ärgerte sich zehnmal über Kaffeeflecken auf dem Küchenboden, bevor sie die Energie aufbrachte, mit dem Putzlappen darüberzufahren, den sie längst in der Hand hielt (…) In Aleks Hand lag eine wunderschöne Herrenuhr mit einfachen klaren Linien. Sie ist genauso alt wie du, sagte Raoul, und mindestens noch einmal so alt wird sie werden, hat mir der Uhrmacher versichert, noch einmal dein ganzes bisheriges Leben, länger wahrscheinlich, als unsere Ehe halten würde, die ich nicht eingehen kann. Wenn wir zum dreißigsten Geburtstag unserer Tochter uns treffen, lebst du längst mit einem anderen Mann zusammen, in den USA zum Beispiel mit einem aufgedunsenen Astrophysiker, und jeder Blick auf die Uhr an deinem gealterten Handgelenk wird dich ein wenig an mich erinnern. Sentimentaler Bullshit, sagte Aleks, und unterstell mir bloß nicht deine eigenen Phantasien, du triffst eines Tages in der Straßenbahn irgendeine konvertierte asiatische Jüdin und heiratest sie drei Wochen später.“ (S. 154/5)
Jederzeit kann es also geschehen, legt Ruth Schweikert uns nahe, dass sich die Tektonik unserer Leben grundsätzlich verschiebt: In „Augen zu“ hält dieses Bewusstsein die beiden Protagonist*innen wach und lebendig.
Unsere Unvollkommenheit macht uns wehrlos gegen die Einwirkungen des Schicksals – da kann Aleks in ihren Bildern noch so frenetisch dagegen anarbeiten. Sie schluckt Ritaline, um die eigene Müdigkeit zu überlisten, sich zu zwingen, das Beste aus sich herauszuholen: „Aleks war immer wieder überrascht, was manche Betrachter in ihren Bildern sahen; der Antrieb für ihre Arbeit schien ihr bloß ein Mangel zu sein; geboren aus der Unfähigkeit, sich selbst zu begreifen, die eigene Geschichte und die Geschichten dieser Welt.“ (S. 91) Die eigene Geschichte meint zum Beispiel: Die alkoholkranke Mutter, die Aleks gegen die jüngeren Brüder abschirmt „wie hinter bruchsicherem Glas“ (S. 51) – ihr Aufbäumen seit der Pubertät gegen Rückzug und Selbstzerstörung der Mutter in einem überwachen Gegenentwurf.
Der Philosoph Walter Benjamin ist ein wichtiger Bezugspunkt für Ruth Schweikert: In Vorausgesetzt, dem Prolog von „Augen zu“, erfüllen sich die Kinderwünsche des namenlosen Ichs zwei Jahrzehnte später; trotzdem bleibt das Unglück. Zwei Sätze von Benjamin fallen dem Erzähl-Ich dazu ein: „Die Fee, bei der er einen Wunsch frei hat, gibt es für jeden. Allein nur wenige wissen sich des Wunsches zu entsinnen, den sie taten; nur wenige erkennen darum später im eigenen Leben die Erfüllung wieder“. (S. 6) Ist also das, was wir für unser Schicksal halten, nur die Verwirklichung unbewusster Wünsche, deren Tragweite wir unterschätzten?
„Augen zu“ fordert uns zu solchen Fragen heraus: Sträuben wir uns gegen die an uns herangetragene Zwangsläufigkeit, mit der aus den Zutaten „Aleks Charakter“ und „Vorhersagen“ Ereignisse und auch ein Schicksal werden? Das Ausgeliefertsein an Umstände, das uns womöglich nur zu vertraut sind? Und auch die Einwirkungen der Eltern- und Großeltern, deren Handlungen und Launen dazu führten, dass sich Aleks am 16. Juni 1995 genau dort befindet, am Dreh- und Angelpunkt des Buches, das flicht Ruth Schweikert wie nebenbei mit ein.
Aber was ist Ursache und was Wirkung? Bemühen wir uns, Wechselwirkungen auf die Spur zu kommen, entziehen sich uns letztlich die Auslöser und das Zusammenspiel – und die Frage, ob etwas plausibel ist, kommt gar nicht erst auf: Es sind immer diese Texte, die mich faszinieren. Es gibt nicht den einen Grund etwas zu tun – wir sind ausgeliefert an unzählige Zufälle und Gelegenheiten, die wir ergreifen können – vielleicht bemerken wir sie nicht einmal. Vielleicht sind wir gerade in einem Ausnahmezustand und tun etwas, was wir sonst nie getan hätten – und so verläuft unser Leben in eben diese Richtung und nicht in die andere. Unser sogenannter freier Wille, das hat schon Sigmund Freud formuliert, ist eine gnädige Selbsttäuschung, damit wir das gut finden, was wir haben. Eines der eindrücklichsten Bilder in „Augen zu“ ist so auch der wiederholte Besuch der jugendlichen Aleks bei einem Psychoanalytiker – sie fährt dort hin, um zu schweigen. Und dieses Schweigen spannt einen Raum auf, der nur Aleks gehört.
Mir fällt dazu ein Satz der Autorin Judith Hermann ein, die in ihren Frankfurter Poetikvorlesungen eine Rezension zitiert, die ihr vorwirft, sie habe nichts zu erzählen. „Ich habe nichts zu erzählen“, entgegnet Judith Hermann, „weil ich das, was ich eigentlich zu erzählen habe, nicht erzählen kann.“ („Wir hätten uns alles gesagt“, Frankfurter Poetikvorlesungen, S. 99) Geht es hier um eine moralische Rücksichtnahme? Oder um die Unmöglichkeit, mit Worten vorzudringen und zu erfassen, um eine Grenze, die in der Sprache selbst liegt (für etwas, was außerhalb bleibt)? Genauso wie es umgekehrt „Erzählräume (gibt), die sich auftun mit dem ersten Wort und mit dem letzten sich verschließen, als wären sie in der Sprache selbst verortet.“ (Ruth Schweikert, „Tage wie Hunde“, S. 182) Erzählung und Sprache, überall lauert ein Mangel – Kein Wunder, dass die Autorin bekennt: „Zu schreiben war mir noch nie leichtgefallen“ („Tage wie Hunde“, S. 145)
… ist einer jener Filme, die man auf mehreren Ebenen lesen muss, um ihn überhaupt zu verstehen. Ist ja zunächst mal nicht schlecht. An der Oberfläche wirkt er wie ein überstilisiertes Action-Fantasy-Spektakel oder ein Videospiel: Sexy Kämpferinnen, Steampunk-Soldaten, Drachen, Samurais, Explosionen. Aber darunter liegt eine dichte, vielschichtige psychologische Allegorie, über die sich allerdings trefflich streiten lässt.
Babydoll wird von ihrem Stiefvater nach dem Tod der Mutter in eine psychiatrische Anstalt gesteckt, weil sie Zeugin seiner Schuld wurde. Er lässt sie lobotomieren und internieren. Um die Realität der Anstalt zu ertragen, verwandelt Babydolls Psyche sie in ein Bordell, in dem sie und die anderen Insassinnen als Tänzerinnen auftreten. Der Chefarzt wird zum Bordellbesitzer, der Pfleger zum Zuhälter. Das ist die psychische Abwehr: Die Umwandlung von Ohnmacht in ein beherrschbares, erotisiertes Szenario. Immer wenn Babydoll „tanzt“, flieht sie in noch tiefere Fantasien – Kriegs- und Fantasywelten, in denen sie (und die anderen) gegen Monster kämpfen, um symbolisch Objekte zu „erobern“, die den Fluchtplan darstellen (Feuerzeug, Karte, Schlüssel, Messer …). Das ist die Projektion ihres inneren Kampfes um Freiheit und Selbstbestimmung. Die „Lobotomie“, die am Ende tatsächlich stattfindet, ist der Moment, wo die Realität wieder einbricht. Ihr letzter Tanz, ihr letzter Traum, ist die völlige Dissoziation – und zugleich ihr Opfer, damit eine andere (Sweet Pea) entkommen kann.
Psychologisch ist das Ganze ein Dissoziationsdrama, das Trauma, Gewalt, sexualisierte Ohnmacht und Überlebensfantasie verarbeitet. Der „Sucker Punch“ – der Tiefschlag – ist dabei doppelt gelandet: Beim Zuschauer, der merkt, dass die vermeintliche Empowerment-Fantasy eigentlich eine Tragödie ist. Bei Babydoll selbst, die die Freiheit nur durch Selbstaufgabe erlangt. Wenn man so will, ist der Film eine ästhetisierte Metapher für die Psychodynamik weiblicher Traumabewältigung unter patriarchalen Gewaltverhältnissen – in der Fantasie phallisch stark, im System ohnmächtig; Kampfpornographie … glitzernd und überästhetisiert, Phantasievorlagen pubertierender Gamer.
Und da fängt’s schon an: Sucker Punch tut so, als wäre er ein Film über weibliche Selbstermächtigung, aber er inszeniert weibliches Trauma durch und durch im männlichen Blick, also im male gaze (Laura Mulvey lässt mal wieder grüßen). Männer „stellen sich vor“, was Frauen sich wünschen oder wie sie sich befreien könnten, – und tun das mit den Mitteln männlicher Fantasieproduktion: Körper, Kampf, Spektakel, Sex, Macht, überbordendes Waffenarsenal, eine Frau im Rachemodus der Medea. Verständlich. Es wird nun besonders perfide, weil Snyder vorgibt, den Voyeurismus zu kritisieren, ihn aber gleichzeitig ästhetisch ausstellt und genüsslich konsumierbar macht. Die Kamera schaut nicht mit Babydoll, sie schaut auf Babydoll. Und das, was als Traumabewältigung präsentiert wird, ist letztlich ein fetischisiertes Ersatzritual: Die Waffen sind Phallussymbole, die Kämpfe ersetzen psychische Arbeit, es gibt weder Frieden noch Freundschaft noch liebevolle Sexualität. Die Fantasien sind nicht Metaphern weiblicher Autonomie, sondern internalisierte Popkulturbilder von „starker Weiblichkeit“ – also eine männlich codierte Abwehr gegen Ohnmacht. Gotham City lässt auch grüssen samt sämtlichen Purzelbaum – Ninja – Damen, die rätselhafterweise immer einen Salto drehen müssen, bevor sie zuhauen. Wär auch mal ’ne Doktorarbeit wert, warum dieses Gehüpfe sein muss, aber wahrscheinlich gibt’s das auch schon.
Snyders Verteidiger behaupten oft, der Film sei eine Satire auf genau diesen Blick. Aber das ist schwer haltbar, weil der Film nie eine echte weibliche Perspektive zeigt. Er bleibt auf der Seite der Stilmittel, der Pose, der Oberfläche. Er inszeniert nicht Traumabewältigung, sondern Dissoziation und Abwehrfantasien als Spektakel. Oder einfacher gesagt: Snyder zeigt eine Frau, die sich in immer spektakulärere Fantasien flüchtet, um Missbrauch zu überleben – und verkauft diese Flucht zugleich als Actionkino. Das ist der eigentliche „Sucker Punch“: der Schlag in den Magen des Publikums, das meint, Empowerment zu sehen, aber in Wahrheit den Traum eines Mannes konsumiert.
Wie sieht denn nun die Realität aus? Traumatisierte Frauen sieht die/der Therapeut/in ja häufig, es gibt mehrere Wege mit diesem Trauma zu leben; bei Sexualtraumata sehen wir oft neben einer totalen Sexualverweigerung und schweren Überwältigungsängsten (manche gehen ihr Leben lang nicht freiwillig zum Zahnarzt, zum Gynäkologen schon gar nicht) eine Umkehr der Verhältnisse (in der Fachsprache heisst’s „Identifikation mit dem Aggressor“), die Frauen haben Fantasien von Macht und Kontrolle über den Mann. Eine bekannte Schauspielerin der Nachkriegszeit, in ihren Rollen als deutsches Saubermädchen verbraten, suchte sich alte Männer als Sexualpartner und genoss die Phantasie, sie sexuell so zu strapazieren, dass sie an Herzversagen sterben würden. Eine wahrhaft mörderische Wut gegen den Sexualität konsumierenden Mann als solchen. Ein Teil der Frauen findet den Weg in die Prostitution – im Bordell hat die Frau das Sagen bzw der Zuhälter nebenan.
Snyders Kamera liebt die Miniuniformen, die langen Beine, die Waffen. Es ist die alte Leier: Stärke wird in Erotik übersetzt, und das Leiden weiblicher Figuren bleibt nur die Folie, auf der männliche Erregung sich spiegeln kann. Was Snyder als „Empowerment“ verkauft, ist in Wahrheit die Ästhetisierung der Dissoziation. Jede Tanzszene öffnet ein neues Traum-Level, das mit phallischen Symbolen durchsetzt ist: Schwerter, Maschinengewehre, Stahlkolosse, die die innere Ohnmacht mit Kampf ersetzen sollen. So sieht Traumabewältigung unter männlicher Regie aus – und zwar buchstäblich. Im Vergleich dazu wirkt Magic Mike, den ich letztlich hier benörgelt habe, fast ehrlich: Auch dort wird weibliches Begehren durch männliche Selbstinszenierung gefiltert, aber zumindest ahnt Steven Soderbergh, dass es eine Differenz zwischen Wunsch und Projektion gibt. Snyder dagegen verwechselt seine eigene Fantasie mit der weiblichen Innenwelt. So bleibt Sucker Punch eine doppelte Tragödie: Die der Figuren – und die eines Regisseurs, der glaubt, Emanzipation bedeute, Frauen noch besser bewaffnen zu lassen, damit sie sich in seinen Träumen selbst verteidigen können.
Eine bessere Verfilmung des Themas bitte ich meinem Thread vom März 2023 zu entnehmen zum Film Promising Young Woman, den ich – interessante Koinzidenz – als Film wie ein Schlag in den Magen bezeichnet habe und in dem sich eine Frau (wenn auch vermutlich nur in ihren Phantasien) mit Intelligenz und Raffinesse an ihren Vergewaltigern rächt. Dieser Film schafft es auch, Gefühle beim Zuschauer zu entfachen, weil nicht alles in krachendem Actionspektakel und wohlfeilen Schauwerten untergeht, also letztlich mit einer Vergewaltigung des Zuschauers. Diese Erfahrung kann man bei Sucker Punch immerhin machen, dieser überbordende Film als solcher wird selbst zum Vergewaltiger, der sich seinen Weg gewaltsam ins Innere des Zuschauers sucht und ihn ziemlich erschlagen zurücklässt. Manchmal hat man den Eindruck eines männlichen Vampirismus in diesem genüsslichen Aussaugen von Frauenthemen. Habt Ihr Herren Regisseure denn keine eigenen? Da gäb’s sicher genug im Keller zum Aufräumen …
Jessica Hausners „Little Joe“ (2019) ist kein Film über Botanik, sondern über Psychodynamik, Entfremdung und Dissoziation. Die gentechnisch gezüchtete Pflanze „Little Joe“, die via Pollen Glückshormone freisetzt, ist weniger ein biologisches Experiment als eine Metapher für verdrängte weibliche Triebkraft – für Verführung, Fruchtbarkeit, Lust, Entgrenzung und Schönheit, für jenes rätselhafte Begehren, das die rationale Ordnung einer kontrollierten Welt zu unterwandern droht, in die Irrationalität führt.
Zunächst erleben wir die kontrollierte Welt der Naturwissenschaft: Die Botanikerin Alice mit dem signalroten Haarschopf (das einzige an ihr, was Aufmerksamkeit einfordert), alleinerziehende Mutter, steht im Zentrum eines paradoxen Dilemmas: Sie bringt eine Pflanze hervor, die emotional abhängig macht, doch sie selbst ist in emotionaler Enthaltsamkeit gefangen. Ihre Kreatur verführt – sie selbst kann es nicht, vielleicht will sie es auch gar nicht. Ihre eigene unbewusste erotische Energie wird externalisiert und fliesst in das Werk ihrer Hände – eine Pflanze, die Pollen aussendet, die glücklich machen und die den Wunsch nach Körperlichkeit freizusetzen versteht. Natürlich ist sie leuchtend rot – und wie nicht anders bei den künstlichen Geschöpfen des Sci-Fi entwickelt sie ein unheimliches und unkontrollierbares Eigenleben. Die Angst vor der Blüte ist die Angst vor der eigenen inneren Entfaltung, vor dem „Erblühen“, das zugleich Leben, Chaos, Abhängigkeit und Verletzlichkeit verheißt. Diese Angst wird doppelt heikel durch die Präsenz ihres Sohnes Joe: Sie schenkt ihm eine Pflanze und in ihm beginnt dieselbe Triebenergie zu erwachen, die sie selbst aus ihrem Inneren verbannt hat. Sein Erwachen trifft auf ihre Angst, seine Lebendigkeit auf ihre Erstarrung. Das erträgt so manche Mutter schwer, es mobilisiert eigene Triebwünsche und bedeutet auch den Verlust des weiblichen Monopols im Leben des Sohnes. Das Gras auf der anderen Seite jenseits des Dunstkreises der Mutter wird für den Jungen plötzlich grüner – in diesem Fall röter. Zwischen Mutter und Sohn entsteht so eine Spannung, die von Verlustangst, Schuld und Begehren untergründig aufgeladen ist, als der Sohn den Übergangsraum betritt, auf Distanz zur Mutter geht und Wünsche nach mehr Kontakt zum Vater äussert – ein stilles, alltägliches Drama – zunächst.
Hausners sterile Farbwelt, die nüchternen klinischen Räume und die zurückgenommene Kameraführung spiegeln diese seelische Erstarrung. Das Labor ist kein Ort des Wissens, sondern des Entstehens und gleichzeitig des Abwehrens von Verführung – eine moderne Variante des Gewächshauses, in dem das Weibliche als Bedrohung eingesperrt wird, ein Ort an dem nichts wuchern darf. Die greifbare Spannung zwischen ihr und dem Sohn, der seine libidinöse Besetzung von ihr zunehmend abzieht, wird noch verstärkt durch die präzise komponierten Bilder, die pastellfarbene Kälte der Labors, entgegengesetzt zum knallenden Rot der Pflanze. Konsequent wäre nun für Alice, ihre Schöpfung wieder zu vernichten, wie so mancher mad scientist mit seinem Geschöpf verfahren ist oder es zumindest versucht hat.
Bis zuletzt bleibt offen, ob die Pflanze tatsächlich manipuliert oder ob Alices Wahrnehmung selbst paranoid vergiftet ist. Doch vielleicht ist das gar keine Frage: „Little Joe“ zeigt das Drama einer Frau, die sich vor ihrer eigenen Lebendigkeit fürchtet – und deshalb ihr Begehren als gefährliche Fremdsubstanz erlebt, um die sie während des gesamten Films misstrauisch herumschleicht und um ihren Sohn fürchtet. Wenn man diese sexuelle Unterströmung zu erspüren versteht, funktioniert der Film als Innenansicht gut, dieser suspense macht die Spannung des Filmes aus – eine treffend bebilderte klinische Studie – das macht den Genuss, auch wenn einem dabei gelegentlich die Füsse einschlafen: das ist nicht die Unfähigkeit der Regisseurin, sondern Stilmittel, vermute ich mal.
Doch „Little Joe“ erzählt nicht nur von einer Frau und ihrem verbannten Begehren. Der Film spiegelt auch eine Gesellschaft, die Gefühle längst als Ware begriffen hat. Glück, Schönheit, Verführung sind längst ein Produkt, das sich designen, perfektionieren, patentieren und kontrollieren lassen soll. Die Blume ist ein Konsumgut wie jedes andere – mit Marketingstrategie, Zielgruppenanalyse und Versprechen von Wohlbefinden. Auch das ist unheimlich.
Das eigentlich Unheimliche an Little Joe ist aber nicht die Manipulation, sondern wie selbstverständlich sie angenommen wird. Wer würde – wie in Brave New World – nicht gern ein bisschen glücklicher sein? In dieser Logik wird das Gefühl selbst zum ökonomischen Faktor – regulierbar, dosierbar, verkäuflich. Die industrielle Zucht von Emotionen löscht aber ihre Wildheit aus, das gibt eine Art Einheitsbrei-Glück, fürchte ich, und der Wilde in Brave New World erhängt sich lieber, als auf diese Art glücklich sein Leben zu fristen. Und vielleicht ist Alice deshalb so misstrauisch – weil die Blume ihr zeigt, wie radikal sich die Natur des Menschen verändert, wenn man das Glück in die Produktion gibt.
Assoziativ stellte sich bei mir noch „Homo Faber“ von Max Frisch ein: Ein Homo Technicus, der alles verabscheut, was mit Gefühlen zu tun hat und die Welt für berechenbar hält, auch bei ihm darf nichts lustvoll wuchern (die beiden hätten sich prima verstanden in ihrer schizoiden Gehemmtheit):
„Was mir auf die Nerven ging: die Molche in jedem Tümpel, in jeder Eintagspfütze ein Gewimmel von Molchen — überhaupt diese Fortpflanzerei überall, es stinkt nach Fruchtbarkeit, nach blühender Verwesung. Wo man hinspuckt, keimt es!“
Das Schicksal zwingt den Ingenieur Faber sodann, in ein Drama antiken Ausmasses und archaischer Wucht, in dem er das lernt was er noch nicht kann. Zuletzt dann eine Art verhaltenes Happy End: Alice bekommt ebenfalls eine Pollendusche ab, wagt es einen Mann zu küssen und entlässt ihren Sohn in die Männerwelt. Wünschen wir der Mama mehr Küsse und dem Jungen ein fröhliches Junggesellenleben bei seinem hoffentlich weniger sauertöpfischen Papa!
Der Stoff, aus dem die Träume sind, wird aus der Realität gewonnen, Alpträume inklusive. Vielleicht zählt unsereins ja (noch) zu den beneidenswerten Existenzen, die sich ein trockenenes Plätzchen in einer Welt des durchfluteten Horrors ergattern konnten, denn vieles ist im Argen. Wer als junger Mann im Staate „Selenski“ an die Front zitiert wird und dort als „Kriegspuppe“ für jene Hintergrundspieler agieren muss, deren Machenschaften, Macht- und Profitgelüste er wohl nie durchblicken wird (aus Blut und Boden wird Seltene Erden), den würde der argumentativ wie sprachlich brilliante Essay des jungen Autoren Ole Nymoen mit dem Titel „Warum ich niemals für mein Land kämpfen würde: Gegen die Kriegstüchtigkeit“ vielleicht dazu verleiten, Kehrtmarsch zu machen. Jeder Krieg beginnt mit einer Lüge, das habe ich nun begriffen und nicht erst seit Corona gibt es jede Menge Lügner in der Politik. Vor einigen Tagen bekam der Medienwissenschaftler Norbert Bolz Besuch von vier Polizisten, mit einer Hausdurchsuchung im Gepäck. Seine relativ populäre Stellung, zudem das gereife Alter mögen wohl auch jenes Vorkommnis nicht als blanken Horror bewertet haben, sondern als etwas Erwartbares. Ganz überrascht hingegen war die Linguistin Reality Winner, als zwei FBI-Beamte im Jahre 2017 vor ihrem Haus auftauchten, mit ebengleichem Hausdurchsuchung im Gepäck und folgendem Verhör in einer Abstellkammer ihres Hauses, das dann zu fünf Jahren Haft führte. Sie hatte Papiere geleaked, um die Beeinflussung der US-Wahlen durch den Putin-Staat öffentlich zu machen – zum Wohle ihres Volkes. Die amerikanische Justiz sah es anders. Was wird wohl aus jenem Richter, dessen Bolz-Schuss nach hinten losging? Dass ein promovierter Kopf in solcher Stellung Ironie nicht zu begreifen vermag, gibt Anlass zur Sorge. Die Hauptdarstellerin besagten Films heisst übrigens Sidney Sweeney und sie liefert in Reality – Wahrheit hat ihren Preis (auf Amazon Prime) eine Meisterleistung ab. Da war doch was? Google brachte es schnell ans Licht: ich kannte sie von anderen Streaming-Highlights wie The White Lotus, Sharp Objects, Euphoria und Once upon a Time in Hollywood.
In Zeiten, in denen wieder Drohnen angeblich unbekannten Ursprungs über dem Land kreisen, scheint es geboten, sich einmal wieder zu erinnern, wie es war, als der Russe nicht im Kommen, sondern auch physisch schon im Lande anwesend war. Billy Wilders One, Two, Three (1961) ist eine aberwitzige Komödie, die den Kalten Krieg in ein Tempo presst, das an Screwball oder Slapstick erinnert und zugleich ein Zeitdokument der Stimmung der 60er ist: Das nervöse Beben und Vibrieren der westlichen Welt nach dem heissen und vor dem kalten Krieg, placiert in die Achillesferse Deutschlands: Das von den Grossmächten besetzte und zerteilte Berlin, einem Ort, an dem die Ideologien aufeinanderprallen wie Billardkugeln. Erzählt wird die Geschichte des Coca-Cola-Vertreters C.R. MacNamara (James Cagney in einer furiosen Energieleistung, ein Wirbelsturm aus Timing, Zynismus und Pragmatik), der eigentlich in den Vorstand aufsteigen will, aber plötzlich damit beauftragt wird, die Tochter seines Chefs zu beaufsichtigen. Diese verguckt sich prompt in einen strammen ostdeutschen Jungkommunisten, (Horst Buchholz als schwarzlockiger Rebell und Verkörperung sämtlicher sozialromantischer Jungmädchenträume), was der Chef keineswegs erfahren darf und MacNamara in eine rasante Kaskade von Notlügen, Intrigen und politischen Verwicklungen zwingt, noch verstärkt durch das Ressentiment der Ehefrau (eine coole Bissgurke mit Format).
Wilder entlarvt gleichermaßen den amerikanischen Haifischkapitalismus (verkörpert durch die Verschacher-Mentalität MacNamaras) wie die sowjetische Dogmatik (karikierend in der Figur der Ostblock-Funktionäre). Die Dialoge sind – Wilder at it’s best – rasend schnell, pointiert und gespickt mit Anspielungen auf Politik, Kultur und Popgeschichte, eine Gag-Dichte, die manchmal den schwerblütigen deutschen Zuschauer fast überfordert – man spürt die Lust an der sprachlichen und situativen Überdrehtheit, mit McNamara als Dirigent im Dauerfortissimo. Gleichzeitig ist One, Two, Three ein Film über Verwandlung als ökonomische und ideologische Ware: Der proletarische Jungkommunist Otto Ludwig Piffl wird in Windeseile in einen untadeligen kapitalistischen Schwiegersohn umgestylt – inklusive westlicher Garderobe, britischer Ahnenreihe und formtreuer Etikette. Die Farce entlarvt so, wie beliebig austauschbar Identität und Wertekodices werden, wenn Macht und Geld winken.
Nicht jeder hielt diesem Tempo stand – bei seinem Start floppte der Film in den USA; zu sehr drängte sich die reale Politik in die damals frische Wunde. Heute jedoch wirkt er wie eine hellsichtige Groteske über Globalisierung und politische Pose, die erstaunlich modern geblieben ist, man kann ihn immer noch gut ansehen. Zudem ist das Werk wie aus einem Guss, obwohl die Dreharbeiten wegen des realen Mauerbaus nicht mehr an den Originalschauplätzen weitergeführt werden konnten und das Brandenburger Tor in den Berliner Filmstudios nachgebaut werden musste, um die Dreharbeiten abzuschliessen. Das funktionierte ohne Bruchlinie …
Wilder beweist, dass politische Satire nicht schwerfällig sein muss, sondern wie eine Colaflasche knallen kann, wenn man nur den Mut hat, sie zu schütteln. Freilich könnte man ihm nun Verharmlosung einer sehr dunklen Zeit vorwerfen, wenn man nicht selbst so eine diebische Freude an den vertrottelten russischen Funktionären hätte, die wegen einer Kuckucksuhr ausflippen und McNamara noch brav das Leergut zurückgeben – und dem dauerzornbebenden Piffl, der ebenso wechselweise wie sinnfrei zwischen Ost- und Westsektor herumflitzt wie ein Elektron um den Atomkern und schliesslich sehr rasch in einen marktgängigen Schwiegersohn verwandelt wird. Ware kann notfalls umetikettiert werden, dann läuft das Business wieder. Wilder entlarvt, dass Ideologien in der Praxis oft tauschbar und käuflich sind. Otto ist weniger Überzeugungstäter als Projektionsfläche; was zählt, ist die Fähigkeit, schnell das richtige Kostüm zu tragen.
Die Hektik des Films ist also kein bloßer Gag, sondern ästhetische Umsetzung einer liberalen Ökonomie, die immer stärker Gas gibt und keine Pausen mehr kennt. Der Kommunismus ist längst nur noch ideologisches Theater ohne Substanz, eine Kulisse aus Parolen und Idealen. Der Schluss setzt hier noch eine grimmige Pointe, die man leicht übersieht: McNamara möchte sich ein Flasche Cola aus dem Automaten ziehen und hält verblüfft ein Pepsi in der Hand – das Wirtschaftsleben hat ihn nun doch überholt.
Fazit: One, Two, Three ist nicht nur ein wilder Spaß, sondern ein blitzgescheites Stück Ideologie-und Medienkritik. Wilder nutzt die Form der Komödie, um zu zeigen, dass Kalter Krieg und Konsumgesellschaft längst beide Performances sind – schneller, lauter, marktfähiger als jede moralische Überzeugung. Und er beweist, dass Komödie eine der schärfsten kulturkritischen Waffen ist. One, Two, Three lacht den Kalten Krieg aus – und zeigt zugleich, dass Kapitalismus und Kommunismus einander brauchen, um ihre Maskerade aufrechtzuerhalten. Wer verstehen will, wie Politik zur Show und Identität zur Ware wird, findet hier eine hellsichtige, gnadenlos schnelle Lektion.
Sie träumte schon zu Anfang ihres Lebens davon, bald wieder abzutreten – auf spektakuläre Art und Weise, in „flammenden Lettern“ die Welt zu verlassen, brennend aus dem Fenster zu springen – und sie hat es geschafft. Dieses Buch ist die Nacherzählung der Mutter von Nancy Spungen über das kurze Leben ihrer Tochter und der Versuch eines Erspürens von deren Innenwelt, was ihr nicht gelingt und letztlich in ein resigniertes Hinnehmen einmündet.
Nancy war die Freundin von Sid Vicious, Bassist der Sex Pistols, der ersten Punkrockband Englands, der angeblich nicht Gitarre spielen konnte und dessen Stimme mich immer etwas an Jim Morrison erinnerte, so als käme sie ein bisschen jenseits des Grabes. Beim Ableben als 22-jähriger konnte er nicht in den Club 27 aufgenommen werden, verdient hätte er es. Beide waren heroinabhängig. Nancy wurde in einem Hotel in Chelsea mit einem Messer im Bauch tot aufgefunden; Sid wurde festgenommen, die Tat konnte ihm aber nicht nachgewiesen werden, nach seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft verstarb er an einer Überdosis, die ihm seine Mutter als letzte Zuflucht ins Gefängnis mitgebracht hatte. Mittlerweile vermutet man eine Selbstverletzung – Nancy hatte oft erwähnt ihren 21. Geburtstag nicht mehr erleben zu wollen, fügte sich häufig Verletzungen zu. Die Mutter ist von Sids Täterschaft überzeugt und bezeichnet ihre Tochter als Mordopfer.
Nancy hatte eine traumatisierende Geburt, die Nabelschnur um den Hals, halb erstickt und an Gelbsucht erkrankt kam sie zur Welt, die sie so bedrohlich empfing. Als Kind wohlwollender Mainstreameltern, die auf ihre Andersartigkeit und Impulsivität befremdet und zunehmend verängstigt reagierten, schien sie die Hölle in sich zu tragen, sie schrie von Anfang ihres Lebens an panisch und fast ununterbrochen, liess sich weder beruhigen noch regulieren, litt später unter vielerlei Ängsten und Wutanfällen und bekam Beruhigungsmittel. Psychiater kamen zu keiner Diagnose – heute würde man eine schwere posttraumatische Belastungsstörung annehmen, die auch mit zunehmenden neoplastischen Gehirnveränderungen einhergeht und grosse Probleme hinsichtlich der Stressregulierung hinterlässt – diese Menschen stehen unter schwer erträglicher Dauerspannung und überbordenden Gefühls-Tsunamis. Erst unter Drogen schien sie zur Ruhe zu kommen und das Alltagsleben ertragen zu können. Sie arbeitete in London als Stripperin, bewegte sich in der Punkszene – je lauter und unruhiger es um sie herum wurde, umso wohler schien sie sich zu fühlen und zu etwas mehr Lebensfreude zu kommen. Die Sex Pistols waren nicht eben begeistert von der symbiotischen Doppelexistenz ihres Mitglieds mit einem heroinabhängigen Groupie, das ihn vom Proben abhielt, Johnny Rotten, der Bandleader, hasste sie. Nach einem Jahr dann das ebenso tragische wie ungeklärte Ende. Die Zeitungen schrieben in flammenden Schlagzeilen über sie – für Nancy ihr erstes und letztes Aufleuchten, eine Form von Gesehenwerden.
Das Buch ist weder romantisierend noch reisserisch, eher gnadenlos authentisch und subjektiv aus der Perspektive einer Mutter und präziser Chronistin eines familiären Dramas, die erst sehr spät begriffen hat, was Trauma und Sucht bedeuten beziehungsweise wie stark letzteres einen scheinbaren Ausweg darstellt, unerträgliche Traumaspannung erträglich zu machen. Sie scheut sich nicht, die elterliche Ambivalenz und zunehmende Aggression zu schildern, in dieser Abwärtsspirale aus Selbstzerstörung, Ohnmacht und Verwüstung des sozialen und familiären Umfeldes als existenzielle Grenzerfahrung. Die ungebrochene Liebe zur Tochter klingt immer wieder durch. Das Buch wurde neu aufgelegt unter dem Titel And I don’t want to live this life – ein Satz, der ein vertiefteres Verständnis für die Nancys Leben signalisiert. Es gibt immer wieder Menschen, die sich aufgrund ihrer Startbedingungen mit dem Dasein auf dieser Welt nicht abfinden können und ihren Ausweg selbst suchen müssen. Oft ist das ein Ausweg ohne Rückkehr.
Für Interessierte:
Thema des Buches ist die Ablösung einer Mutter von ihrem heroinabhängigen Sohn, dem nicht mehr zu helfen ist und von dem sie sich trennen muss, um nicht selbst zugrunde zu gehen.
Obwohl dieser Film hier im Blog kurz nach seinem Erscheinen schon einmal besprochen und auch goutiert wurde, habe ich nun doch dem Regisseur, den ich eigentlich furchtbar dröge finde, eine Chance gegeben, nachdem ich „Undine“ überraschenderweise ganz erfrischend fand – in Abhebung von seinen anderen vorher vorgeführten Gespenstern und anderen seltsam unverorteten Gestalten, zu denen ich schwer Zugang finden konnte – lag natürlich auch an dem perseverierenden Einsatz von Nina Hoss und ihrer Aura von beleidigter Leberwurst.
Also Roter Himmel im Tagesprogramm geguckt. Als erstes registrierte ich das Auftauchen zweier anderer Filme in meinem Kopf, die hier in der Überschrift aufscheinen – als erstes Rossini von Helmut Dietl, eine Art filmischer Schlüsselroman über die Münchner Bussi-Gesellschaft mit Dietls bekannt-bissigem Humor. Ein schwer soziophobischer Schriftsteller ist verliebt in die italienische Kellnerin seines Stammrestaurants, die ihm täglich sein Essen in einem kleinen Nebenraum serviert (karikiert wird hier Patrick Süskind, der auch nett und selbstkritisch am Drehbuch mitschrieb). Als sich für die Dame die Gelegenheit ergibt, ihm an die Wäsche zu gehen, ergreift ihn Panik und er rettet sich mit dem oben erwähnten Kultsatz: Non vivere– scribere!
Das passt auch auf die Hauptfigur in Roter Himmel – Leon zieht sich an die Ostsee in ein Landhaus zurück, um sein Buch zu schreiben. Ihm dabei zuzusehen, wird zu einem quälenden Prozess – umgeben von einer seltsam belebten Natur und unruhig sich bewegenden Bäumen und Sträuchern, die für jeden Antonioni-Fan sofort das berüchtigte Blow-up- Gefühl erzeugen. Und ebenso wie Blow-up-David zerrinnt Leon ebenso jede sich bietende Gelegenheit Leben zu spüren zwischen den Fingern, während sein Freund Felix diese lustvoll ergreift. Die unheilvoll lebendige Natur und das graue, unruhige Meer, eine sich im Wald entfaltende und nahekommende Feuerwand bilden extrapoliert die innere Landschaft von Leon ab – Gefühle und Lebendigkeit sind bedrohlich und vernichtend – Felix und sein neuer Liebhaber Devid werden darin verglühen. Liebe ist tödlich – darauf werden wir eingestimmt durch die Eisverkäuferin Nadja, die Das Gedicht Der Asra zitiert und von den Liebenden von Pompeji erzählt, deren versteinerte Körper man in der Asche gefunden hat. Und natürlich ihre Netze nach Leon auswirft, der auch am Strand seine schwarzen Klamotten anbehält wie eine Mönchskutte. Petzold schichtet die Dramen des Alltags über die Katastrophenerfahrung einer brennenden Landschaft, so wird das Ferienhaus am Meer zum Resonanzraum für das Ineinander von Begehren, Eitelkeit, Angst und schöpferischem Anspruch. Während Leon an seinem Romanprojekt scheitert und seine narzisstische Deformation offenbart, verkörpern Nadja, Felix und Devid unterschiedliche Lebenshaltungen – Leichtigkeit, Sinnlichkeit, Offenheit.
Die Katastrophe selbst, das Feuer, bleibt zunächst ein atmosphärischer aber immer präsenter Hintergrund, wird dann aber zum Schicksalsmoment: Felix und Devid kommen bei einem Ausflug darin um, Nadja kehrt am Ende im Rollstuhl zurück. Diese Verstümmelung lässt sich auf mehreren Ebenen lesen: Als Schock der Realität – das Feuer, das zuvor nur Metapher und Stimmung war, hat reale, irreversible Konsequenzen. Der Sommer ist kein leichtes „Intermezzo“ mehr, sondern brennt sich in Körper und Biografie ein. An der Liebe kann man zugrunde gehen, Leons Pessimismus hat sich damit erfüllt. Damit kommt es auch zu einer Umkehrung der Rollen: Nadja, die im Film als souverän, körperlich, fast unantastbar erscheint – selbstbestimmt und sinnlich –, wird plötzlich die Verletzliche. Das unterstreicht die Fragilität aller Figuren, auch derjenigen, die bisher als „Lebensgewandtere“ schienen. Als Spiegel von Leons Scheitern. Nadjas Rollstuhl steht in einer gewissen Ironie gegen Leons Werk: während er seine literarischen Texte ins Leere laufen lässt, wird ihr Körper von der Geschichte gezeichnet. Was er nicht zustande bringt – eine Spur, eine Wirkung, eine bleibende Form – schreibt sich in sie ein. Die Lebenszugewandten sind auch die Verletzlichen und tragen ihre Zeichen – das kennt man.
Als Kommentar zur Zeitdiagnose: Petzolds Kino arbeitet oft mit dem Motiv der Verletzung und der Versehrtheit. Nadjas Schicksal erinnert daran, dass man aus den Katastrophen unserer Gegenwart – ob ökologisch oder existenziell – nicht unversehrt hervorgeht – dies nur der Vollständigkeit halber. So markiert Nadjas Rollstuhl am Ende nicht nur ein individuelles Unglück, sondern den Umschlag des Films vom sommerlichen Kammerspiel in eine existenzielle Allegorie: der rote Himmel als Menetekel, das aus Leichtigkeit Ernst macht, aus Möglichkeit Verletzung, aus Übergang Dauer – fast eine Parabel über die Gefahren von Glück. Parabeln pflegen mich in der Regel zu langweilen – dieser Film tut es nicht, ich fand ihn quälend; Petzold hat gelernt, Gefühle zu erzeugen. Am Ende des Films liest Leon die Geschichte von Felix, Devid und Nadja als neuen Roman seinem Verleger vor. Scribere, non vivere! Hat er ihn auch begriffen? Wieviel von Leon steckt wohl in Petzold, der mich früher so trefflich einschläfern konnte?