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2012 1 Dez

Cindytalk: Hold Everything Dear (Alter Text)

von: Michael Engelbrecht Filed under: Blog,Gute Musik,Musik aus 2011 | TB | 4 Comments

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Hold Everything Dear
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(für Terje Paulsen, ein Spezialist für solche Sounds, und größter Cindytalk-Fan von Kristiansand)

Besser spät als nie. Wenn mir jemand vor Wochen den Namen “Cindytalk” präsentiert hätte, mir wäre eine schlechte amerikanische Sitcom in den Sinn gekommen, womöglich ein Chatroom für Barbarella-Syndrom-Geschädigte. Dann schickte mir Ed Dense, ein Meister der Underground-Promotion,  das Album „Hold Everything Dear“, mir gefiel das spartanische Cover, ich machte mir einen Espresso, und hörte in der Folge eine Musik, die mich verstörte, in ihren Bann zog und ein wenig sprachlos zurück liess. Alles beginnt und endet mit Kinderstimmen (es könnte ein Schulhof sein, ein Kindergarten, ein Schwimmbad im August). Das wäre ja nun nicht gänzlich neu, eine atmosphärische Einstimmung, eine dramaturgische Klammer. Aber was sich dazwischen dann abspielt, straft jene Lügen, die immer irgendein Etikett brauchen: das Schlimmste wäre hier „elektroakustische Musik“. Sofort hätte man ein falsches Bild von den Klängen im Kopf.

Es gibt keine Songs, dafür gibt es Feldaufnahmen, bearbeitete Feldaufnahmen, spärliche Klaviertöne, die völlige Abwesenheit des Prinzips „Groove“, und lauter Undefinierbares von elektronischen Klangerzeugern. Ich wusste (kleine Phantasie am Rande) allerdings nicht, dass es Synthesizer gibt,  die als Windmaschinen taugen und sich mit einer empfundenen Windstärke 11 über einen japanischen Zengarten hermachen: aber da diese Gärten eh recht leer sind, fehlt hinterher nichts, nur ein wenig Wasser ist über die Steinumrandung des kleinen Teiches getreten, die Pfützen trocknen schon auf der roten Asche. Das sind natürlich private Bilder, jeder Kopf reagiert anders auf Cindyalk: doch, ja, im allerbesten Sinne erscheint mir  die Welt von Cindytalk als  „windige Angelegenheit“. Das ist meditative Musik, wie ich sie noch nie gehört habe. Ich sehe mir den letzten Satz noch einmal an und bleibe dabei: denn immer wieder dringen höchst beunruhigende Dinge aus den Lautsprechern, die man niemals zu „versunkenen Tönen“ zählen würde: Reste einer postindustriellen Industriewelt, Staccato-Feuerwerke beschädigter Landwirtschaftsmaschinen.

Anders als bei den monochromen Klangwelten eines Thomas Köner oder auch Fennesz changieren die Klangfarben permanent, chamäleonartig, die „Drones“, die Bordunklänge machen den Raum weit, enorm weit, aber sie suggerieren  – statt wundersamem Rauschen – die  Permanenz flüchtiger Momente. Da aber nun auch die Ewigkeit aus lauter einzelnen Schnappschüssen besteht, rückt man nicht unruhig auf dem Hörsessel hin und her, man taucht einfach ein in diesen Strom, der etliche unbehagliche Hochfrequenzerkundungen betreibt, auch subsonische Tiefbässe im Repertoire hat, Windspiele (auch die zarten, die im Bäumen klingeln), Kaleidoskope, Teleskope. Nehmen Sie sich ruhig ein wenig Zeit für all diese Wege, auf denen man aus dem Staunen nicht mehr rauskommt! Cindytalk ist Gordon Sharp. Matt Kinnison wirkte an diesem Album mit, das in drei Studios entstand, in Tokio, in London, und irgendwo in Essex. Matt Kinnison ist inzwischen gestorben, habe ich gelesen: ihm und dem Schrifsteller John Berger ist die Musik gewidmet. Wir hören hier also auch die Musik eines Toten, und dieser Schlusssatz ist nicht billig: hold everything dear, my friend!

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  • 1. How Soon Now… (5:01)
  • 2. On The Tip Of My Tongue (1:21)
  • 3. In Dust To Delight (6:38)
  • 4. Fly Away Over Here (9:14)
  • 5. Waking The Snow (1:25)
  • 6. From Rokko-San (6:01)
  • 7. Hanging In The Air (8:27)
  • 8. Fallen Obi (1:42)
  • 9. Those That Tremble As If They Were Mad (6:13)
  • 10. Floating Clouds (8:47)
  • 11. I See You Uncovered (1:42)
  • 12. …Until We Disappear (7:29)

This entry was posted on Samstag, 1. Dezember 2012 and is filed under "Blog, Gute Musik, Musik aus 2011". You can follow any responses to this entry with RSS 2.0. Both comments and pings are currently closed.

4 Comments

  1. Dirk Haberkorn:

    Das hört sich aber sehr interessant an!

    Beim flüchtigen Lesen Deines Textes hätte man Berührungspunkte mit The Books, Coco Rosie oder auch Tunng vermuten können.
    Aber das trifft’s wohl (bestimmt) nicht.

    Die üblichen Verdächtigen der elektroakustischen Szene kommen eh nicht in Frage, da sie manische Groove-Dispatcher im operativen Musikgeschäft sind.

    Es fällt weiterhin auch der poetische Charakter der Track-Benennungen auf. Und es ist schön, daß sich offensichtlich die Phantasie des/der Protagonisten nicht mit der Namensgebung erschöpft hat. Vielleicht ist aber auch erst das künstlerische Objekt da, und hinterher erfolgt dann (s)eine schriftliche Zuordnung.
    Wir werden es bald wissen.

  2. Michael Engelbrecht:

    Und Track 7 kann man (probe)hören, er ist so hauchdünn akzenturiert, dass man die Einladung zum „Clicken“ leicht übersieht….

  3. Jochen Siemer:

    Der Schriftsteller John Berger war auch Maler und Kunstkritiker. Er schrieb das vielbeachtete und lesenwerte Buch „Glanz und Elend des Malers Pablo Picasso“.
    Der Titel eines seiner Essays ist ebenso poetisch wie die Track-Benennungen von Cynditalks HOLD EVERYTHING DEAR: Und unsere Gesichter, mein Herz, vergänglich
    wie Fotos.

  4. Gregs:

    Die Platte klingt so interessant, sie ist schon bestellt, Danke für den Tipp!
    Und dass sich Jochen John Bergers erinnert, auch
    das ein Grund zur Freude!!!


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