Nicht alles muss zu einem logischen Schluss kommen, nicht alles muss von etwas handeln. In ihrem Vortrag „The Sentence Is a Lonely Place“ (Der Satz ist ein einsamer Ort) erklärt die Schriftstellerin Garielle Lutz ihre Vorliebe für Sprache, in der „der Satz eine vollständige, tragbare Einsamkeit ist, eine winzige Unmittelbarkeit vollendeter Sprache„. Damit meint sie, dass die Sprache für manche am besten ist, wenn sie isoliert werden kann, wenn sie eine Art synästhetische, akustische Resonanz annimmt. Man kann diese Terminologie auf das Songwriting der Neuseeländerin Aldous Harding anwenden, die seit vier Alben Folkmusik mit einem konzeptionellen Gewicht macht, das sich nur schwer kategorisieren oder einem etablierten Narrativ zuordnen lässt. Ihr neuestes Album, Warm Chris, ist eine Aufnahme der tragbaren Einsamkeit, über die Lutz schreibt: undurchsichtig, surreal, und vor allem einsam.
(Sophie Kemp, Pitchfork)
Vorsicht, Psycho-Analyse! Vorsicht, Identitätsfragen! Vorsicht, Verstörung (allein schon das Portrait auf dem Cover ist gewöhnungsbedürftig, gelinde gesagt, aber sobald wir das Album in Händen erhalten, wird die Sache mit den Lichtreflexen klarer). „Die Schwerkraft erwischt uns am Ende alle, aber das neue Album von Aldous Harding, „Warm Chris“, ist ein Zeugnis des chaotischen, kreativen Lebens, mit Nahaufnahmen und einer Cinemavérité-Produktion, die alle absichtlich wackeligen Kanten in Hardings Songs zur Geltung bringt.“
Das bemerkt Jim Wirth in seiner Besprechung in „Uncut“, und zitiert, was Aldous Harding der Irish Times zum Verhältnis zu ihrer Arbeit verrät: „Ich möchte mit etwas spielen, das zurückspielen will. Ich will nicht mit etwas spielen, das tot ist.“ Harding hat genug Zeit damit verbracht, in rauer, unheimlicher Sprache über Hingabe, Vergnügen und Performance zu meditieren, so dass es nur natürlich ist, dass sie nun endlich Raum zum Spielen gefunden hat.
Das Video zu „Fever“ hat übrigens einen besonderen Neil Young-Moment und handelt einmal mehr von Leerräumen – ein Abgesang auf eine Liebe mit Pauken und Trompeten. „I still stare at you in the dark“, singt Harding, „looking for that thrill in the nothing“. Die Asche einer Beziehung. Aber beide Zeilen lässt sie tönen wie einen Triumph.
Der letzte Song, in diesen Stimmwechselarien, heisst „Leathery Whip“ und erinnert mit seiner Kirchenorgel und dem klirrenden Tamburin an Gospel, und die Frau aus Neuseeland passt sich der ehrfürchtigen Instrumentierung mit einer ebenso feierlichen Darbietung an. Dennoch fällt es schwer, nicht zu lächeln, wenn sie singt: „Here come life with his leathery whip …“, ihr Tonfall tief und ihr Kiefer steif wie der eines sehr ernsthaften Geistlichen. Aldous ist gut beraten, sich nie von einem Hirten führen zu lassen. Und der Song hat etwas vom Charme und der Verlorenheit von Velvet Underground.
Aldous Harding ist eine Meisterin des negativen Raums. Sie webt intime Wände aus leisen Ausrufen, Pausen und Seufzern. Kurze Stille und gedämpfte Perkussionsspritzer verstärken die reichen emotionalen Crescendos ihrer Songs, die sich oft wie surrealistische Tagebucheinträge und manchmal wie in Träumen geschriebene Briefe lesen. Sie mischt Metaphern, malt zusammengesetzte Erinnerungen und bringt ihr inneres Kind zu den Shows.
Ihr eleganter Brückenschlag zwischen dem Metaphysischen und dem Alltäglichen wimmelt von Bildern, die ineinander sickern und schwankend wie Wassertropfen wachsen. Ihr Werk ist der Subtilität und Besonnenheit treu. Selbst in Interviews spricht sie leise, aber bedächtig und scheint jedes Wort abzumessen: sorgfältig, ohne zu blinzeln.
Skurril, bizarr und dennoch voller Anmut, ist „Warm Chris“ eine stilistische Collage, die sich trotzig in jedem Moment dreht und wendet. Sie ahnen, ladies and gentlemen, die Worte dieser Besprechung haben das gleiche Schicksal wie Frau Hardings neue Songs: sie hängen alle an dünnen Fäden und könnten in ihrer Summe einen leichten, aber angenehm verückten, Drehschwindel verursachen. Ich collagiere Sätze diverser Rezensionen von „Warm Chris“ mit eigenen Gedanken, so lange, bis ein neuer, im besten Fall tanzender Meta-Text entsteht.
Zeilen wie „A way of life. Philosophy / Lick my instep I miss the funk it leaves on me / I have the energy“ (‚Ennui‘) und „I’ll be all day getting the velvet back to you Bambi/Oh you feel the same do you?“ („Leathery Whip“) umgehen unsere rationalen Abwehrmechanismen und zielen direkt auf die tiefsten Sehnsuchts- und Wahrheitsgefühle des primitiven Gehirns. Während du herausfindest, was du denkst und wie du fühlst, wirst du von der Unschuld eines sanften Klaviers, einem beschwingten 70er-Jahre-Bossa Nova, Bluegrass-Banjo und Streichern oder einfach von atemberaubender Stille getragen.
Hardings‘ trittsichere Stimme variiert auf der Platte so dramatisch, dass es manchmal schwerfällt zu glauben, dass sie allein singt. Der rote Faden ist jedoch in all ihren elastischen Vokalisierungen unverkennbar – sie ist frei und sie weiß es. Ohne Eleganz zu opfern, probiert Harding neue Paletten aus, malt Eindrücke von kleinen Welten in die Texturen, die sich ergeben, und vertraut ihnen so, wie sie sich gerade anfühlen.
Warm Chris ist weder raffiniert noch zurückhaltend: die Lieder stromern herum, vagabundieren, wandern und wundern sich und bestätigen die reine Freude an der Neugier. Und diese Neugier steckt an. Wer dem Wort „Identität“ schon immer leicht misstraut hat (nicht mal diese Besprechung hat einen klar umrissenen Urheber), findet hier allerbesten Stoff für die subtilen Scharaden eines Ichs mit all seinen federleichten Auflösungsavancen. Meine liebe Frau Gesangverein. „What game came shall we play today?“ Oh, hoppla, das sang einmal eine gewisse Flora Purim. „Passion must play or passion won‘t stay“. Der Satz ist von Aldous Harding, und gar nicht so ein einsamer Ort.
geschrieben und gemixt von Michael Engelbrecht