Manafonistas

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Archives: Tim Berne

 

Als es noch kein Internet gab, tigerte ich oft am öden Sonntag, nach arbeitsreicher Woche meist völlig ausgelaugt, zu irgendeiner Tankstelle oder Bahnhofsbuchhandlung, um verstohlen in den Hifi-Magazinen die Neuveröffentlichungen und Plattenkritiken rauszupicken. In einer dieser Journale wurde unterteilt in die Bewertungskriterien „Musik“ und „Klangqualität“ der jeweiligen Aufnahme, also in gewisser Weise die altbekannte Zweigestalt aus Inhalt und Form. Gestern beim Hören von Candid des Quintetts Sunny Five dachte ich, es wäre gut, ein weiteres Kriterium hinzuzufügen: inwieweit man angestachelt wird, selbst Musik zu machen, also dem Drang zu folgen, das Rezipierte nachzuahmen. Ahmung war immer ein entscheidender Faktor, schon zu Zeiten von Ten Years After wollte ich Alvin Lee nicht nur hören, sondern es selber sein. Auch die Beatles, das war im Grunde genommen ich. Ein Wunsch wurde nun wahr: das zwei, die mehr sind als nur Gitarristen, nämlich auch Berserker auf ihrem Instrument, Klangmagier und Alchemisten, in der Tradition eines Fred Frith oder Derek Bailey, einmal zusammenspielen würden. Von David Torn und Marc Ducret ist die Rede, zu bestaunen auf Tim Bernes aktueller Neuveröffentlichung. Zu den bereits Genannten gesellen sich dann noch Bassist Devin Hoff und Drummer Ches Smith. Zu hören ist ein furioses Happening, bei dem im Kopf ein Film abläuft. So viele Assoziationen: mal dachte ich, die Möbelpacker kommen. Wohin der Schrank? Dort in die Ecke. Rumms! Eine Tür schlagt zu. Dann eine Fabrikhalle, Machinen, Räderwerk greift ineinander. Bleche fliegen durch die Luft. Da fliegt mir doch da Blech weg. Spliff! Und immer elektronisches Hintergrundgezirbel, zauberhafte Mutationen. Der erdenschwere Bass bringt reichlich Wucht zuweilen, Bill Laswells Massaker kommt in den Sinn. Dann wieder ist es plötzlich still, typisch Berne, diese dynamische Spannbreite. Da lässt der Torn mal kurz die Oud raushängen, dann übernimmt das Saxofon Ducrets E-Gitarre wie im Staffellauf. Das Ganze ist irgendwo zwischen Jazz, experimenteller Musik und Heavy Metal angesiedelt, teilweise rockiger als Rock. Heroisch wurde dies bereits genannt, ja irgendwie steckt Nietzsche drin, der Drang zur Überschreitung. Ich höre gerne Taylor Swift, doch immer wieder auch Fred Frith.

 

2022 6 Feb

Selbstregulative

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Jeder gesunde Mensch besitzt sie: jene Techniken, die es ermöglichen, sich selbst Einhalt zu gebieten. Der ungebremste Redefluss, die ungezügelte Esslust, oder im Sportbereich das ehrgeizige Höher, Schneller, Weiter. Mir fiel gerade auf, dass ich in früheren Zeiten oft der Tendenz verfiel, zu sehr in der Musik zu versinken, sowohl beim Hifi-Hören als auch beim Gitarre spielen. Dies traf insbesondere zu auf Material, das allzu einschmeichelnd war. Mindestens zwei selbstregulative Gegenpole fallen mir ein, neben dem allseits bekannten „Erstmal raus an die frische Luft!“: zum einen wäre da das Denken und das Lesen in Büchern, zum zweiten das Hören von freieren Formen der Musik, die diese voreiligen Sentimentalitäten erstmal gründlich trockenlegen. Haben Sie schon einmal etwas von Anthony Braxton gehört, verehrter Leser, oder von Alexander von Schlippenbach? Auch Aki Takase wirkt, erst recht Tim Berne. Ausschliessliches Verweilen im ewig melancholischen Moll, Moll, Moll ist der Gesundheit ebenso abträglich wie das hochtrabend Vergeistigte der Bach’schen Fugen, die bei Unsereins, wie sonderbar und hierin Songs von Eric Clapton ähnlich, schon immer einen leichten Anflug von depressiver Leere hinterliessen. Hier half auch kein Glen Gould. Unvergesslich hingegen eine Wirkung beim intensiven wiederholten Hören von Tim Bernes Bloodcount Konzert in Paris. Ich hatte den Eindruck, mein Gehirn sei gedopt und zu schärferer Wahrnehmung fähig: nüchtern, hellwach, analytisch.

 

2019 7 Feb

Sun of Goldfinger

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Teaser

 
 

 

Tim Bernes Musik ist nicht nur unmittelbar als die seinige erkennbar. Berne gehört zu denjenigen im Jazzfeld, in deren Spielpraxis – ähnlich wie bei Henry Threadgill oder Steve Coleman – ein markantes eigenständiges musikalisches Gestaltungssystem mit generativem Potenzial wirksam ist, das zu Vertiefung und Erweiterung der Musik führt.

Augenfällig ist die Ergänzung der Snakeoil-Besetzung durch den Gitarristen Ryan Ferreira, der auf dem Album elektrisch wie akustisch spielt, sowie der Einsatz des Vibraphons durch Ches Smith. Ferreira ist ein junger New Yorker Gitarrist mit Ambient Sound und Rockseiten (inzwischen nach Seattle ungezogen), der neben Tim Berne und Michael Formanek mit Ted Poor, Chris Tordini, Colin Stetson sowie Ensemble Alarm Will Sound zusammengearbeitet hat.

Gleich zu Anfang des achtzehneinhalbminütigen „Small World In A Small Town“, schlägt sich die Besetzungserweiterung in Anklängen Hitchcock-Hermannscher Provenienz ohrenfällig nieder. Das Stück führt von weit offenen lyrischen Phasen über kaskadierende zu ätherischen Unisono-Phasen und dann zu schlagwetternden kontrapunktischen Teilen.

Das dynamische Durchlaufen eines solchen Spektrums wechselnder Temperaturen ist in dieser Art neu für Snakeoil und setzt sich im Folgestück „Embraceable Me“ in noch gross- artigerer Form fort. Aus anfänglich sich überschlagender Dichte entstehen neben stark lyrischen Passagen pendelnde Phasen mit einer Stasis vom Schlage Gil Evans. Das Titelstück schliesslich ist ein unbegleitetes zweiminütiges Solo auf akustischer Gitarre. Im anschliessen- den „Semi-Self Detached“ ereignet sich ein äusserst stilles, beinahe ausserweltliches Zusammenspiel von Noriegas Bassklarinette und elektrischer Gitarre, zu dem sich langsam erst Bernes Altsaxophon und dann die beiden anderen Instrumente von Smith und Mitchell fügen. Nirgends wird mit Versatzstücken operiert oder mit effekthascherischem Kontrast. Es ist die je spezifische Dialetik und die geworfene (Ver)Zeichnung, die bei Berne trägt, und das zieht sich ebenfalls stark durch das abschliessende „False Impressions“.

 
You’ve Been Watching You ist bei ECM erschienen. Die Rezension ist eher auch in dem Printmagazin Jazzthetik erschienen.

 

„Diese Musik ist wie ein Schlüssel!“, entgegnete ein musikverständiger Zeitgenosse, als unsereins einst überschwänglich Begeisterung für das Paris-Concert des Bandleaders und Saxofonisten Tim Berne zeigte. Den Bass auf dieser legendären Liveaufnahme spielte damals ein gewisser Michael Formanek. Der war mir vorher schon zu Ohren gekommen, auf Parias Pariah beispielsweise – im Quartett mit Gary Thomas, Greg Osby und John Arnold. Wuchtige polyrhythmisch-harmonische Strukturen legten dort den Grundstein für das abstrakt-kühle Spiel der Kompositionsarchitekten Osby und Thomas.

Als Nachfolge des hochgelobten Formanek-Debüts The Rub and the Spare Change erschien nun Small Places. Von der Wucht des auch im echten Leben stabil gebauten Bassisten hört man viel und gerne. Und kein Eicher wäre im Spiel, käme nicht zu dieser Kraft auch Feingefühl und Atmosphäre. Man munkelte schon von „muskulösen Ostinati“, doch der Hörer sei besänftigt: diese Musik wurde nicht im Kraftraum eines sterilen Fitnesscenters ausgeschwitzt – sie entstand enspannt unter der federführenden Hand Formaneks und entfaltete sich dann weiter vor den Mikrofonen der New Yorker Avatar-Studios.

Als Einstieg empfielt sich das letzte Stück des Albums: der von dem Bordun-Ton einer Shruti-Box getragene Song „Soft Reality“. Hier hört man diese schnörkelig feinen Linien, diese hingehauchten Verspieltheiten des Tim Berne, wie er sie schon auf dem Paris-Konzert zelebrierte. Dann aber, im anfänglichen Titelstück „Small Places“, geht es zur Sache. Das ganze Album gewinnt seine Spannkraft durch den Gegensatz von kraftvollen, geradezu rockigen und dann den leiseren, lautmalerischen, tentativen Passagen. Was ist hier noch komponiert, was schon improvisiert?

Das Zusammenspiel Tim Bernes – dessen Ton immer auch etwas ungehobelt, raubeinig und organisch klingt – mit dem Pianisten Craig Taborn und seinen leichten, kühl-ätherischen Klangfarben ergänzt sich gut. Hört er den Letzteren spielen, fragt sich der Klassik-Laie einmal mehr: „Wo ist eigentlich der Unterschied zwischen E-Musik und Jazz?“ Ist das hier Ravel, Schönberg, Webern oder gar Strawinsky? Auch an den kaskadenhaften, klassisch angehauchten Spielwitz des Frank Zappa erinnert zuweilen die Musik auf Small Places.

Keith Jarrett und sein Trio spielen bekanntlich seit Jahren Standards auf hohem Niveau. Jazzstandards sind basis-komponiert im Gefüge von Funktionsharmonik oder Modalität. Darin ähneln sie dem Bossa Nova und den Songs von Steely Dan. Die Musik Formaneks, Bernes, Taborns funktioniert anders: es sind verschachtelte, rhythmische Melodielinien, frei von funktionsharmonischer Struktur – sie bieten Gerüst und Rahmen für die sich öffnenden Räume der Improvisation. Wäre dies Malerei, sie wäre teils abstrakt, teils gegenständlich.

Schlußendlich gehört Small Places zu jenen akustischen Schauplätzen, wo sich auf offener Bühne etwas vollzieht, das sowohl dem leidenschaftlichen Jazzliebhaber als auch dem selbst Musizierenden so manch inspirierenden Aha-Effekt verleiht; die Lust auf Musik macht und – um zappaesk zu schließen – einem die Einsicht vermittelt, der Jazz sei noch lange nicht dahingeschieden, vielmehr ein ewiger Phoenix, aus Asche entsprungen.

2012 2 Mrz

Tim Berne – Snakeoil

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Seit den Fractured Fairy Tales aus dem Jahre 1989 ist Tim Berne seiner Linie treu geblieben – und bruchstückhafte, fragmentierte Erzählungen bekommt man auch auf Snakeoil, dem jetzt bei ECM erschienenen Werk dieses Musikers, zu hören. Und um es gleich zu sagen: Snakeoil ist ein grosser Wurf.

Vom Maler Max Ernst hieß es, er sei ein Zauberer kaum spürbarer Verrückungen gewesen. Gleiches gilt auch für den Saxofonisten Tim Berne, denn seine Musik entfaltet eine ganz spezielle Wirkung. Er schafft es nämlich, in seinen sich entwickelnden Kompositionen von bis zu einer Stunde Dauer Überraschungs-Effekte entstehen zu lassen – und man fragt verblüfft: „Wie macht der das?“

Nicht so einfach: asymetrische, verschrobene Melodielinien – dazu vertrackte Rhythmen und Metren; eine vorgegebene Komposition und der festgelegte Gesamtablauf bilden das Gerüst, mal im Akkordschema sich bewegend, aber meistens frei davon. Hinzu kommt jede Menge Freiraum für Improvisation und Mitgestaltung der Musiker. Das ist der Trick – und das macht Spass, weils keine öde Skalenreiterei ist. Obwohl Komposition, ist doch alles offen. Nichts für Klassikpuristen.

Es beginnt meist mit leisen, improvisierten, stimmungsvollen Passagen: eine einsame, suchende Bläserstimme etwa, von einer zweiten dann umspielt, quasi bezirzt. Gekratze auf dem Kontrabass, perkussives Zirbeln und Geraschel. Still und heimlich schiebt sich da ein Blues-Groove drunter, massvoll in vertracktem Taktmass erst, der das Ganze treibt, langsam aber sicher hin zum explosiven Schlusspunkt. Darüber haben sich inzwischen längst diese bernesteinfarbenen Melodielinien gelegt: fein auskomponiert, organisiert – als Themen und Schemen mit Wiedererkennungswert – aber frei von Sentimentalem.

Das Gesamtwerk Bernes ist ein Perpetuum Mobile, eine sich ewig fortsetzende, spannungsreiche, klangfarbenfrohe Prozession in dieser eigenartigen Polarität aus Stille und Aufruhr. Fractured Fairy Tales – um diesen Titel nochmals aufzugreifen, bezeichnet zum einen die erzählerische Komponente in Bernes Musik, mit splitterhaften Melodielinien, aber auch ruhigen, friedlichen Momenten der Besinnung und des Vorantastens.

Zum anderen bezeichnet er ihren hohen Assoziationsgehalt. Denn wie ein gut organisierter, durchdachter und drapierter Scherbenhaufen spiegeln die Berneschen Kompositionen fast die gesamte Musikgeschichte.

Durch die Nähe zu allen möglichen Genres wirkt diese Musik wie ein eröffnender Schlüssel: da sind die Blues-Roots (der Einfluss seines Lehrers Julius Hemphill?), dann Folk, Klassik, Neue Musik. Es spiegelt sich darin vor allem aber der Geist des melodiös-romantischen Jazz, wie ihn vormals Oregon spielte oder das “American Quartett” des Keith Jarrett (mit Paul Motian, Dewey Redman und Charlie Haden) – auf der Survivors Suite oder auf Fort Yawuh.

Welch ein Glücksfall ist es nun, dass diese Musik jetzt auch bei ECM seine Wirkung zeigt – in einem ausgeprägt kammermusikalischen Tonfall. Nicht nur die dem Label eigene Ästhetik, auch die Mitmusiker dieser Produktion tragen ein Übriges dazu bei:

Ches Smith mit seiner ganz eigenen Kunst der Perkussion, Oscar Noriega mit virtuosem, geerdetem Klarinetten- und Bassklarinettenspiel, und einem Matt Mitchell, der versiert und modern wie Berne-Companion Craig Taborn spielt – auch er ein Crack an den Tasten, sehr gelassen und mit fast klassischem Anschlag.

Nehmen Sie sich Zeit.
 
(von J. Siemer und M. Engelbrecht)

LOWLIFE – The Paris Concert I
POISONED MINDS – The Paris Concert II
MEMORY SELECT – The Paris Concert III

Recorded September 22–25, 1994 – Instants Chavirés, Montreuil, Paris, France.

Tim Berne – alto saxophone
Chris Speed – tenor saxophone, clarinet
Marc Ducret – electric guitar
Michael Formanek – contrabass
Jim Black – drums

 

Es ist ein Wunder. Ich habe diese drei Platten (’scuse me for this old fashioned term)
nun schon so oft gehört und immer noch stellt sich der Effekt ein, daß mich diese Mitschnitte des legendären Paris-Konzertes in eine Art Trance bzw Clearing versetzen. It’s hard to describe, but let’s try:

Zum einen ist der Gesamtklang dieses Ensembles auf fast heilsame Weise homogen. Die Elemente der einzelnen Instrumente greifen ineinander wie ein Schweizer Uhrwerk und ergänzen sich zu einem kongenialen Gesamtgefüge. Marc Ducret on guitar, Jim Black on drums, das ultra-knackige Baßspiel des Michael Formanek, das kontrapointierte Bläserduo Speed und Berne.

Die Mannschaftsleistung zählt. Dies ist das Konzept, liest man Meister Tim´s Stellungnahme zum Werk (dies ist nämlich, auch wenn es anders klingen mag, primär komponierte Musik). Aber es macht auch Spaß, den einzelnen Top-Class-Musikern auf ihrem jeweiligen Instrument zu folgen, und das nach dem x-ten Hören. Hinzu kommt: die Musik ist ein Amalgam aus fast allen Musikgattungen und entzieht sich gleichsam allen Schubladen.

Ich höre hier eine Weiterentwicklung der SURVIVOR’S SUITE; furthermore MANAFON-like passages of improv-music; teilweise klingt es kammermusikalisch; Chris Speed erinnert stellenweise an Evan Parkers Spiel. Ein Spektrum zwischen Dynamik (Jazzrock im besten Sinne) und absoluter Stille. Dann steht plötzlich in einer Ruhe nach dem Sturm ein Saxophon-Ton im Raum. Wie eine Kobra aus dem Korb des Schlangenbeschwörers: a perfect, but dangerous beauty!

Das gesamte Konzert erweckt den Eindruck eines würde- und spannungsvoll voran-schreitenden Prozessionszuges: eine achtsame Avant-Garde durchschreitet Etappen von beeindruckender Vielfalt und Virtuosität, die man jeweils einzeln, aber auch als zusammengehöriges Ganzes erleben kann.

Dieses Musik-Ereignis, live aufgenommen im Herbst 1994, zunächst bei JMT, später dann bei Winter&Winter erschienen, es ist ein Meisterwerk; ein Glücksfall und zudem eine hohe Schule des Hörens. Kein Tor zu tausend Wüsten, nein: ein Schlüssel für die vielfältigen Räume moderner Musik. Mit einer Dosis Gift, die heilend wirkt für Poisened Minds und die das Gedächtnis selektiert. Nicht ganz harmlos – doch nur das Gefährliche hat Mana.
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