Menschen reagieren auf das Kolossal-Fremde reflexhaft mit Angst. Man hat wenig Ressourcen, dem Unbegreiflichen in ersten Augenblicken couragiert entgegenzutreten. Denken Sie an die Riesenspinnen von „Tarantula“, an Urthemen von Science Fiction und Mystery, an Todesnähe, aber auch, in politischen Dimensionen, an die primitiven Ängste vor „Überfremdung“, die Rechtspopulisten verbreiten. Bei letzteren reicht ein gutes Quantum Antifaschismus, Empathie und Toleranz, um sich zu widersetzen, und ein tieferes Verstehen des Fremden zu ermöglichen. Eine Musik, die eine Zukunft träumt, wie die analogen Synthesizer von Motus, und dabei jeden anheimelnden Retro-Charme vermissen lässt, kann schon leicht eine Ur-Angst hervorlocken: der Blick in eine ferne Zeit, der nicht mit allerlei Vertrautheiten garniert ist, hält allerdings auch eine grosse Bandbreite von Empfindungen parat, Erschrecken, Schauern, Verwunderung, Staunen. Man ist aufgefordert, erst einmal etwas auszuhalten, wenn man über eine solche Schwelle tritt. Und wenn man nicht gleich die Flucht ergreift, kann etwas Neues beim Hören entstehen, etwas, wovon man bei den ersten Tönen von Thomas Köners neuem Album nicht zu träumen wagte.
Erste Frage: Diese Musik wirkt sicher für viele Hörer erst einmal unvertraut, ja, unheimlich. Wie stellst du dir die mögliche Verwandlung vor, die bei einem Hörer einsetzen kann, dass man das, was anfangs leicht fremdartig, verstörend wirkt, auf einmal (ein Kippen der Wahrnehmung) als faszinierend, spannend erleben kann?
Thomas Köner: Es gibt ja in der deutschen Sprache den schönen Begriff der Zukunftsmusik. Was ich mit Motus geschaffen habe, ist Zukunftsmusik, also Musik, die aus der Zukunft kommt, oder vielmehr, Musik, die so klingt, als käme sie aus der Zukunft. Das vibriert und wärmt uns, und ist auf eine Art fremd, bis wir Freundschaft schliessen, es ist ja Musik aus unserer eigenen Zukunft, nichts projiziertes, verdinglichtes, sondern aus einer Zukunft, die selbst eine Zukunft hat, ein endloses Öffnen, Sich-Öffnen, das so WEIT wird, das alle Erwartungen an Musik, Melodie, Formen und patterns immer weiter, immer ferner zurückbleiben, und schon in Vergessenheit geraten sind. Wir geraten also in Bewegung. Motus heisst ja Bewegung, Umwandlung, Fortschritt, Tumult, ein Wort aus der lateinischen Sprache.
Zweite Frage: Wie kommst du darauf, diese Musik überhaupt in dem Kontext von dancefloor, oder imaginärem dancefloor anzusiedeln. Ist ja schon weit weg von deiner Musik mit Porter Ricks. Das ist schon ambitioniert, con einer Art Tanzmusik zu träumen, die keinen Takt, keinen Rhythmus im engeren Sinne kennt.
Thomas Köner: Motus ist (für mich) mehr als nur Musik, die mit analogen Synthesizern gemacht wird, es geht um eine Haltung, eine Art, sich auf den Klang und die Emotion, die er auslöst, zu beziehen. Ein Lebensstil, bei dem Bewegung, Bewegen und Bewegt-Werden in Eins gehen. Es geht um Vibration und Resonanz, es geht um die Haut, um Berührung, um Oberflächen und das gasförmige Medium dazwischen. Ich träume von einem Raum, einem öffentlichen Raum, in dem Motus als Tanzmusik verstanden werden könnte. In welcher Welt, oder besser gesagt, in welcher Gesellschaft wäre das möglich? Und wann würde das möglich sein? Ist das futuristisch? Wird es so eine Zukunft geben? Ich möchte gerne darauf hinarbeiten, Situationen schaffen, durch die sich das Verständnis von Musik erweitern kann, Bedingungen schaffen, in denen einfach glückliche Momente unabhängig werden von einfacher Musik, in der Harmonie aufleuchten kann, auch jenseits von Kadenzen aus tonika – dominante – subdominante. Motus ist Teil dieser Erforschung: Tanz, frei von Takt und Groove, frei von Rhythmus zu finden. Es pulsiert. Der Downbeat verbindet sich mit dem Unten, ein Unten wie in Steinen, im Mineralischen. Der Upbeat verbindet sich mit einem Oben, ein Oben wie in Gräsern, Blumen, Bäumen und Sternen. Und Downbeat und Upbeat zu vereinen – das ist das, was ich unter Tanz verstehe. Die Tänzer verbinden beides zusammen, verbinden Upbeat und Downbeat, Himmel und Erde. Ihre Bewegungen sind rein, es ist die pure Bewegung, der Kuss von Geist und Materie.
Dritte Frage: Gab es beim Entwickeln dieser Musik für dich wiederum Bücher, wie früher, bei Alben wie Teimo oder Permafrost, die Lektüre von oft tragisch verlaufenden Expeditionen in arktische Räume?
Thomas Köner: Der kreative Prozess geschieht natürlich immer in Begleitung, das ist ja so eine Grundannahme, Grundvoraussetzung, das zur Inspiration immer Zwei gehören, das Inspirierende und der / die Inspirierte, und das trifft auch hier mit Motus zu. Aber, und das ist ein grosses Aber – ich war ständig darauf aus, dass die Stelle der begleitenden Inspiration leer war und leer blieb. Also das heisst, wenn diese Stelle an einem Tag, in einem Moment nicht leer war, dann habe ich gar nicht erst angefangen mit dem Musikmachen oder direkt damit aufgehört. Inspiration ist ja notwendigerweise etwas, das aus der Vergangenheit kommt, und dann würde man es in der Gegenwart reflektieren, mit dem kreativen Akt darauf reagieren. Das war eine interessante Erfahrung, wie rückwärtsgewandt wir sind, alle Emotion, vom Vortag, vom Vorjahr, das stört ja wenn ich mir Musik vorstelle, wie sie aus der Zukunft kommt. Du wirst mir widersprechen und sagen, Angst vor der Zukunft, bedrohlich, das kommt doch aus der Zukunft und ist vorstellbar, begleitet uns, inspiriert uns. Aber das ist falsch. Alles, was wir erkennen und benennen kommt aus der Vergangenheit. Die Zukunft, die wir benennen können, ist nicht die wahre Zukunft. Deshalb klingt Motus ja so fremd, es ist unbeschreiblich, es ist nicht so wie man es erwarten würde oder könnte. Vielleicht mag das Hörer irritieren, aber ist das nicht schön? Insofern, deine Frage nach den Inspirationsquellen: das sind die Leerstellen.