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Archives: Talk Talk

 

Spirit of Eden (1988) und Laughing Stock (1991), die mit als die ersten Alben des Post-Rock gelten, habe ich beide erst viele Jahre später entdeckt, der Impact dieser beiden Scheiben auf mein musikalisches Weltbild wurde jedoch dadurch kein bisschen geschmälert. Es wäre generell mal interessant, zu welcher Lieblingsmusik man synchron gelebt hat und zu welcher asynchron, also mit Verspätung und, ob das irgendeinen Unterschied macht, ich kam meist spät zur Party, aber davon eventuell später mal mehr. Danach kam dann noch das Mark Hollis Soloalbum (1998), das natürlich alles andere als ein Soloalbum war, mit dem ich jedoch nie so richtig warm wurde, das mir dann doch etwas zu karg und spröde war mit zu vielen Pausen, dazu ein Gesang, der mich an ein waidwundes Reh erinnerte, durchdringend und nur schwer zu ertragen. Danach wartete man vergeblich auf weitere Musik, alles was noch kam, war das mehr oder weniger völlige Verstummen. Am 25. Februar 2019 starb Mark Hollis dann schließlich. Und damit die Hoffnung, dass es jemals noch mehr von dieser großartigen zwischen Klassik, Jazz, Improvisation, Geräuschen, Stille, Folk und Rock balancierenden Musik geben würde.

Und dann kam Corona und der erste Lockdown. Und David Joseph, ein britischer Multiinstrumentalist und Komponist, hatte die Idee, verschiedene Studiomusiker, die zum Teil mit Mark Hollis und Talk Talk kollaboriert hatten, einzuladen, über seine Rhythmusmuster und Akkordfolgen zu improvisieren. Insgesamt stehen 26 Mitwirkende auf der Rückseite der CD im Pappschuber. Darunter auch Phill Brown, der Toningenieur, sowie James Marsh, der Coverdesigner, die wie auch Martin Ditcham an Drums und Percussion und Robbie McIntosh an der Gitarre schon bei Talk Talk mit von der Partie waren. Was soll ich sagen, das Ergebnis, das Instrumentalalbum Solace von Held By Trees, wie sich die Band bzw. das Projekt in Anspielung auf die letzten beiden Talk Talk Cover nennt, das letztes Jahr erschien, ist ein Kleinod an impressionistischer Kammermusik, die auch durchaus rhythmisch sein kann, mit einem melancholischen Touch. Es ergibt sich eine wunderbare Vielstimmigkeit durch die vielen Instrumente und man möchte förmlich baden in diesem organischen, warmen Sound.
 
Übrigens sind die Tracks recht unterschiedlich. Ein Stück, was mich mitnimmt in eine andere, bessere Welt, ist Rain after Sun, allein schon dieses leichte Quietschen beim Akkordwechsel auf der Gitarre, dieses Hingetupfe der Gitarren, das subtile Klavierspiel, dieses ziellose Schweben. Einziges Manko, das Stück hört viel zu früh auf. Gut, dass man im digitalen Zeitalter so einfach Repeat drücken kann. Immer wieder phantastisch der Einsatz des Harmoniums, das so etwas vage Nostalgisches ausdrückt. Ein weiteres Highlight, The Tree of Life, das einen erst in die Tiefe zieht und dann dem Sonnenlicht aussetzt. Man ist hin- und hergerissen zwischen Schwere und Leichtigkeit. Bösartige Menschen könnten sagen, dass diese Musik kitschig ist. Man muss ihnen kein Gehör schenken. Auch der Album Closer The New Earth ist ganz wunderbar, obwohl oder weil man hier einen starken Einfluss der frühen Dire Straits heraushört, David Knopfler ist auch bei zwei Stücken mit am Start, allerdings laut Mitwirkendenliste angeblich nicht bei diesem. Mein Album des letzten Jahres.

 

Einst, in den frühen Neunzigern, im NDR, Rothenbaumchaussee, in Michael Nauras heiligen Hallen:

 

Naura: „Engelbrecht, was hast du dir denn da ausgedacht? Talk Talk?! Was ist das?“

Ich: „Einfach unglaublich gut. Und da schweben die Geister von Ligeti, Davis und Elvin Jones durch.“

Naura: „Na gut. Der verrückte Titel klingt ja nach Hypnose: 50 Wege, das Zeitgefühl zu verlieren …“

Ich: „Mindestens fünfzig, Herr Naura!“

 


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