Nathalie Merchant war auch mal jung und eine Plattendiebin, das erste Album, das sie klaute, in ihrem lokalen „drugstore“, war „Taking Tiger Mountain (By Strategy)“. Als sie Brian später einmal bei einer Musikveranstaltung traf, versuchte sie ihm zu erklären, was sie an seinen Soloalben, und nicht zuletzt an der „Tigerbergmusik“, so liebte: nicht die Welt schien ihr mit 14 ein besonders lebenswerter Ort zu sein, sondern die Räume, die Brians Musik aufschloss. Wäre Nathalie da nicht schon eine gestandene Künstlerin gewesen, Brian hätte Angst haben müssen, einen besonders fanatischen Fan vor sich zu haben. „I couldn’t even recognize the instruments that were being played, it was so outrageously original and bizarre“.
Tatsächlich klang hier manches nach Synthesizern, was allein auf das „treatment“ klassischer Instrumente zurückging. Und wenn „Here Come The Warm Jets“ eine in alle Richtungen schiessende Freisetzung kreativer Energien darstellte, „Astral Weeks a la Eno“ (es muss sich zu Roxy-Zeiten einiges aufgestaut haben), ging es auf dem Nachfolger konzentrierter, konzentrischer, zur Sache, die Lieder besassen eine in seltsamen Kreisläufen verlaufende Form, in denen „singalongs“ an Moebiusschleifen erinnerten – und einmal sagte Eno, er wollte das Empfinden erzeugen, diese Lieder würden um ein „imaginäres Zentrum kreisen“.
Als ich den ersten Song hörte, „Burning Airlines Give You So Much More“, Mitte der Siebziger, wusste ich, dass ich hier einen neuen Lieblingsmusiker (Seelenverwandten) gefunden hatte, der mich zu Roxy-Music-Zeiten noch seltsam ungerührt liess. Ich mochte die surrealen Geschichten von Menschen, die kleine Kameras in ihrem Haar trugen, durch den Dschungel wanderten und in lauter Abenteuer verwickelt schienen. Das war großes Theater. Einmal, lange vor meinen Journalistenjahren, rief ich beim Hauptquartier von Polydor in London an und abeitete mich mit charmanter Hartnäckigkeit zu einer Sekretärin vor, die mir Enos handgeschriebene „lyrics“ fotokopierte und nach Würzburg schickte.
Wie entstanden denn diese Songtexte, die, bei aller Exotik, mit skurrilem Humor, seltsamer Traurigkeit, und, immer wieder auch, einem Quantum Sehnsucht durchsetzt waren? Das fragte ich Brian einst, im Sommer 2005, und erhielt folgende Antwort. Will Nathalie Merchant wirklich dort leben? Sie sollte es sich gut überlegen. Zum Glück gibt es Paralleluniversen, und zum Glück wird hier auch eins lebendig, in dem ein Nachfahre von Lewis Carroll Verse in die Popkultur schleust, und Atheisten Krippenlieder schmieden.
Witzigerweise fand ich vor drei oder vier Monaten das Notizbuch, in das ich die Songtexte von “Taking Tiger Mountain (By Strategy)” geschrieben hatte. Und es war sehr interessant , da einen Blick hineinzuwerfen. Da ist eine Seite, auf der ich einen ganzen Song in einem Rutsch geschrieben habe. Als hätte jemand anders mir alles diktiert. Der Text ist voll ausgeschrieben, manchmal ist ein Wort durchgestrichen und durch ein anderes Wort ersetzt. Oder zwei Zeilen veränderten ihre Position. Ich weiß nicht, ob meine Erinnerung mir einen Streich spielt und die Dinge schönt: ich erinnere mich jedenfalls, überhaupt keinen Zweifel und keine Schwierigkeiten gehabt zu haben, die Texte zu schreiben. Es war, als wären sie schon alle in mir vorhanden gewesen. Und ich hatte ein sehr klares Bild von dem Gefühl, daß dieses Album vermitteln sollte. Es war die Tragödie der „chinesischen Erfahrung“, dieses große Zerplatzen der Träume, die der Maoismus einst repräsentiert hatte. Und wie bei allen Zusammenbrüchen revolutionärer Hoffnungen, entwickelt sich ein kollektiver Unterton der Enttäuschung. Im letzten Song des Albums machen sich die Menschen auf den langen Marsch über den Berg, sie kämpfen sich durch Schnee und Eis in eine ungewisse Zukunft. Sehr melancholisch.“