Ein Jahr wohnte ich in der Clara-Zetkin-Straße in einem WG-Durchgangszimmer, was meine Vorliebe für die Küche sicher verstärkte. Sie war ausserdem neben dem Badezimmer der einzige Raum, in dem es eine normale Heizung gab, der Rest der Wohnung wurde mit Kohle beheizt. Und die Küche war gemütlich: Eine Mitbewohnerin hatte die Wand mit knalligen abstrakten Formen bemalt, es gab ein langes Brett, an dessen Unterseite die Tassen an ihren Henkeln hingen und auf dem Geschirr, Töpfe und ein CD-Spieler standen. Neben Smokers Delight, Rockers to Rockers oder Emperor Tomato Ketchup lief darauf nicht selten Millions Now Living Will Never Die von Tortoise aus Chicago. Ich besuchte ein erstaunlich leeres Konzert, im Vorprogramm spielten Trans Am und The Sea and Cake (die ich belanglos fand, völlig unverständlich im Nachhinein). Die Musiker von Tortoise tauschten ständig die Instrumente, die sehnsüchtigen Basslinien prallten von den unverputzten Backsteinwänden durch den Saal, die knarzigen Geräusche und die Klangketten des Vibraphons sirrten durch die Luft.
Zwei Jahre später wohnte ich in ähnlicher Besetzung in einer neuen Wohnung mit weniger Charme und mehr Komfort: es gab eine Einbauküche, dafür kein Durchgangszimmer. Mezzanine, Moon Safari, Khmer und jede Menge Dub wurden gehört, im Sommer 1998 erschienen dann Two Pages und Moment of Truth, letzteres ein Inselalbum für mich. Tortoise veröffentlichten TNT, ich sah sie ganz gediegen im SFB-Sendesaal konzertieren. Sehr bildungsbürgerlich, nicht ganz so aufregend wie zwei Jahre zuvor, trotzdem toll. TNT kaufte ich mir nicht, es war das erste Album, das mir auf CD gebrannt wurde, von einem blauhaarigen Physikstudenten – damals ein unerhörter Vorgang, pure Science Fiction.
Danach verloren Tortoise und ich ein bisschen den Kontakt. Ich habe die Veröffentlichungen nur aus der Ferne registriert, einzelne Stücke gehört, nie komplette Alben. Nun habe ich mir spontan (und etwas übertrieben) die Reissues von Millions Now Living Will Never Die (die CD war nicht mehr auffindbar), TNT und dem mir zuvor unbekannten Standards gekauft. Auf Millions Now Living (und auch auf dem Debut Album) sind die verschiedenen Elemente dieser verkifften und sehr eigenständigen Fusion gleichmäßig austariert: Krautrock, Dub Reggae, Electronica, ein bisschen Minimal Muisc und Jazz Ästhetik. Auf TNT geht es dann etwas mehr Richtung Jazz, bei Standards verschiebt es sich ein wenig Richtung Elektronik und Post-Production, einmal scheint das Mkwaju Ensemble kurz durchzuschimmern.
Aus irgendwelchen Gründen musste ich beim Wiederhören an den Noir Film Touch of Evil denken, den ich im vorherigen Jahrhundert das letzte Mal gesehen hatte. Was für ein Film! Ein lange Sequenz zu Beginn ohne Schnitt. Unglaublich intensive Studien von Gesichtern, Schatten, Gebäuden. Ständig hintergehen sich die Charaktere, unklar bleibt, wer gut, wer böse ist. Das Ende ist immer noch unheimlich. Was der Film mit Tortoise zu tun hat? Keine Ahnung, wie mein Gedächtnis die Assoziation hergestellt hat. Lohnend aber, den Film zu schauen und Tortoise kann ich sowieso immer wieder hören.