Von der Abwesenheit der Menschen handelt die Bühnenperformance, die „No Man-Show“, STIFTERS DINGE von Heiner Goebbels, die es nun auch als rein klangliches Ereignis als CD gibt. Was hat nun der knorrige Avantgardist mit dem alten Dichter Adalbert Stifter zu schaffen, an dem sich seit jeher die Geister scheiden? Die, die ihn mögen, sehen in ihm nicht den landschaftsbesessenen Verfechter der Idylle, sondern einen, der die Dinge der Welt aufzählt, erzählt, dabei durch stetige Wiederholungen eigene Rhythmen entwickelt. Der Mensch tritt in den Hintergrund. Stifter, so finden einige, erzählt auch von der Bedrohtheit der Natur, von vorapokalyptischen Zuständen, vielleicht, wenn die Zeit reicht, lese ich Ihnen später noch was von ihm vor. Und hier setzt Goebbels an, in seiner Musik, in der erst nach einer Weile menschliche Stimmen, als Gemurmel, Dialog, Gesang und Erzählung auftauchen. Zum Beispiel Claude Levy-Strauss, William Burroughs und Malcolm X. Man bekommt Musik von Bach zu hören, auch Bachgeriesel, sowie gesampelte Eingeborenengesänge aus Neu-Guinea sowie einen griechischen Klagegesang – die Botschaft, die „message“ von all dem? Nun, Goebbels verweist auf Hitchcocks Aussage: „Wenn Sie eine „message“ haben, gehen Sie damit aufs Postamt!“ Aber natürlich hängen hier die Dinge, und nicht nur Stifters Dinge, zusammen: eine dunkle, sperrige und doch meditative Welt finden wir vor, die u.a. dem Verschwinden der Dinge der Natur nachspürt. Und die uns herausfordert, sich auf Fremdes einzulassen, das nicht gleich gebrauchsfertig serviert wird für unser weitgehend verschandeltes, abgewirtschaftetes „globales Dorf“. Und wenn Sie daheim gleich THE COAST hören, werden Sie kein Wellenrauschen hören, bis die Sängerin und Harfenspielerin Arianna Savall eine ganz andere Meeresgeschichte vorträgt. Bei Heiner Goebbels scheint die Küste ein Ort zu sein, der, wie die Sounds der automatischen Klaviere andeuten, alles Romantische abhanden zu kommen droht – man vermutet hier kalte unerbittliche Fabriken. Ich musste an Goebbels‘ neues Album denken, als ich vor ein paar Tagen in der Museumshalle Bonn die Ausstellung des Fotografen Lewis Baltz erlebte. Auch da begegnen Ihnen weitgehend menschenleere Szenarien, seltsam abstrakt anmutende Dokumente der Verdrängung der Natur. Parkplätze, trostlose Mietshäuser, runtergekommen Fassaden. Baltz‘ Fotos verbreiten diesen leisen Schauer, horror vacui, Angst vor der Leere, genannt. Fast Abstrakte Kunst mutiert zur Sozialkritik – wie bei Heiner Goebbels werden auch bei Lewis Baltz scheinbar widersprüchliche Dinge eins, zumindest für kurze Zeit. THE COAST …
1) Heiner Goebbels: The Coast, aus STIFTERS DINGE
2) Arianna Savall / Petter Udland Johansen: El Mariner, aus: HIRUNDO MARIS
Ein Lied aus dem neuen Album HIRUNDO MARIS – Chants du Nord et du sud. Hirundo maria ist der lateinsiche Ausdruck für Meerschwalbe. Verbindungslinien werden erkundet zwischen der Folklore der Nordsee, des hohen Nordens und südlichen Gefilden, Katalonien, das alte Barcelona, die Welt der sephardischen Juden, Lieder die sich auf Meereswegen verloren oder verwandeltem – solchen Pfaden folgen Arianna Savall und Petter Utland Johansen, ihnen kommen dabei auch eigene Ideen in den Sinn. Erfinderisch mit den eigenen Inspirationen geht auch das Louis Sclavis Atlas Trio um, auf der CD SOURCES. Klarinetten, E-Gitarre und diverse Keyboards, gerne auch mal das alte Fender Rhodes Piano. Der englische Jazzkritiker John Fordham macht in dem folgenden Stück SOUS INFLUENCES eine elegante französische Verbeugung ausfindig vor einem Klassiker aus den Schlussakkorden der Sechziger Jahre, Miles Davis‘ Hurengebräu BITCHES BREW. Wer es gut kennt, kann sich wohl leicht das das berühmte Cover von Mati Klarwein in Erinnerung rufen, mit all den prallen Farben, der Erotik und Exotik … „Sous influences“
3) Louis Sclavis Atlas Trio: sous influences, aus: SOURCES
4) Masabumi Kikuchi Trio: Sunrise, aus: SUNRISE
SUNRISE, das Titelstück der CD des Masabumi Kikuchi Trios. Eine besondere Pianotrioplatte. Ohne viel „hineinzugeheimnissen“ in eine der letzten Studioaufnahmen des im November 2011 verstorbenen Schlagzeugers Paul Motian: was dieser einst u.a. in den Gruppen von Bill Evans und Keith Jarrett berühmt gewordene Drummer hier an Reduktion, Klang- und Geräuschfarben realisiert, scheint eine Qualität jener „letzten Werke“ zu bezeugen, in denen Musiker ihrer ureigenen Expressivität ganz nahe kommen. Wer die Musik des Klangforschers Thomas Köner gut kennt, weiß, dass ihr schon immer ein auf Anhieb kaum wahrnehmbares Gespür für Harmonie und Melodie zeigen war. Ich kenne seine Musik wirklich gut, und habe vielleicht deshalb nicht gedacht, dass mich sein neues Werk NOVAYA ZEMLYA dermaßen tief berühren würde. Denn es ist anders, und doch ein echter Köner! Klangforschung geht bei dem gebürtigen Dortmunder stets einher mit Klimaforschung, mit der Lektüre von Tagebüchern und Erzählungen, die sich oft in arktischen und verlassen Erdzonen anspielen. Hier nun stammen seine Inspirationen aus einer weltverlorenen Gegend im fernen Russland, Novaja Semljawww, und noch nie hat man in seinem Werk die Stille so seltsam explodieren hören. Nowaja Semlja ist insgesamt knapp 900 Kilometer lang und liegt jenseits des nördlichen Polarkreises. Das Klima ist eiskalt, stürmisch und niederschlagsreich. Nur während einiger Wochen im Sommer ist die Westküste von Nowaja Semlja schneefrei. In lang vergangenenn Jahrhunderten machten viele Entdecker an der Küste Station, nicht wenige wurden vom Packeis eingeschlossen. Ab 1955 wurde Nowaja Semlja für Kernwaffenversuche der Sowjetunion genutzt. Unter anderem wurde auf diesem Gelände die sogenannte Zar-Bombe getestet, die mit 57 Megatonnen TNT-Äquivalent die die bis dahin größte gezündete Kernfusionswaffe darstellte. Die Musik von Thomas Köner ist unheimlich, die Menschen sind auch hier verschwunden, es ist eine Geistermusik, die dem Schaurigen vor Ort nachspürt und dabei – paradox genug – den Schrecken transzendiert, und mit der Zeit eine ureigene Ruhe erzeugt. Man braucht ein gutes Radio, um hier alle Feinheiten am Horizont der Hörschwelle mitzubekommen. NOVAYA ZEMLYA, Teil 1 …
5) Thomas Köner: Novaya Zemlya 1, aus NOVAYA ZEMLYA
6) Lambchop: If Not i’ll just die, aus MR. M
Alleinsein kann viele Formen annehmen, in Novaya Zemlya bei Thomas Köner, oder in einer Küche in Nashville, bei Kurt Wagner, dem Komponisten und Sänger von Lambchop, hier in dem Lied IF NOT I’ll JUST DIE, aus dem Album Mr. M. Da bereitet sich einer einen Kaffee, und stellt sich die Instrumente für einen Song vor: „Hier kommen die verrückten Flöten“, heißt es einmal, aber die kommen natürlich nicht in diesem Lied vor. Man könnte viel erzählen von Kurt Wagners Dingen. Oft beginnt er seine Lieder mit den Objekten, die vor seinen Augen liegen, allmählich entwickelt sich ein Bild, eine verknappte Geschichte. Melodielinien können jederzeit abreißen. Songs, die die Dinge genau ins Visier nehmen, und dann ins Tagträumen geraten. Das Alltägliche, das Beiläufige, das Existenzielle. Solch einen meisterlichen Umgang mit flüchtigen Momenten pflegte auch Brian Eno auf einem Album, das ich wahrscheinlich seit 1978 schon, na, dreihundertfünfundachtzig mal von vorne bis hinten gehört habe. MUSIC FOR FILMS. Man erkennt Enos Handschrift, und doch löst sich das fordernde Ego in diesen fragmentierten Stücken vollkommen auf: Sehnsuchtssoffe und manche schroffe Unheimlichkeit schleichen umeinander. Ich hatte Enos MUSIC FOR FILMS im Ohr, wirklich im Ohr, nicht als Erinnerung, als ich durch die Ausstellungsräume der Bonner Kunsthalle ging und die unerbittlichen Bestandsaufnahmen aus dem Amerika der Sechziger Jahre sah. Mit der Musik im Ohr, die die Geräusche ringsum vollkommen ausschließt, fühlt man sich in einem leicht unwirklichen Zustand, selbst da, wo, bei den Bildern, die Lewis Baltz am Flughafen von San Francisco schoss, einen schon das Gefühl vom Ende der Welt beschleichen kann. Na dann, gute Nacht, das war eine Stunde mit lauter guten Bekannten und guten Unbekannten, und Michael Engelbrecht am Mikrofon. Aus Enos MUSIC FOR FILMS stammt die Musik am Ende dieser Stunde. Umd hier noch ein paar Zeilen, wie eingangs angekündigt, von Adalbert Stifter: „Ich rastete, betrachtete die Dinge, die da waren, als: die Wägen, welche abgeladen unter dem Schoppendache ineinandergeschoben standen, die Pflüge und Eggen, welche, um Platz zu machen, in einem Winkel zusammengedrängt waren, die Knechte und Mägde, die hin und her gingen, ihre Samstagsarbeit taten, und sich zur Feier des Sonntages rüsteten; und die Dinge gesellten sich zu denen, mit denen ohnehin mein Haupt angefüllt war, zu Drillingsföhren, Toten und Sterbenden und singenden Vöglein.“
7) Brian Eno: Sparrowfall, 2 & 3 aus MUSIC FOR FILMS