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Archives: Miles Davis

Kongreßsaal – so darf man das seit 1996 nicht mehr schreiben. Duden empfiehlt „Kongresssaal“, lässt aber auch „Kongress-Saal“ zu („Konzert-Saal“ dagegen ist ein orthografischer Fehler). Mir sind drei s in Folge zuwider. Ich bin da nicht allein, wie man auf diesem Ticket aus dem Jahr 1977 erkennen kann.
 
 
 

 
 

Ohne besondere persönliche Gründe gäbe es keinen Anlass, vom KONGRESS-SAAL IM DEUTSCHEN MUSEUM zu berichten. Dieser einst bedeutende Konzertsaal ist – man muss es so sagen – heruntergekommen. Vor wenigen Tagen war ich in München, an einem kühlen sonnigen Frühlingstag. Wir machten einen ausgedehnten Spaziergang, Wege, die ich zur Zeit meines Studiums und die Jahren danach oft gegangen bin: Musikhochschule, Brienner Straße, durch den Hofgarten an der Residenz vorbei, die den Herkulessaal beherbergt. Entlang der Isar gelangt man zum Gasteig, dann sind es nur ein paar Schritte und ich stehe vor den verschlossenen Türen des Kongreßsaals. Wenn ich an diesen Orten vorbei schlendere tauchen Erinnerungen an fantastische Konzerte auf. Den mächtigsten Eindruck hinterließ der Auftritt des Miles-Davis-Septets im Kongreßsaal des Deutschen Museums im Herbst 1971. Am Osterwochende brachte Ö1 den Mitschnitt des Auftritts dieser Band vom 5. November 1971 in Wien – ein weiterer Finger auf … nein, nicht eine Wunde, eher auf eine erogene Zone.
 

Hauptsächlich ging es mir gar nicht um Miles Davis, sondern um Keith Jarrett. Seit ich ihn auf Forest Flower gehört habe, bin ich unheilbar infiziert. Jetzt konnte ich ihn zum ersten Mal live hören, es war atemberaubend, natürlich nicht nur seinetwegen, sondern auch wegen der brachialen Energie, welche das Miles-Davis-Septet verstrahlte. Wir saßen vorne links in der ersten Reihe.
 
 
 

 
 
 

Ein paar Reihen hinter uns waren noch besetzt, dann gähnende Leere. Ich schätze, es waren circa 500 Besucher im Saal, der an die 2500 Plätze bot. Keine fünf Jahre früher habe ich im Kongreßsaal das Dave-Brubeck-Quartet und das Oscar-Peterson-Trio gehört – volles Haus! Vielleicht hatte Miles Davis mit Bitches Brew sein altes Publikum (zumindest in München) verschreckt.
 

Während jener Tournee spielte die Miles-Davis-Group häufig zwei Konzerte an einem Abend, die um 19 und 22 Uhr begannen. Wir hatten Tickets für die 19 Uhr Vorstellung. Nach dem ersten Auftritt kam ein Mitarbeiter des Veranstalters auf die Bühne und bot allen im Saal an, mit der 19 Uhr Eintrittskarte zur 22 Uhr Vorstellung zu kommen. Dafür seien noch deutlich weniger Plätze verkauft worden, das wäre ja ein Affront den Musikern gegenüber. Klar, wir blieben.
 

Ich musste nach beiden Aufführungen noch zurückfahren, bis nach Kronach, und bin wohl gegen 4 Uhr morgens ins Bett gekrochen. Am Vormittag war Schultag. Ich wohnte zur Miete bei einer Familie, deren Sohn Werner – er wurde ein guter Freund von mir – Schüler in der Abiturklasse war. Nachmittags schwärmte ich vom Erlebnis des Vorabends, offenbar eindrücklich. Denn als ich anfügte, das Miles-Davis-Septet spiele diesen Abend zu Frankfurt-Hoechst in der Jahrhunderthalle meinte er, man solle unbedingt dorthin fahren. Ich sei dazu wegen Schlafmangels nicht in der Lage sagte ich und lehnte ab. Werner rief seinen Freund Wolfgang an, der seit ein paar Wochen den Führerschein besaß. Er war bereit zu fahren, ab 18 Uhr – er leistete Zivildienst. Telefonische Kartenreservierung, kurz vor 22 Uhr trafen wir in der Jahrhunderthalle ein.
 

Innerhalb von 30 Stunden dreimal das Miles-Davis-Septet live hören – das muss man erlebt haben! Wolfgang hat uns in meinem VW-Käfer, der 2 Jahre später im Oktober 1973 verendete, sicher chauffiert.

Das neue Werk von Arve Henriksen erscheint am 22.8.2014 bei Rune Grammofon – Streichinstrumente umgeben das Spiel des Trompeters und Multiinstrumentalisten. (Bin sehr gespannt, habe noch keinen Ton gehört.) Also kurz vor dem 10. Punktfestival in Kristiansand, und eine Woche nach meiner nächsten Radionacht “Klanghorizonte” am 16. August, wo ich die Platte vorstelle. NATURE OF CONNECTIONS. In einer Cafepause in Lugano (bei einer ganz anderen Produktion) sassen wir zusammen, und Arve sprach über die dünne Grenze zum Replikantentum. Wie leicht man, egal, wie eigen sich ein Ton anfühlt, im Trompetenraum eines anderen landen kann, sei es Davis, sei es Hassell.

Drum hat er ja auch jüngst ein Doppelalbum vorgelegt, das bewusst abseitige Pfade erforscht, und in elektronischen Sphären jenseits des Virtuos-Gehandhabten die Trompete nur ausgewählte Schattenstellen heimsucht. Ich nannte es spasseshalber sein “Sun Ra-Album”. Ulrich Kriest hat dem Opus in der Jazzthetik fünf Sterne gegeben, einen zuviel für mein Empfinden, aber dank des Antriebs der Grenzöffnung auch wiederum verdient.

Ein 5-Sterne-Album reinsten Wassers wird in unabsehbarer Zukunft (jede Wette, Frühjahr oder Herbst 2015) bei ECM erscheinen, das Debut des armenischen Pianisten Tigran Hamasyan, der bislang jazzspezifisch zu lange den Bebop-Fallen seines Lehrers erlegen war, und auch im Bereich der Multi-Kulti-Musik keine Bäume ausriss. An seiner Seite Jan Bang, Arve Henriksen, Eivind Aarset. Drei alte Freunde, die nie die Grenzfelder aus dem Sinn verlieren, das Duo Aarset-Bang schlägt mit “Dream Logic” (ECM) nach wie vor in Bann. NATURE OF CONNECTIONS. Und alle befinden sich im kreativen Höhenflug auf Jan Bangs fiebrig-leisen Meditationen, betitelt “Narratives from the Subtropics”, die jetzt auch offiziell den deutschen Handel erreicht haben.

Flashback: in Lugano war die Abmischung in den letzten Zügen. Das interessante Doppelmikrofon, vor dem Arve seine Trompete zum Einsatz brachte, ist auf dem Foto unten abgebildet. Manfred Eicher war hochkonzentriert, er wusste, dass da etwas letztlich Unplanbares Gestalt annahm, ein “Instant Classic”. Einmal eröffnete Arve eine Komposition mit einem Solo. Er selbst war schon auf dem Weg zum Flughafen, da meldete sich Jan Bang zu Wort, und befand, dass das Intro etwas zu lang sei, und einen Hauch zuviel von Jon Hassell verströme. Daraufhin liessen Manfred und der seelenruhig agierende Toningenieur das Solo einfach mal untertauchen in den ominösen Soundnebeln, die Eivind Aarset heraufbeschwor.

Die Trompete verlor so ganz und gar ihre Dominanz, glänzte lediglich durch Abwesenheit, bis sie sich langsam aus dem Nichts ans fahle Licht herantastete.

Die Wirkung war immens. Arve wird nicht böse sein, wenn er das hört. That’s what friends are for! NATURE OF CONNECTIONS. Noch eins: ich wünsche mir für Tigrans Cd oder Doppel-Cd ein vielfarbiges Cover, etwas, das auf Anhieb einen visuellen Sog entfaltet, wie einst die vier Luftballons auf Keith Jarretts Meilenstein “Belonging”. Bitte kein Dunkelblau mit einsamem Lichtrahl in der Nacht!

 
 
 

 


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