Man stelle sich eine uralte Maschine vor, deren feines und unergründlich komplexes Räderwerk ineinandergreifend seit Urzeiten alle klanglichen Möglichkeiten erschöpfend abzubilden in der Lage ist. Die im Zusammenwirken all ihrer Teile war vielleicht schon immer in der Lage die Gegenwart mit all ihren Optionen zu lesen und die zukünftigen Manifestationsmöglichkeiten präzise vorherzusagen. Eine solche Maschine wurde vor einigen Jahrzehnten im ägäischen Meer gefunden und unzählige Wissenschaftler rätseln noch heute über ihre Funktionen. Bei einigen weiß man, dass sie Sternkonstellationen und Sonnenzyklen wahrscheinlich für Jahrtausende im voraus genauestens abbilden kann, bei anderen rätselt man mit heißen Köpfen grübelnd weiter. Antikythera heißt diese Maschine, benannt nach ihrem Fundort. Angenommen sie würde Musik abbilden, all die unendlichen Variationen, die die menschliche Kultur seitdem hervorgebracht hat, vom klagenden Hauchen der Panflöte in der Hitze des mediterranen Mittags, dem hohlen Pfeifen der Knochentrompete der Eskimos, den Eingeweide aufwühlenden Schlägen japanischer Taiko-Trommeln, dem Zirpen eines Cembalos als Begleitung barocker Schreittänze, der verwirrendenden Heftigkeit und Komplexität der nachklassischen Orchestermusik zu den astralen Klängen eines präparierten Klaviers und all ihre Kombinationen und vor allem, was da noch kommen mag. Gregor würde es vielleicht eine universale Jukebox nennen. Man trifft die Wahl, drückt die entsprechende Taste und dann geht alles ganz leicht: Antikythera, eine Jukebox am Ende des Universums.
“Meine Idee war, die Musik, die wir improvisierten als eine komplexe Maschine zu betrachten und das funktionierte perfekt und flüssig. Eine Maschine aus der Vergangenheit, die aus vielen verschiedenen Teilen und Zahnrädern besteht und in der Lage ist die Gegenwart zu lesen, die Zukunft vorherzusagen und in der Lage ist das Unbekannte zu betrachten und nützliche Dinge darin zu finden“ beschreibt Lorenzo Feliciati den Entstehungsprozess seinen neuen Albums Antikythera zusammen mit dem Drummer und Perkussionisten Michele Rabbia, von dem wir dieses Jahr ja schon ein phantastisches Album zusammen mit Eivind Aarset und Gianluca Petrella zu hören bekommen haben: Lost River.
Über mehr als zwei Jahre ist in regelmäßigem Zusammenspielen und einem aufwändigen Postproduktiosprozeß der beiden Musiker ein facettenreiches und tiefgründiges wie atmosphärisch dichtes Album entstanden, auf dem zu den Klangfarben Elektrischer Bässe und Gitarren, Drums und Electronics die Unterstützung vieler hervorragender Gastmusiker, wie Andy Sheppard, Cuong Vu, Rita Marcotulli, Alessandro Gwis und Roy Powell zu hören ist. Im Opener Irregular Orbit wird die mysteriöse Maschine durch ein sich langsam entwickelndes Thema aus dem mystischen Urgrund gehoben, um dann in 223 Teeth (die Anzahl der Zahnräder des größten Rades der antiken Maschine) zu einem Ostinato auf einem präparierten Klavier mit dem Saxophon Andy Sheppards auf eine andere Ebene gehoben zu werden. Corrosion zeigt Rabbia als meisterhaften Klangkünstler an den Becken, schwebend und fast irreal. Auf den beiden nächsten Stücken steht der warme Trompetenton Cuong Vu‘s über den komplexen Klanglandschaften und darauf folgend Allesandro Gwis zarte Klavierklänge und elektronische Verfremdungen. In Apogee kommen eine unheilvolle Hammondorgel und Synthesizer von Roy Powell dazu und schließlich kommt das Album mit dem sanft schwingenden Parapegma, wieder mit Andy Sheppard ganz wundervoll zur Ruhe. Die kosmische Jukebox aber läuft weiter, in meinem Kopf und irgendwo im Unfassbaren, aus dem vielleicht zu gegebener Zeit wieder solch ein wunderbar alchemistisches Meisterwerk zwischen allen Stühlen geboren wird, während sich das langsame Drehen der großen Spiralgalaxien im Hintergrund des ewigen Maschine fortsetzt. Prädikat extrem hörenswert!