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Archives: Michel Serres

2016 30 Aug

Der reine Blick

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Auf das Buch Die fünf Sinne („Les cinq sens – Philosophie des corps mêlés“) von Michel Serres greife ich stets gerne zurück. Die deutsche Erstausgabe kaufte ich am Tag der Erscheinung. Sie markiert meinen damaligen Neuzugang zu Sprache, Lektüre und Denken: nicht der Inhalt (die message) ist vorrangig wichtig, sondern der spielerische Umgang mit den Wörtern, Sätzen, Gedanken – die Textur, die sich daraus ergibt. Es war damals auch eine Art Befreiung vom „Botschaftswahn“. In dem Kapitel Heilung in Epidaurus schreibt Serres über die Bedeutung und Macht der Stille. In dem Kapitel Hermes und der Pfau schreibt er über das Sehen. Die mythische Gestalt Panoptes betritt die Bühne:

 

„Argus, der Mann, der alles sah, hatte, so sagt man, zwei Paar Augen, das eine, wie jedermann, vorne im Gesicht, das andere im Hinterkopf. So gab es keinen toten Winkel. Andere sagen, er habe hundert Paar Augen gehabt, fünfzig vorne und fünfzig hinten, während wieder andere von unzählig vielen Augen sprechen, mit denen seine Haut übersät gewesen sei. Wo am Anfang der Überlieferung noch bloßer Klarblick stand, da wird am Ende einer phantastischen Steigerung der reine Blick, ein Augapfel aus lauter Augen, eine mit Augen tätowierte Haut daraus. (…) Argus sieht immer und überall. (…) Halb schläft er, halb wacht er; der beste aller Wächter im Himmel wie auf Erden hat seinen Beinamen verdient: Panoptes, der Allsehende.“

2015 15 Nov

Die Musik und wir

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Zitate aus dem Merve Bändchen Musik von Michael Serres:

 

„Wer zur Schönheit gelangen will, kommt an Musik nicht vorbei.“ (S.23)

 

„Nichts existiert ohne den Rhythmus.“ (S.25)

 

„… im Leben und durch den Körper des Reisenden, der auf seinen Etappen umherirrend auf sich selbst hört, weil er über sich nachdenkt: ūber seinen eigenen, einzigartigen Körper. Kein Körper ohne vielfältige Rhythmen: keine Musik, ohne Rhythmus.“ (S.64)

 

„Zum Leben geboren: in Musik eintreten.“ (S.66)

 

„Es gilt sich zum Musiker zu machen, um seinen Körper besser zu bewohnen, um sein Leben besser zu leben, um endlich seinen eigenen Status des in-der-Welt-Seins einzufordern.“ (S.69)

 

„WAS HABEN WIR HEUTE ALLE NOCH GEMEINSAM? DIE MUSIK.“ (S.71)

 

„Hast du mich abgewiesen, weil ich dich taktlos berührt habe? Würdest du die Musik meiner vitalen Intensität hören, deren Summe in dem einen Ton liegt, dann würdest du mich verstehen. Würdest du mich aufgrund dieses Umstands lieben?“ (S.93)

 

„Die Musik ist ein Meer, in das die Individuen und ihre Emotionen eintauchen, das Musikmeer, dessen akustische Wellen das Universum überrollen und das des Sinns einläuten, noch bevor irgendjemand seinen Ausdruck findet, den Weinenden tröstet und demjenigen vor Freude das Herz aufgehn lässt, der lobpreist …“ (S.167)

„Schlagen Sie sich seitwärts. Behalten Sie die wiedererkennbare Methode oder die Methoden in der Hinterhand, für den Fall, dass Krankheit, Mißgeschicke oder Ermüdung Ihnen zu schaffen machen; aber begeben sie sich wieder auf die Wanderung. Erkunden Sie den Raum wie eine Fliege, die durch die Luft schwirrt, wie ein Hirsch, den das Gebell aufschreckt, wie ein Spaziergänger, den die an den komfortablen Plätzen umherstreifenden Wachhunde immer wieder vom gewohnten Weg abbringen. Sehen sie sich Ihr eigenes Elektroenzephalogramm an, das in alle Richtungen ausschlägt und über das Blatt Papier streift. Irren Sie umher wie ein Gedanke, lassen Sie Ihren Blick in alle Richtungen schweifen, improvisieren Sie. Die Improvisation setzt den Gesichtssinn in Erstaunen. Sehen Sie in der Unruhe Reichtum, in der Sicherheit Armut. Verlassen Sie den Gleichgewichtszustand, die sichere Spur des Pfades, streifen Sie über die Wiesen, von denen die Vögel auffliegen. Im Französischen gibt es einen Ausdruck dafür: débrouillez-vous, befreien Sie sich aus dem Gewirr, sehen Sie zu, wie Sie zurechtkommen. Der Ausdruck unterstellt einen verwirrten Strang, eine gewisse Unordnung und jenes vitale Vertrauen in das Unerwartete, das für Naive, Einzelgänger, Verliebte oder Ästheten typisch ist, bei voller Gesundheit.“

 

Der obige Textauszug stammt von Michel Serres, aus seinem Werk Die Fünf Sinne – für mich einst grundlegende, inspirierende Lektüre, um der Psychologie den Rücken zu kehren und die Liebe zur Philosophie zu entdecken – vielleicht auch deshalb, weil philosophische Texte einerseits um Sinnstiftung bemüht sind, ihnen aber auch etwas Spielerisches innewohnt und sich die Philosophie entdecken lässt wie eine Landschaft. So wirkt auch Michel Serres´ Schreibstil: man kann seine Texte auch als Ermutigung zum Selber-Schreiben und Selber-Denken lesen, so wie der Leser ja auch selber wandert und umherschweift, sich Gedanken macht. In tentativen Sätzen und Beschreibungen versuchsweise sich herantastend, offenlassend, andeutend, in einer Mischung aus Klartext und Poetik, fein gewoben und von ganz eigenem ästhetischen Reiz: das ist genau der Stoff, aus dem kontrollierte Ekstasen sind.


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