Geraldine Gutiérrez-Wienken zur Entstehung des Buches:
Im August 2017 fuhr ich nach Frankfurt zu Martina Weber zur Besprechung unserer Übersetzungen der Gedichte von Ángeles Mora. Wir arbeiteten bereits seit einigen Monaten an einer Textauswahl der spanischen Lyrikerin mit der Absicht, sie in einer Zeitschrift zu veröffentlichen. Martina bereitete einen Sommertee vor, während wir uns über Teesorten, Lesungen und Lyrik austauschten. Wir begannen mit dem Gedicht „Veranos – Sommers“ und breiteten unsere Unterlagen auf dem Couchtisch aus. Wir arbeiteten so, dass ich die Gedichte Wort für Wort aus dem Spanischen übersetze, Martina an diesem Text feilte, um ihn in eine poetische Form zu bringen, und wir dann gemeinsam weiterarbeiteten. Es ist eine Bewegung, die etwas davon hat, sich vorzuwagen und sich dann wieder rück-abzusichern. Da es ein sonniger Nachtmittag war, schlug Martina vor, eine Radtour zu machen und die Arbeit im Park fortzusetzen. Sie sagte, sie hätte ein Fahrrad für mich, ihr Ersatzrad, ein Faltrad. Mir gefiel die Idee. Martina füllte den Tee in eine Thermoskanne und wir fuhren los. Ich war gespannt, wohin es gehen würde, denn sie hatte mir immer wieder von ihren Radtouren im Park und am Fluss entlang vorgeschwärmt. Der Park war riesig. Wir suchten eine Holzbank im Halbschatten auf. Dort sprachen wir über (unsere) Kindheit, Kinderspiele, die Angst der Kinder sowie über die Siesta, Sitten und Bräuche der Spanier. Martina wollte genau wissen, wie der Wagen, der im Gedicht skizziert wurde, aussah und wie das lyrische Ich darauf stand. Ich führte Martina vor, wie sich das kleine Mädchen (das lyrische Ich) auf dem Holzwagen bergab bewegte. Wir lachten vor Begeisterung und Martina erkannte sofort an der Poesie der Ángeles Mora ihren Mut und ihre Frische. Und das schönste war ihr Vers „Ich bremste nie“ (nunca frené). Dieser Vers verwandelte sich nun in eine Art Pfad für unsere gemeinsam übersetzte Publikation von
Ángeles Mora: “Spiegel der Spione | Espejo de los espías“.
Aus dem Spanischen von Geraldine Gutiérrez-Wienken und Martina Weber.
Satz und Design: Eddy Rafael Reinoso.
Grafik: Josefina Wolf. Josefinawolf.com
hochroth Heidelberg 2019.
Und wer hätte es vor zwei Jahren gedacht, dass diese Publikation auch noch in der von mir gegründeten Verlagsdependance hochroth Heidelberg erscheinen würde.
Veranos
Siempre busqué el valor en los brazos del miedo.
En la siesta de la niñez sonaban,
al fondo de la casa, en el bochorno de la tarde,
voces entrecortadas, ecos de los mayores,
restos de conversaciones
dormidas
sobre las mecedoras.
Mientras tanto,
en la orilla de la siesta,
los críos escapábamos
al fuego de las calles.
Entre gritos compartíamos
un carro de madera deslumbrante
―mi caballo de adioses―
que bajaba la cuesta solitaria
chirriando sus ruedas metálicas,
abriéndose en la tarde pegajosa,
audaz, acelerado.
Yo me agarraba fuerte al manillar o a las bridas,
con el corazón en la boca.
Pero nunca frené. Sabía que al final,
en el llano, las ruedas locas calmarían su afán
y se detendrían justo allí,
donde las casas abren sus portales de sombra.
Para que al fin me alzara sobre mis piernas flacas,
temblorosas.
En medio de la calle.
En los brazos del miedo.
Sommers
Immer schon, wenn die Angst mich umklammert,
hab ich versucht, mutig zu sein.
In der unendlichen Siesta meiner Kindheit
im Inneren des Hauses, während der Schwüle der Abende
summten zögernde Stimmen, Echos der Älteren,
Fragmente schlaftrunkener
Konversationen
aus Schaukelstühlen.
Auf der anderen Seite dieser Siesta
flüchteten wir, die Kleinen,
raus auf die Straße, rein ins Gewühl.
Alle zusammen auf einem bombastischen Wagen
aus Holz – mein Pferd – ich hielt mich am ruckelnd
vibrierenden Lenker oder am Zaumzeug, und tschüss!
auf metallenen Rädern, runter auf einem einsamen
Hang, mein Herz
fiel in meine Hosentaschen, wir rutschten
in die Schwüle eines Abends.
Ich bremste nie. Ich wusste, irgendwann
würden die Räder, durchgedreht wie sie waren,
ihre Begierde stillen, und in der Ebene exakt
an der Stelle stoppen, wo Häuser
ihre Schattenportale öffneten.
Dann endlich würde auch ich aufrecht stehen, einfach nur
da sein, auf dünnen zittrigen Beinen. Inmitten
der Straße. In den Armen der Angst.
Im »Spiegel der Spione« verknüpft sich die persönliche Geschichte mit der kollektiven. Die Gedichte der spanischen Dichterin Ángeles Mora zeigen, dass das freie Ich eine Falle ist. Die Liebe spiegelt das Unbeständige und Widersprüchliche des gemeinschaftlichen Lebens und der Historie. Ángeles Mora zählt zur literarischen Bewegung »der anderen sentimentalen Bildung« (La otra sentimentalidad), die in Granada in den 1980er Jahren entstanden ist und nach der Aktualisierung des Petrarca-Liedes, der romantischen, ätherischen oder ahistorischen Form der Liebe strebte.
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