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Archives: Literatur&Musik

“Complexities / Treachery / We watch through glass / We see nothing” (Tindersticks)

Er sammelt Stille, die längsten Pausen in den Songs der Rockhistorie, „Roxanne“ ist weit vorne. Das ärgert seinen Vater. Später begeht der Sohn Selbstmord; es genügte ihm nicht, Stille zu sammeln. Nicht alles ist so tragisch, obwohl vieles traurig ist, im neuen Roman von Jennifer Egan. Aber auch komisch. Und dann wieder herzerweichend. Auch habe ich dem möglichen Leser in den ersten Sätzen nicht viel verraten. DER GRÖSSERE TEIL DER WELT ist ein Puzzle aus 13 grossen Kapiteln, eins davon ist als Powerpoint-Demonstration getarnt. Wir landen in einer Zukunft, die wir alle noch nicht erfahren haben, und die erzählte Zeit, die hier ein sehr dehnbarer und durchlässiger Stoff ist, reicht zurück bis ins Amerika der späten 70er Jahre. Jennifer Egan war selbst ein spätes Hippie-Mädchen, aber sie konnte das Gespür der Punks für Umbrüche bestens nachempfinden. Und so lernen wie die Flaming Dildos kennen, mit ihrem Gitarrenzauberer Scotty (der als Teenager zu lange in die Sonne schaut, später Hausmeister wird und Fische angelt, und die Welt versuchsweise in Nullen und Einsen auflöst), sowie den unglücklich verliebten Bassmann Bennie, der später gross rauskommt im Rock-Business. Der Roman springt zwischen den Zeiten und Figuren, aber seltsamerweise zerfällt das Buch nicht bei der Lektüre in lauter unverbundene Einzelteile. Man könnte sich bei der Vorstellung des Romans verlieren in tausend Episoden. Wer einmal eingetaucht ist in dieses permanent den Tonfall, die Zeit und die Glückszustände wechselnde Erzählwerk, wird auch davon berichten wollen, denn hier wird einem, in enormer Kurzweiligkeit, mit glänzendem Humor und tottrauriger Prägnanz, das Leben als kurzer schneller Fluss präsentiert, und wer zweimal in den gleichen Fluss springt (in den schmutzigen East River etwa), bleibt eben doch irgendwie derselbe. Jennifer Egans Schreibstil hat zwar etwas Sezierendes, eine gewisse Unterkühltheit – doch zugleich, egal, wie paradox das erscheint, verrät sie nie ihre Figuren, lässt ihnen Luft zum Suchen und Lieben und Vögeln und Atmen und Träumen und Selbsterkennen. Die episodische Erzählstruktur ist natürlich nichts Neues, man denke an den Film SHORT CUTS von Robert Altman, man denke an Romane, die bestens geübt sind in verrücktesten Zeitsprüngen. Gelungen ist dieses Buch eben auch, weil keine postmoderne Romantheorie durchexerziert wird. An Theorien ist Jenniger Egan nur interessiert, wenn ihre Figuren sie sich zu eigen machen. Diese Theorien heissen dann Lebenslügen. Wie das Fremde einem ganz nahe kommt, und das ganz Nahe fremd wird, auch davon erzählt dieses Buch. Ein rauschhaftes Leseerlebnis!

 
 
 
Der größere Teil der Welt
 

2012 3 Jan

Gegen die Welt

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Jan Brandt veröffentlichte im Sommer 2011 sein 927 Seiten starkes Buch Gegen die Welt. Es ist Brandts Erstlingswerk, ein unglaubliches Buch, ein fantastisches Buch. Es geht um die Welt des Daniel Kupers, geboren Mitte der 70er Jahre in einem kleinen Ort, Jericho, in Ostfriesland. Am Ende der ersten Klasse, 1983, beginnt der Roman mit der Erzählung von Daniels Kindheit. Das Buch endet 2010 in einer ganz anderen Welt als der, die uns Brandt, detailverliebt bis ins Letzte, vor uns ausbreitet: die Welt der achtziger und neunziger Jahre. Kein Auto wird genannt, ohne nicht gleich auch dem Leser das Baujahr und die PS-Zahl zu verraten. Kein Einzelhandelsladen geht zugrunde, ohne dass nicht der Leser auch gleich erfährt, wer denn die Aldis, Lidels. KIKs oder Schleckers sind, die den leeren Raum einnehmen. Wer mehr über die Detailverliebtheit Brandts erfahren möchte, dessen Wissbegier wird auf www.gegendiewelt.de erschöpfend gestillt.

 
 
 

 
 
 

Daniel Kuper kommt in seiner Jugend nicht klar mit dieser Welt und die Welt, seine nächste Umgebung, erst recht nicht mit ihm. Aber in dieser von Brandt beschriebenen Welt stimmt sowieso einiges nicht und das hat nicht unbedingt mit einer Kleinstadt in Ostfriesland zu tun, die Orte und Schauplätze sind austauschbar. Während des Lesens dieses wunderbaren Buches kam mir Musik in den Kopf, nicht unbedingt Musik von einer der 71 im Buch genannten Bands / Musiker, nein, Musik von von Asmus Tietchens, genauer, von dessen Platte: Das Fest ist zu Ende. Aus. Auf dieser ausgewöhnlichen CD, erschienen 1994,  fasste Tietchens einst seine Jugend zusammen. Stets mit dem Cassettenrecorder unterwegs, hat er aufgenommen, was das Zeug hält, kilometerlang Bandmaterial gesammelt. Die Essenz dieser Aufnahmen mit Klängen bearbeitet, ergibt Das Fest ist zu Ende. Aus.

Der CD ist ein Heft beigelegt, auf dessen Rückseite Tietchens ein Zitat aus dem Buch „Der zersplitterte Fluch“ von E.M.Cioran wiedergibt: „In jeder Altersstufe entdecken wir, daß das Leben ein Irrtum ist. Nur mit fünfzehn Jahren bedeutet dies eine Offenbarung, in der ein Angstschauer und ein Hauch Magie mitschwingen. Mit der Zeit schlägt diese Offenbarung, degeneriert, in eine Binsenwahrheit um. Und so trauern wir dem Alter nach, in dem sie eine Quelle von Unvorhergesehenem war.“ Ja, und das könnte auch ein Kommentar sein zu dem Buch von Jan Brandt „Gegen die Welt“ sein.


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