„Oh, my brain, it´s
Lately started throbbin, and
Now and then, it´s also uh, squirmin too …“
Der fiktive Countrysänger Droolin’ Floyd Womack, der in Maxines Autoradio singt, bringt es auf den Punkt: Um Bleeding Edge folgen zu können, muss das Hirn pochen und sich winden. Das ist herausfordernd, interessant und an vielen Stellen auch höchst amüsant, hat aber insgesamt den Charme eines Zeit-Kreuzworträtsels: Das Enttarnen spitzfindiger Verklausulierungen wird direkt mit passenden Lösungen belohnt. Findet man keine passende Lösung, bleiben die Kästchen halt frei. Bleeding Edge ist niveauvolle Unterhaltung für den Augenblick, nachhaltig ist es jedoch nicht. So gesehen ist mein erster Pynchon für mich am Ende doch eine Enttäuschung: Ein durchaus beeindruckendes Leseerlebnis, von dem aber nichts nachhallt. Wobei sich auch meine anfängliche Bewunderung für Pynchons akribische Recherchen und sein gezieltes fortwährendes Durchbrechen traditioneller Erzählstrukuturen (wie abrupte Brüche des Handlungsstrangs, Perspektivwechsel, seitenlange Sätze mit stakkatohaften Abschweifungen etc.) nach und nach in Ungeduld verwandelt hat. Stehe ich vor meinem Bücherregal, sehe ich dort auch einige Freunde, die mich schon jahrelang begleiten. Bleeding Edge ist kein Freund.
Thomas S.
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Jetzt bietet sich endlich eine gute Gelegenheit, mit einem Missverständnis aufzuräumen: ich bin kein Psychologe vom Grundberuf, sondern Pädagoge – dies nur, weil sich die Bemerkungen gehäuft haben, was man als Psychologe alles bestimmt wisse. Ist wahrscheinlich nicht so, vermute ich als Nicht-Psychologe. Ich begebe mich nun sozusagen fachfremd auf das Terrain der Statistik, um ein paar Erfahrungen beim heiteren Parallellesen zu untermauern.Zuerst sei angemerkt, dass genau 50 % der Leser die Lektüre des Buches mit einem Ausruf „geschafft!“ beendet haben. Dabei ist nicht klar, ob sie es geschafft haben, geschafft sind oder beides. Immerhin beträgt die Abbruchquote bei den offiziellen Parallellesern nur 20 %; von den bekennenden Schwarzlesern haben exakt 100 % aufgegeben. Daraus kann man schließen, dass die soziale Komponente eine Rolle spielt, wenn es um das Durchhalten geht. Man möchte nicht als Feigling dastehen, oder man möchte die anderen nicht mit dem dicken Buch allein lassen, oder man mag das Buch wirklich und hofft bis zum Schluss, die anderen doch noch überzeugen zu können. Circa 75 % der Leser (pro Runde) sammelten daher engagiert besonders gut gelungene Szenen im Buch, so ähnlich wie man Pilze sammelt. Und auf die acht Runden gerechnet kann man durchaus verifiziert behaupten: kein Körble ist ganz leer geblieben!
Wolfram G.
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Ein eindeutiges Fazit aus zwei Monaten mit Bleeding Edge? Geht nicht. „Anstrengend, mit Lichtblicken“ würde dem Leseerlebnis nahe kommen. Ohne das Parallellesen hätte ich den Roman irgendwann zur Seite gelegt und nicht wieder angefangen, doch hat sich das Lesen gelohnt. Mein Eindruck ist, dass alle Mitlesenden das Buch mit einem erleichterten „geschafft“ geschlossen haben – nicht notgedrungen negativ, von Euphorie jedoch weit entfernt.
Spannend fand ich die Stellen, an denen Pynchon Entwicklungen zurückverfolgt ins Jahr 2001; es gibt z. B. Passagen über die Zukunft des Films (youtube), das Internet (haben wir letzte Woche glaube ich alle zitiert) oder Smartphones – Auswüchse der Gegenwart im keimhaften Zustand gezeigt. Interessant, und ein bisschen klugscheißerisch.
Klugscheißertum wird in „Bleeding Edge“ ohnehin mit Großbuchstaben geschrieben. Thomas Pynchon weiß über alles Bescheid – Musik, Kommunikation, Film und Fernsehen, Wirtschaft und Finanzen, Politik und Geschichte, usw. Der Roman ist so randvoll mit Wissen gepackt, dass es unmöglich scheint beim „normalen“ Lesen den Überblick zu behalten, den Wald vor lauter Bäumen zu sehen – ein Statement für sich. Ganz zu schweigen von den diversen Fälschungen, z.B. Filme, die es nicht gibt.
Notgedrungen geht die Handlung in diesem Wald etwas verlorenen. Wobei nicht nur die vielen Informationshäppchen – die wie Links quer über den Text verteilt darauf warten angeclickt zu werden – ein Verfolgen der Handlung erschwerten. Auch die vielen Personen (deren Schicksal mich über weite Strecken kalt ließ), die abrupten Szenenwechsel („jump cuts“) oder die vielen Löcher in der Erzählung taten ihr übriges. Die Lektüre vergnügte als intellektuelle Achterbahnfahrt (ja, das viele Wissen hat durchaus seinen Charme), berührte aber kaum.
Insgesamt hab’ ich das Gefühl, ein eher mäßiges Buch eines großen, schwierigen Autors gelesen zu haben. In den 90ern hab’ ich zwei Anläufe gemacht, Pynchon zu lesen, doch sowohl V als auch Vineland waren mir damals zu zäh. Jetzt stellt sich mir die Frage: soll ich es noch einmal versuchen. Und wenn ja: was würde mich packen – hat jemand einen Tip?
Vielen Dank an Michael und Jochen für Idee und Umsetzung und an die Mitlesenden … fürs mitlesen. Gute Idee einen Roman einmal so zu lesen, bin schon gespannt, wie viel in den Synapsen kleben bleibt.
So, jetzt hoffe ich auf den Gewinn: ich will mir die Weihnachtsfeiertage mit True Detective versüßen :-) !
Olaf W.
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Zunächst: Bleeding Edge ist ein klassischer Pynchon: Es ist eine Freude, eine Lust, dieses Buch zu lesen; es ein Buch voller Rätsel, mit dem man sich lange Zeit beschäftigen kann, um alles in seiner Tiefe zu verstehen, aber man hat auch viel Gewinn beim Lesen, wenn man nicht immer folgen kann, sondern über das eine oder andere hinweg liest; es ist ein Buch mit einer Handlung, wir begleiten eine uns inzwischen lieb gewordenen Maxine Tarnov, aber die Handlung ist eigentlich gegenüber dem, was sonst geschieht und gesagt wird, zweitrangig und es ist ein Buch, in dem es um etwas geht, es hat eine Botschaft. Evgeny Morozov von der FAZ meint: „So kann es denn kaum überraschen, wenn Pynchon, der bekannt dafür ist, dass er die Öffentlichkeit meidet und sich nicht fotografieren lässt, entschieden für Anonymität und Unsichtbarkeit eintritt – zur Hölle mit Google und der NSA! -, weil sie unentbehrliche Elemente dieser alternativen, wohltuend verschrobenen und heterotopen Postmoderne darstellen.“ Okay, einverstanden, das ist sicher ein Punkt. Wenn allerdings Willi Winkler in der SZ meint schreiben zu müssen, dass Pynchon einen Drang habe, alles, was er aufbaue, sofort mit einem Witz wegzuballern und dass dies dem Meister der unernsten Tragödie den Literaturnobelpreis koste und das Jahr für Jahr, muss ich doch heftig widersprechen. Aber es kommt noch schlimmer, Winkler schreibt: „Als „Bleeding Edge“ wird eine Technologie bezeichnet, die noch recht neu ist und ungeprüft, `kein erwiesener Nutzen, hohes Risiko´. Das oder auch die `Klapsmühle mit Hausaufgaben´ ist die Bauchbindenformel, auf die sich dieser Roman bringen lässt. Er macht niemanden zu einem besseren oder auch nur klügeren Menschen, aber wer ihn liest, läuft Gefahr, sich weit über seinem Niveau zu amüsieren, manchmal auch knapp drunter. Mehr kann man beim Hl. Marcel Proust, von einem Buch nicht verlangen.“ Das also das Fazit von Willi Winkler.
Dass das Lesen des Buches ein großen Vergnügen ist, habe ich in den vergangenen acht Wochen mehrfach betont, das ist fraglos richtig. Winklers Satz „Das oder auch die `Klapsmühle mit Hausaufgaben´ ist die Bauchbindenformel, auf die sich dieser Roman bringen lässt“, mag eine originelle Formulierung sein, allein, er ist meilenweit von meiner Einschätzung des Romans entfernt. „Bleeding Edge“ formuliert ernstzunehmende Kritik und Warnung bezüglich des Internets:„Von mir aus nenne es Freiheit, aber es basiert auf Kontrolle. Alle sind miteinander verbunden, keiner kann mehr verloren gehen, nie mehr. Tu den nächsten Schritt und verbinde das Internet mit dem Handy, und du hast die totale Überwachung, kein Entkommen.“ und: „Und sie kriegen uns, denn wir sind allesamt einsam, bedürftig, gekränkt und wild entschlosssen, an jede noch so jämmerliche Imitation von Zugehörigkeit zu glauben, die sie uns andrehen wollen…“; und Bleeding Edge“ formuliert Kritik am Spätkapitalismus: „Wir reden von Leuten, die glauben, dass die unsichtbare Hand des Marktes alles lenkt. Sie führen heilige Kriege gegen Konkurren-zreligionen wie den Marxismus. Obwohl wir wissen, dass die Welt endlich ist, hängen sie dem blinden Glauben an, dass die Rohstoffe nie zur Neige gehen und die Profite immer weiter steigen werden, ebenso wie die Weltbevölkerung – noch mehr billige Arbeitskräfte, noch mehr abhängige Konsumenten.“ Ich wiederhole mich: Da sag mir mal einer, bei Pynchon sei alles Comic, alles Spaß, alles würde ins Lächerliche gezogen. Eben nicht!
Ein Experiment neigt sich seinem Ende zu, das gemeinsame Lesen fand ich überaus interessant, die Kommentare der Mitstreiter habe ich sehr gerne gelesen, nur zweierlei war wirklich stressig: innerhalb von so kurzer Zeit diesen nicht ganz einfachen, über 600 Seiten umfassenden Roman zu lesen, und dann noch pünktlich wöchentlich etwas zu schreiben, was andere vielleicht auch interessieren könnte. Anyway, es war unterm Strich aber richtig gut!!!
Gregor M.