Guten Abend,
mein Name ist Ingo Biermann, und falls Sie jetzt eine kunsttheoretische Einführung erwarten, muss ich Sie enttäuschen: Ich bin kein Kunstwissenschaftler oder Galerist, sondern Filmemacher, in den letzten Jahren vorrangig im Dokumentarfilm; in dieser Tätigkeit habe ich eine ganze Reihe von Filmen und Videos für Ausstellungen und über Künstlerinnen und zeitgenössische Kunst gemacht – weshalb man vielleicht sagen kann, dass ich als Fachfremder dennoch etwas zu diesem [hier gezeigten] Werk bzw. diesen den hier zu sehenden Werken sagen kann.
Nun begleite ich die Arbeit von Frau Scharp schon seit einigen Jahren, seit ihrer Studienzeit an der [Universität der Künste], um genau zu sein, und ich konnte somit einige Entwicklungen und Veränderungen unmittelbar mitbekommen. Nachdem die Arbeiten aus dem früheren Multimedialen und deutlich Gegenständlicherem nun über die Jahre hinweg sehr viel minimalistischer und grafischer geworden sind, sind sie auf der anderen Seite eigentlich sogar noch erzählerischer, erzählender geworden.
Auf den ersten Blick denkt man womöglich, da sei nicht viel zu sehen. … Schaut man schnell hin und hat’s erfasst und begriffen. Aber wie das Beobachten der Betrachter zeigt (wie gesagt, ich bin Dokumentarfilmer, das heißt ich bestreite meine Berufstätigkeit im Beobachten von Leuten – und darin, das Beobachtete in eine Erzählung zu transformieren), sieht man – also ich – doch, dass jene, die sich nicht mit dem schnellen Blick begnügen, eben auch mehr sehen, mehr erleben. Wir sehen nicht nur Grafik und Muster und Raster und Form … reduzierte Form … minimalistische Bilder… sondern wir sehen Erzählungen in den Bildern.
Und wenn ich „Bilder“ sage, dann meine ich natürlich nicht nur diese [→Punktezeichnungen] zweidimensionalen, diese Zeichnungen und Grafiken, sondern auch das Objekthafte; das sind Bilder im Raum, die weit mehr erzählen, als eine flächige, grafische Zeichnung es tut. Einer der wesentlichen Reize dieser Arbeiten liegt darin, dass sie sich den Raum nehmen, also hier [→Schnittzeichnungen] z.B. ganz offensichtlich: Die einst zweidimensionale Papierfläche wird durch Bearbeitung, d.h. das feine Ausschneiden aus Papier, und natürlich auch durch die Präsentation [hier in Holzrahmen] zu einem Zeichnungsobjekt, zu einer Zeichnung im Raum, – diese Zeichnungen gibt es, nebenbei bemerkt, in leichter Abwandlung auch ohne den Holzrahmen, da wird das noch deutlicher – zu einer Zeichnung, die den Raum ergreift und sich so ihre Umgebung aneignet, sich selbst zu mehr erweitert, als das eine (gerahmte) Zeichnung könnte.
Und wenn ich eingangs gesagt habe, dass die früheren Arbeiten – die der Studienjahre, die schon damals in Ausstellungen sehr positiv aufgenommen wurden, eben weil sie – etwa als Videos oder Objekte… da gab es z.B. eine Zitrone, aus der Haare zu wachsen schienen, oder ein Stück Butter mit herauswachsenden Haaren… – offenkundig, also multimedial, erzählten, dann sehen Sie, dass diese Multimedialität heute noch immer Teil der Arbeiten ist, nur eben souveräner und feinsinniger, auf andere Weise überraschender als früher.
Stellen Sie sich vor diese Arbeiten versuchen Sie, hinzuschauen: Das sind keine abstrakten Grafiken, die reine Formspielerei betreiben, sondern jede für sich kleine Erzählungen. Und wenn sie zusammengeführt werden zu einem größeren, mehrteiligen Werk wie hier [→ 7-teilige Punktezeichnungen] oder dort [→ 6er Reihe aus Schnittzeichnungen], dann entsteht auch eine größere und entsprechend vielgestaltigere Erzählung.
Diese Arbeiten erzählen zwar von Materialität, die sich zusammensetzt aus „Cuts“ und „Pieces“, aber zugleich erzählen sie uns über diese Fragmentierung und Neuzusammensetzung auch etwas über uns selbst, die wir davorstehen und unsere eigene Erfahrung darin widergespiegelt sehen, erleben. Das Material wird also sowohl als solches offenkundig – und ohne Umwege thematisiert, aber nichts hier erschöpft sich in rein abstrakter Materialspielerei. Denn die Arbeiten streben an, das „kaum Wahrnehmbare erfahrbar zu machen“:
Schauen Sie hier [→ Graphitschnitte]: Die Grafik geht in den Raum über; das nehmen wir wahr. Die Grafik ist aber selbst schon dreidimensional, genau genommen in dreifacher Hinsicht und im doppelbödigen Sinne:
Das Papier wurde [erstens] ganz geometrisch seiner Flächigkeit entledigt, indem diese Kästchen sorgfältig mit dem Skalpell entlang der gedruckten Linien herausgeschnitten wurden. Das passierte auf eine mühsame Art und Weise, die nicht mechanisch, sondern organisch die Geometrien nutzt (eben weil sie von Hand ausgeführt wurde und auf diese Weise ausschließlich Einzelstücke entstehen), erzählt also durch diesen Prozess von der Künstlerin selbst, nicht zuletzt schon dadurch, dass der Entstehungsprozess sichtbar bleibt, die strengen Geometrien der gedruckten Linien nie rein erhalten bleiben, sondern bspw. Leerstellen und Brüche entstehen, wenn etwas abbricht oder nicht 100% perfekt herausgeschnitten wurde. Oder hier bei den Punktezeichungen, wo die verschiedenen Zeiträume, über die hinweg diese großen Arbeiten entstehen, sichtbar bleiben.
Dann [zweitens] wurde das subtil dreidimensionale Bild mit Hilfe von Graphit weiter ins Objekthafte geführt und noch individualisierter (→ jedes einzelne wird also zu einem für sich stehenden Objekt). Ganz besonders spannend finde ich hier, dass durch die Wahl des Materials ein unmittelbarer Bezug zur Zeichnung hergestellt wird (mit Graphit wird nicht auf das Papier gezeichnet, wie wir das an sich von Zeichnungen kennen, sondern mit Hilfe von Graphitstaub wird das komplette Papier vom Material Graphit vereinnahmt, es gibt sozusagen mehr Graphit als Papier – was wir auf ähnliche und verwandte Weise auch hier nebendran sehen können [→bei solchen Arbeiten, die sich aus unzähligen Graphitminen zusammensetzen, welche zu zu Strukturen und Reliefs angeordnet und auf den Untergrund aufgetragen werden] und dort drüben, wo ganze Graphitblöcke, ebenfalls in klaren Strukturen auf dem Untergrund angeordnet wurden, aber die Geometrie sich in Auflösung befindet, weil es eben nie um ein mechanisch perfektes Ergebnis geht, sondern die Irritiationen und organische Unperfektion wichtiger Teil der Arbeit sind; in beiden Fällen bleibt der Vorgang der Zeichnung gewissermaßen erhalten.
Nun hängt [die Grafik] hier und wird auf der dritten Ebene raumgreifend, verhält sich zur Oberfläche und der Materialität der Wand, der Tapete und des Raums, reagiert auf die Lichtverhältnisse [sie sehen hier ganz klar den Schattenwurf, der Teil der Arbeit ist], bei Tag den Verlauf des Sonnenlichts oder den Schatten der Betrachter, die davorstehen …
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Also es geht nicht nur um die Materialität, nicht nur um die raffinierte, ungewöhnliche Räumlichkeit der Zeichnung selbst, nicht nur um die reine Attraktivität dieser ansprechenden Bilder, und um ihre metaphorische Ebene (Stichwort: Graphit auf Papier, Stichwort: antiquarisches Papier) und die damit verbundenen Assoziationen, sondern es spielt auch die Zeit eine wesentliche Rolle, und das sehen wir, das erleben wir, das macht die Arbeiten zu kleinen Erzählungen, die in diesem Raum (bzw. welchem Raum auch immer sie hängen) – und natürlich auch im Gesamtwerk und im größeren Kontext – Teil von größeren Erzählungen sind – und die zudem miteinander kommunizieren, wie sie hier klar an den sich [im Raum] gegenüberliegenden Arbeiten – hier die Schnittzeichungen, dort die Graphitbilder – erleben können.
Und die Frage: Kommunizieren sie auch mit Ihnen? Ich meine: Ja. Aber zuhören müssen sie natürlich selbst.
[Galerie Kuckei+Kuckei // bei der Stiftung für Konkrete Kunst und Design Ingolstadt erwerbliche Unikate // Ausstellungskatalog Rasterfahndung, Kunstmuseum Stuttgart // Dokumentarfilm „Neun Frauen“ (2011)]