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Archives: Kronos Quartett

Das Cello springt rau zwischen den Boxen hin und her, packt mächtig zu und die feinen Härchen stellen sich am ganzen Körper auf, der so genannte „Chill-Factor“ übernimmt. Bereits die ersten Takte von Circular Lines aus dem neuen Album von Stephan Thelen verströmen die Magie, wegen der ich ewig suchender Musikhörer geworden bin. Und diese Magie scheint fast unbegrenzt steigerungsfähig: eine hochkomplexe polyrhythmische Struktur, bei der jeweils ein Instrument in 3/8, eines in 4/8 und 5/8-Takten gegeneinander läuft und das verbliebene Instrument des Quartetts die Rhythmusstrukturen unterstützt oder elegante Melodielinien darüberlegt, entwickelt sich fulminant und doch unglaublich fokussiert. Eines der herausfordernsten Stücke, die sie je gespielt hätten, sagt David Harrington vom Kronos Quartett, die diese Herausforderung formvollendet und mit rauer Eleganz, fast wie ein Rocksong mit phänomenaler Intensität mehr als erfüllen. Treibend, nein eskalativ sicher eine der besten Darbietungen aus dem umfangreichen Repertoire dieses Ausnahmequartetts.

Zeitsprung: 2014 besucht Anil Prasad den Kopf von Sonar, Stephan Thelen, wo dieser ihm von seiner Vision erzählt, seine Stücke einmal vom Kronos Quartett spielen zu lassen. Prasad teilt diese Vision, fasziniert von den komplexen und nuancenreichen Strukturen der Sonar-Alben, und bringt David Harrington eine Demoaufnahme und Partitur von World Dialogue vorbei, der sich begeistert gleich bei Stephan Thelen meldet und, anstatt dieses Stück ins Repertoire aufzunehmen, Circular Lines für ihr Projekt 50 for the Future in Auftrag gibt. 2017 war es schließlich so weit und dieses faszinierende Stück wurde eingespielt und aufgenommen.

Doch das ist erst der Anfang eines vitalen und spannungsgeladenen Albums, denn das polnische Al Pari Quartett erlebte eine Aufführung von Circular Lines bei einem Konzert des Kronos Quartetts und begann, ebenfalls begeistert davon, es in eigenen Konzerten aufzuführen. Bald nahmen die Musikerinnen dieses Ensembles dann Kontakt zu Stephan Thelen auf und so kam es, dass sie die restlichen Stücke eines der beeindruckendsten Alben dieses Jahres einspielten. Chaconne tanzt über einen 11/4-Takt und bedient sich der von Thelen als „Twofold Covering“ bezeichneten Kompositionstechnik: die Melodielinie wird von einem tiefer tönenden Instrument eine Oktave tiefer und in halber Geschwindigkeit gespielt, was eine eigenwillige Bewegung erzeugt, die die Wahrnehmung der Musik radikal verändert. Auch das letzte Stück des Albums Silesia, einer Auftragsarbeit für das Al Pari Quartett, bedient sich dieser Technik, nur das es dadurch einen besonderen Reiz gewinnt, dass es traditionelle schlesische Melodiefragmente auf unfassbare Weise mit einem 13/4-Takt verwebt und dabei beides verfremdet und in wunderbarer Kraft über sich hinauswachsen lässt. Zwischen diesen beiden Stücken findet sich Word Dialogue mit einer additiven Rhythmusstruktur von einem 7/8 und einem 8/8-Takt, deren Variationen sich mit unglaublicher Leichtigkeit rückwärts durch den Quintenzirkel bewegen, um schließlich ganz beiläufig wieder am Ausgangspunkt anzukommen. Präzise und dynamisch bewegt sich das Al Pari Quartett mit größter Intensität und dunkler Leidenschaft durch diese schwierig zu spielenden Stücke und steht dem Kronos Quartett dabei um nichts nach. Hier findet eine Bewegung statt vom vertracktem experimentellem Art-Rock, wie er noch auf Tranceportation Vol 2 von Sonar mit David Torn, das im Mai erschienen ist und psychotrope ferne Welten erkundete, ausgelotet wird zu dem hochdifferenzierten Klangraum eines Streichquartetts. Eine Kammermusik der Zukunft, die vital mit heutigen Hörgewohnheiten spielt und in ihrer fast mathematischen Eleganz neue Zenite erahnen und die feinen Härchen auch noch eine ganze Weile nachdem die Musik längst verklungen ist stehen lässt.

 
 
 

     

 


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