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Archives: Keith Jarrett

München, 2. Juni 1981

 

Ich mag vor allem sein Klavier-Solo-Spiel, seine Triosachen habe ich mir nicht so oft angehört. Ich liebe vor allem sein Solospiel. Wenn ich Solo spiele, dann kann ich manchmal ein solches Level an Inspiration 5 Minuten halten, doch Keith Jarrett kann so etwas 40 Minuten lang tun. Er scheint ein besonderes Selbstbewusstsein zu haben. Er zapft da immer etwas an, etwas Göttliches, etwas, das man nicht in Worte fassen kann. Er erstaunt mich.“

(Brad Mehldau, in einer Sendung Günther Huesmanns im SWR, am 9. Mai 2015)

 

Jarrett’s Auftritt am 2. Juni 1981 im Herkulessaal ist sicher eines seiner längsten Konzerte. Set 1 dauerte ca. 47 Minuten und Set 2 war mit 37 Minuten nur wenig kürzer. Ja, und zwei Zugaben muss man auch noch erwähnen: weitere 14 Minuten. Keine Ansprachen. Angesichts dieser Dimensionen war der „Herkules“-Saal der einzig richtige Ort für diese denkwürdigen Stunden.

Nein, nein, ich bin nicht Jarrett’s Buchhalter. Ich habe oft weite Wege zurückgelegt, um ihn zu hören, um emotionale Erlebnisse der besonderen Art zu erfahren. An jenem Dienstag im Juni 1981 musste ich etwa 350 km mit dem Auto hinter mir lassen. Vielleicht war ich etwas erschöpft.

Es gibt Solokonzerte Jarrett’s, die beginnen und nehmen sofort gefangen. Kyoto 1976, Köln 1975, Kronach 1975. Den Anfang des Münchener Konzerts empfand ich als ausgesprochen spröde, wie intensiv suchend, kein verlockendes Motiv wie im Köln Concert, sondern komplexe Polyphonie, Irrgarten-Harmonik. Ein schwieriger Einstieg in eine Zauberwelt. Erst in Set 2 war ich richtig offen.

Es lag sicher an dieser Erinnerung, dass ich die LP-Ausgabe jahrelang nur aufbewahrt habe. Vor einigen Monaten erst habe ich das Konzert immer wieder gehört. Es ist ein phänomenales Kunstwerk, komplex und von einem Reichtum, den ich als Hörer live im Herkulessaal wohl geahnt habe, aber erst dank der Aufzeichnung nach und nach begreife.

 

„Jarretts Kunst liegt im Gestus, nicht im Material. Wer (wie Zuhörer aus dem Bereich der abendländischen E-Musik) diese Solokonzerte auf die Herkunft der einzelnen musikalischen Partikel hin anhört, wer den Blick auf das Geschiebe richtet, das dieser Bewusstseinsstrom mitführt, statt auf die Bewegung, ist verloren […] Es geht ihm [Jarrett], dem Fundamentalisten, gewissermaßen um Emotionalität an sich. Das Material, könnte man sagen, hat nur noch die Funktion, diese Emotionalität sichtbar zu machen wie Feilenspäne die Linien eines Kraftfeldes.“

(Peter Rüedi, in den Liner Notes der LP-Ausgabe)

 

Ich sehe das etwas anders. Jarrett’s Kunst liegt sowohl im Gestus als auch im Material. Im Konzert bin ich als Hörer nicht in der Lage „die Herkunft der einzelnen musikalischen Partikel“ in aller Tiefe zu begreifen, im Konzert steht das emotionale Erleben vor dem „Blick auf das Geschiebe“. Als Zuhörer abendländischer E-Musik geht es mir nicht anders, wenn ich ein Werk zum allerersten Mal höre.

In Set 1 des Münchner Konzerts erklingt eine kleine, wunderbare Gestalt, etwa nach 4:40 Minuten. Es ist nicht leicht festzustellen, wo sich diese Idee im musikalischen Strom verliert, so sehr wird sie sogleich verwandelt. Bei 8:10 und etwas später ist sie noch einmal greifbar.

Und dann passiert dies: Nach 40 Minuten Musik plus einer halbstündigen Konzert-Pause wird in Set 2 diese Idee wieder eingeführt und bildet für fast 27 Minuten das Rückgrat des in allerlei Farben schillernden musikalischen Prozesses, bevor sie nach einem Tremolowirbel verschwindet und der Flügel in ein bizarres Schlagwerk mutiert.

Jarrett sagte einmal (sinngemäß): „Beim Spielen denke ich immer an Strukturen“. Leider kann ich die Quelle nicht mehr dingfest machen, d.h. ich kann den Mitschnitt jener Rundfunksendung, in der ich das gehört habe, nicht mehr auffinden. Es war vermutlich Michael Naura im NDR, der diesen Satz überlieferte. Vergessen habe ich das nicht. Ohne Struktur wäre Jarrett’s Musik formloses Geklimper auf pianistisch allerhöchstem Niveau.


Letztendlich kann ich nur in Brad Mehldau’s Eloge einstimmen. „Er zapft da immer etwas an, etwas Göttliches, etwas, das man nicht in Worte fassen kann. Er erstaunt mich“

 

Keith Jarrett:

 

I don’t believe that I can create, but that I can be a channel for the Creative. I do believe in the Creator, and so in reality this is His album through me to you, with as little in between as possible on this media-conscious earth.

(zitiert aus den Liner Notes „Solo Concerts – Bremen, Lausanne“)

 

Igor Stravinsky:

 

I was guided by no system whatever in Le Sacre du Printemps. […] I had only my ear to help me; I heard and I wrote what I heard. I am the vessel through which Le Sacre passed.

(aus Igor Stravinsky and Robert Craft „Expositions and Developments“)

 


Ablauf des Münchener Konzerts:

Set 1 (auf den Tonträgern als Part I und Part II bezeichnet)

Pause

Set 2 (auf den Tonträgern als Part III und Part IV bezeichnet)

Zugaben:

Mon Coeur Est Rouge

Heartland

 


Übrigens:

Love No. 3“ strotzt nur so von Struktur, Emotionalität, Ausgelassenheit, Lust am Spiel und am Leben, Frechheit, Freiheit, Mut …

Das ist eine eigene Geschichte.

2015 16 Sep.

Am Limit

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… es spielte sich ja, was Sie da gerade hörten, im Herkulessaal ab, 1981, in München, nicht zehn Jahre früher, im Fillmore West, wo Jarrett, nachdem er zuvor mit Charles Lloyd Hippieträume und Jazzwildnis eins werden liess,  an der Seite von Miles Davis ein grosses elektrifiziertes „Fusionfeuer“ schürte. Und doch: ein Kraftfeld der wilden Jahre scheint aktiviert; wie Jarrett hier (nach einem Jahrzehnt, in dem Meilensteine seinen Weg pflasterten) in das Körperinnere des Instruments greift, den Holzrahmen als Perkussionsfläche benutzt, das Brummen und Stöhnen und Juchzen eine eigen Klangspur formt, und er von Fragment zu Fragment stürmt, womöglich halbbewusst und rastlos nach einer geschlossenen Gestalt forscht, bei all diesen umeinanderfliegenden Bruchstücken: man sieht Jarrett förmlich vor sich bei seinem keiner ausgeklügelten Choreographie folgenden Tanz mit dem Flügel. Und das Publikum folgt Jarrett nicht deshalb mit spontanen Juchzern und Beifallsattacken (die vor allem die eigenen Körperspannung abführen), weil da nur Free Jazz-erfahrene Insider sitzen, sondern weil sich die ekstatische Verfassung des Artisten auf der Bühne sich 1:1 aufs Publikum überträgt … (aus einem beiläufig bei Bagles & Beans hingeschriebenen Text für die Milestones-Sendung im Deutschlandfunk am Freitagabend um 22.05 Uhr).

 

Rosato, warst du 1981 in München dabei? Immerhin waren wir beide 1976 beim Jazzfest Ost-West, und sahen das amerikanische Quartett bei einem seiner Schwanengesänge.

 

 
 
 

Spannend war es: ein Seminar über luzide Träume, mit mir zusammen drei Psychologen (als Leiter), und vier von zwölf Teilnehmern erlebten ihren ersten luziden Traum. Im nächsten Sommer können wir die Räume eines hiesigen Schlaflabors nutzen. Will man die erstaunliche Erfahrung machen, im Traum zu erkennen, dass man träumt, und dann bei vollem kritischen Bewusstsein das Traumgeschehen zu lenken, ist die Kernübung die Frage: „Träum ich oder wach ich?“ Stellt man sich diese Frage ca. 10 mal am Tag und prüft die konkrete Umgebung darauf, ob man träumt oder wach ist, überträgt sich diese Fragestellung (der gute alte Freud’sche Tagesrest) auf die Traumphasen in der Nacht, und dann macht es leicht „klick“, und man erkennt voller Verblüffung, dass man mitten in einem Traum ist. Das ist eine von vielen Techniken.

Menschen, die häufig im Traum Musik hören, stellen sich tagsüber dann sinnigerweise auch beim „normalen“ Musikhören die Frage, ob sie träumen oder wach sind, und forschen ca. 1 Minute nach der Antwort, immer leicht dahin tendierend, dass irgendetwas nicht stimmt, dass doch das, was man sieht, hört oder fühlt, auf einen Traumzustand hinweist, oder doch nicht? Ich hatte zu Übungszwecken THE SHUTOV ASSEMBLY von Brian Eno dabei, und STAIRCASE von Keith Jarrett.

Mein Vortragsthema hiess: „Das Irreale im Alltag als Schlüssel für luzides Träumen“. Das wurde schon bei Castaneda thematisiert, aber auch in kalifornischen Universitäten seit den 70ern wissenschaftlich untersucht. Wenn ich also am Freitag, dem 18. September (leider kein Dreizehnter), im Deutschlandfunk zwischen 22.05 und 22.50 Uhr, live,  in der Reihe „Milestones“ Keith Jarretts Soloauftritte „BREGENZ MÜNCHEN“ vorstelle, eine wahrlich unerhörte, grossartige Arbeit, dann könnten Sie sich durchaus mal die Frage nach Ihrem aktuellen Bewusstseinszustand stellen.

Und was finde ich just in der Post: ein brandneues Album von Eivind Aarset. Träum ich oder wach ich? Produced by Eivind Aarset in co-operation with Jan Bang. Ein Hauch von Punkt. Ich bin gespannt wie ein Flitzebogen. Im Gegensatz zu dem minimalistischen Duo-Album auf ECM, „DREAM LOGIC“, setzt Eivind hier auf grosses Personal.

2015 25 Aug.

Eintrittskarte

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Ich bin dieser Tage beim Loslassen (vulgo Ausmisten). Was habe ich gefunden, garbage?

 
 
 
 
 
 
 

Drei Tage zuvor spielte das Keith-Jarrett-Quartett in Nürnberg beim Festival JAZZ OST WEST …

Meine Geschichte mit dieser Schallplatte ist eine ganz andere als Michaels Erfahrung, wie er sie neulich in seiner Sendung erzählt hat. Ich habe das Album erst im vergangenen Sommer gekauft, in einem Plattenladen hier in der Straße. Ich war noch nie in diesem Laden, obwohl er immer etwas Zauberhaftes an sich hatte, aber es ist düster darin und vor allem sitzt da an der Kasse ein Typ, der eine Ausstrahlung von Machtkampf hat, den er unbedingt gewinnen will. Ich ging ohne Ziel in den Laden, und, da ich eine glückliche Onlinekäuferin bin, nahm ich mir vor, nur etwas zu kaufen, von dem ich sehr sicher bin, dass es mir gefällt. Ich war die einzige Kundin. Irgendwann kam ein älterer Mann in schwarzer Lederjacke in den Laden, der so wirkte, als ob Musik das einzig Interessante in seinem Leben sei. Spätestens jetzt wollte ich gehen, aber genau in diesem Augenblick sah ich die Platte und da war sofort ein kleines Glücksgefühl. Das Cover sah okay aus, aber so, als ob es jemand oft und gern in die Hand genommen hätte. Ich fragte nach der Qualität, denn ich weiß, dass es Onlineverkäufer gibt, die jede Schallplatte durchhören und sogar reinigen und die entsprechende Bezeichnungen bei der Zustandsbeschreibung anbringen.

– Weiß ich doch nicht, ich höre doch nicht jede Platte durch.

Ich hätte gehen sollen. Ich fragte, ob ich die Platte zurückbringen könnte, wenn sie qualitativ nicht in Ordnung sei. Er wirkte nicht begeistert und sagte, ich könnte mir dann etwas anderes aussuchen. Das überzeugte mich nicht. Aber was, wenn es die Platte online nicht gab? Ich wollte sie außerdem jetzt hören. Und auf Vinyl. Ein paar Minuten später lief sie auf meinem Plattenspieler. Ich war begeistert und konnte nichts anderes tun als zuhören. Beim letzten Stück auf der A-Seite stockte die Nadel zwei Mal und ich musste nachhelfen. Ich überlegte, ob ich die Platte zurückbringen sollte, aber ich wollte den Laden nicht mehr betreten. Inzwischen befindet sich in den Räumen ein Rauchercafé.

2015 23 Juni

Das verpasste Keith Jarrett-Solokonzert (Reprise)

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Ich fuhr mit einem Studienkumpel nach Hamburg, die Siebziger Jahre zeigten sich von ihrer besten Seite, ECM veröffentlichte reihenweise Meilensteine, und als wir die Landesgrenze zu Schleswig-Holstein hinter uns hatten, hörte ich das beste Jazzprogramm, das es in der alten Bundesrepublik je gab. Michael Naura hatte Narrenfreiheit, holte alle möglichen Stars zum NDR, der Jazz boomte, ich war verliebt in Katrin E., und hatte vor, ihr Herz und ihren Körper zu erobern. Immerhin hatte ich die Einladung ins elterliche Herrenhaus “An der Glinder Au” in der Tasche.

Ich war noch ein Teenager, und hatte Katrin auf einer Nordseeinsel kennengelernt, wir spielten in den Dünen, verschlangen ganze Backbleche Pflaumenkuchen, ohne ein Pfund anzusetzen, und jeden Tag hörte ich grandiose Jazzmusik im NDR: der junge Jan Garbarek, Art Lande, Chris Hinze, Gary Burton, Bill Connors, Volker Kriegel, Dave Liebman, Chick Corea. Und plötzlich, die Tore Hamburgs waren noch ein Stück entfernt, verkündete Michael Naura im Autoradio, dass der “Meister” just an diesem vorweihnachtlichen Abend im Congresszentrum der Hansestadt auftrete. Solo. Ahh! Als ich dann in 2 Hamburg 74 oder 14 eintraf, der Nachmittagstee aufgetischt wurde, machte ich den Vorschlag, die ganze Bande, Katrin, ihr Bruder, die Clique, solle heute Abend aufbrechen, um den Magier am Klavier zu erleben. Die Reaktion war reserviert. Hanseatisch unterkühlt. Stattdessen nahm das Grauen seinen Lauf.

Ich war damals noch etwas schüchtern, sonst wäre mir das nicht passiert. Mit der angehimmelten Katrin und den anderen trottete ich in eine Old Jazz-Kneipe namens Rempter oder so, wo doofer Stimmungsdixie gespielt wurde, und sich eine biergetränkte Fröhlichkeit breitmachte. Die Nacht durfte ich im Zimmer des Bruders verbringen, der den Aufpasser spielte. Am nächsten Morgen, mit dem Katrin- und Jarrett-Blues in den Knochen, stellte ich mich noch überaus ungeschickt an beim Köpfen des Frühstückseis.

In dieser Story war die Vorfreude alles: wie ich in meiner Studentenbude, Wochen lang, Gato Barbieri hörte, das erste Kapitel seiner grandiosen Latin-Jazz-Platten (auf Impulse), „Fort Yawuh“ vom Keith Jarrett Quartet. Umd seine Solosscheiben, “Facing You”, immer wieder „The Köln Concert“ und „Bremen-Lausanne“. Ich träumte von Katrin, und wie immer, wenn das Verliebtsein sich in mir ausbreitete, fuhr mir wiederholt ein Schmerz in die Fingerknöchel, ein Stechen, ein Ziehen. Ein paar Jahre später war ich nicht mehr schüchtern. Gut so. Und in den Neunziger Jahren arbeitete ich zehn Jahre mit dem grossartigen Jazz-Macho Michael Naura zusammen. Manchmal spielte er in seinem Büro Evergreens auf dem Klavier, und, als er einmal einen Jarrett-Akkord erwischte, fiel mir kurz jener Abend ein, in weihnachtlich geschmückten Einkaufsstrassen – und die unerträglichste Dixieland-Kapelle aller Zeiten! Michael Naura ist heute 80, Keith Jarrett 70.

 

Gut, die Geschichte ist ein alter Hut und wurde hier schon einmal erzählt. Ich habe sie sicher schon sehr oft in Freundeskreisen zum besten gegeben, sowas nennt man „Repertoiregeschichten“, unvergessliche Episoden des eigenen Lebens. In diesem Fall wird die Sparte „verpasste Chancen“ bedient. In der Liebe, in der Musik gibt es diese Stories in Milliarden und Milliarden von Variationen. Man könnte sich meine Verblüffung vorstellen, wenn plötzlich aus den ECM-Archiven „The Hamburg Concert“ als versunkener Schatz gehoben würde, meines Wissen gab es damals keinerlei Senderechte, und ob das Konzert in den Münchener Archiven schlummert, werde ich aus purer Altgier mal erfragen. Es ist ja nun nicht soooo wichtig, dass ich eine grosse Welle drum machen müsste, und diese marginale Episode habe ich natürlich in der Radiostunde, als es mit Keith Jarrett durch die 70er Jahre ging, ausgespart. Ich musste da sowieso ganz viel aussparen, denn unendlich viel hätte auch noch gespielt, berichtet und erzählt werden können. Das „Belonging“-Quartett sah ich einmal beim Jazzfestival in Frankfurt, lang vor der Japanreise, und vor dem Auftritt im Village Vanguard (alles auf Tonträgern dokumentiert). Der Auftritt in Frankfurt war eher von der ruhigen, routinierten Sorte, und rührte mich nicht annähernd so wie die beiden Studioalben und die späteren Live-Platten des „europäischen Quartetts“.

Jesus hatte eine grüne Kiste dabei. Es war Sommer, im Schulhof versammelten wir uns um ihn. Abiturzeit. Jesus öffnete die dunkelgrüne Box, und sagte: „Sagenhafte Musik. Nur Klavier. Tim Buckley schwärmt von diesem Pianisten. Einer, Jungs, der auch auf dem Weg zu den Sternen ist. Hört euch Starsailor an!“ Jesus hatte gesprochen. In jeder Schule gab es einen, der wegen seiner wilden Matte mit Mittelscheitel, Jesus genannt wurde, wenn er zudem nur über ein Mindestmass von Charisma verfügte. Jesus hatte Ahnung von Musik, und eine scharfe Braut am Start. Da, im Pausenhof, waren wir aber noch schärfer darauf, diese Klaviermusik auf den Plattenteller zu legen. Wir kannten Keith Jarrett und die tollen Alben „Soundtrack“ und „Forest Flower“, bei denen er in der Band von Charles Lloyd Und seine wahnwitzige elektrische Pianomusik in Miles Davis‘ Band. Wie Miles hatte auch Lloyds Gruppe schon lange das Rockpublikum erreicht.

Bald liefen Jarretts Solokonzerte aus Bremen und Lausanne endlos auf unseren Plattenspielern. Gleichberechtigt neben „Atom Heart Mother“, „Thick As A Brick“ und „Sgt. Pepper“. Es waren die frühen Jahre von ECM. In den USA wunderte man sich über die Allianz des Pianisten Keith Jarrett mit dem deutschen Produzenten Manfred Eicher. Man sollte sich bald noch viel mehr wundern.

Ich weiss noch, wie ich damals dachte: bei dem exquisiten Künstlerkarussell des Münchner Produzenten müsste es doch mit dem Teufel zugehen, wenn Keith Jarrett nicht bald die Wege von Jan Garbarek kreuzen würde. Und genau das passierte. Ich sah die Platte mit dem vier Luftballons zum ersten Mal in einem kleinen Dortmunder Plattenladen, „Belonging“, Jarretts europäisches Quartett mit Jan Garbarek, Palle Danielssonund Jon Christensen. Adrenalin schoss durch den Körper, eine halbe Stunde war ich zuhause, legte ich die Platte auf, und war sprachlos.

 

Keith Jarrett: Long as you know you’re living yours

 

Zwei Studioalben gibt es von der „Belonging“-Band. Ich erinnere mich, wie Palle Danielssson mir bei einem Gespräch Ende der Neunziger Jahre erzählte, er sei im Grunde immer noch fassungslos, wieso diese Band vor dem Ausklang der Siebziger Jahre schlicht aufhörte zu existieren. Wild und exstatisch waren die Live-Auftritte im Village Vanguard, dokumentiert auf „Nude Ants“, und erst vor einiger Zeit holte Manfred Eicher unveröffentlichte Livedokumente aus Japan aus dem Archiv, Tokyo, 1979. „Sleeper“ heisst das Opus, und hinterliess zurecht ein mächtiges Beben in der Jazzwelt. Mit einer begrenzten Zahl von Kompositionen brach man scheinbar Abend für Abend in unbekannte Regionen auf, das Gegenteil von Repertoiremusik.

Apropos Anti-Repertoire-Musik: drei Jahre zuvor, wiederum in Tokyo, aber auch in Osaka, Sapporo, Kyoto, Nagoya. Japaner sind bekanntermassen musikbesessen, und damals im November 1976 bekamen sie die volle Dröhnung. Der Produzent Manfred Eicher und der Toningenieur müsssen mächtig ins Schwitzen geraten sein, stets hellwach, denn sie wusste ja nie, was Jarrett, allein mit seinem Flügel, veranstalten würde. Es gab keine Redundanzen, keine sich wiederholenden Spannungsbögen – jedes dieser Konzerte wurde aufgezichnet, und erschien, auf zehn Schallplatten verteilt, unter dem Titel „Sun Bear Concerts“.

Wolfgang Sandner widmet diesen fünf Konzerten in seiner jüngste erschienenen Jarrett-Biografie die gebührende Aufmerksamkeit. Irgendwann, schreibt er über den Auftritt in Tokyo, schien er lange Zeit in sich versunken zu sein, er verzichtete auf expressive Gesten und virtuose Ausbrüche, bis er von einem kleinen Melisma, einem Ostinato verführt wird, diese Versunkenheit zu verlassen, und sich auf einmal wieder alle möglichen überraschenden Wendungen ereignen: „Und er kann nicht anders, irgendwann taucht er in einen blue-note-getränkten Rhythmus zwischen Gospel,und Worksong, der ihn zurückbringt zu den Anfängen des Jazz und der afro-amerikanischen Trance-Kultur.“ Hören Sie die Zugabe, die Keith Jarrett in Tokyo gab, eine Art des Ausschwingens nach der Stunde des Ekstatikers …

 

Keith Jarrett: Tokyo Encore

Keith Jarrett: Windsong

 

Keith Jarrett war ein klassisch ausgebildeter Pianist, und neben Interpretationen von Werken Klassischer Musik, hatte er bei seinem Produzenten alle Freiheiten, die Grenzgebiete Moderner Klassik und improvisierter Musik zu erkunden. Third Stream nannte man das in Jazzkreisen, das konnte Jarrett mal kitschig und überladen geraten wie auf dem Album „The Celestial Hawk“ – aber was für eine Meisterwerk gelang ihm Mot dem Album „Luminessence“, komponiert für Jan Garbarek und Streichinstrumente. Jarrett selbst spielt da keinen Ton.

Neben seinem europäischen und amerikanischen Quartett (zu letzterem komme ich noch) waren die ohne Netz und doppelten Boden, stets das Scheitern als Option beinhaltenden, Solokonzerte das Zentrum des Jarrett’schen Musizierens. Viele von Ihnen haben das berühmteste Solokonzert im Regal stehen, und man weiss, dass dieses Ereignis (eine der meistverkauftesgen Jazzplatten aller Zeiten) an missliche Umstände geknüpft war: Jarrett war überhaupt nicht glücklich mit dem alles andere als perfekt gestimmten Klavier.

Wolfgang Sandner fragt sich in aeiner Biografie sinngemäss, wie hypergenial „The Köln Concert“ g e k l u n g e n haben würde, hätte er es auf einem vollkommenen Instrument gespielt hätte. Meine Antwort: es wäre womöglich überhaupt nicht so ein grandioses Stück Musik geworden. Jarrett musste sich ja auf diesen Gegner einstellen, auf die Tücke des Objekts, vielleicht spürte er, er könne den „sperrigen Widersacher“ nur überliste mit etwas Atemraubenden, mir einer Überfülle an Ideen, einer anderen Körperlichkeit … aber das ist „Psycho Fiction“ …

Eine meine Lieblingssoloplatten des Amerikaners verdankt ihr Entstehen auch besonderen Umständen. Keith Jarrett und Manfred Eicher waren in Paris, im Mai 1976, im berühmten Davout Studio, um Musik für einen Soundtrack aufzunehmen, eine kleine Gefälligkeit für Jean Luc Godard. Die Wege von Eicher und Godard sollten sich später noch öfter kreuzen, eine andere Geschichte. Die Arbeit war schnell getan, Jarrett und Eicher hatten jede Menge Studiozeit übrig, man war von dem Klang des Instruments begeistert, und entschloss sich aus dem Moment heraus, Musik aufzunehmen.

Es enstand das Doppelbum „Staircase“. Wolfgang Sandner schreibt dazu: „Alles, was Jarrett in den elf Stücken erklingen lässt, besitzt Körperlichkeit. es gibt keine flachen Töne, nur runde, eckige, kubusartige, voller Tiefenschärfe. (…) Der zweite Teil des Titelstücks ist ein einziger Klangrausch, bei dem dennoch jeder Ton für sich erkennbar bleibt. Dann aber verdichtet sich das polyphone Spiel Jarretts in einer Weise, als erklängen die Glocken aller orthodoxen Kirchen im altslawischen Kiew auf einmal. Eigentlich reichen zwei Ohren nicht ais, alles zu erfassen, was da aus dem Korpus dringt.“ Versuchen wir es trotzdem, mit zwei Ohren …

 

Keith Jarrett: Staircase (2)

 

Mit Keith Jarrett durch die 70er – die Radionacht Klanghorizonte nähert sich lamgsam der Morgendämmerung. Ich bin am 18 August wieder hier, ab dann sind die alle zwei Monats zu hörenden Klanghorizonte fünf (!) Stunden lang, und gehen von 1.05 Uhr bis 6.00 Uhr. Das wird ein Spass werden. Die Milestones wandern wieder in die Abendstunden, dort stelle ich Ihnen Keith Jarretts „Solo Concerts Bregenz – München“ vor aus dem Jahre 1981. Schliesslich war der Zauber Ende der Siebziger noch lange nicht vorbei. In diesem Jahr ist Keith Jarrett 70 Jahre alt geworden, und das jüngst veröffentlichet Pianosoloalbum CREATION zeigt, in aller Ruhe und Intensität, dass sein kreatver Elan keineswegs versiegt ist.

Zum Abschluss DAS Meisterwerk des amerikanischen Quartetts von Keith Jarrett, mit Dewey Redman, Charlie Haden und Paul Motian. The Survivors‘ Suite. Es enstand im April 1976 im Tonstudio Bauer in Ludwigsburg. Und auch wenn ich Wolfgang Sandners jüngst erschienene Jarrett-Biografie aufgrund leicht überbordender Heldenverehrung teilweise nur mit einem Keith Jarrett-artigen, aber nicht lustvollen, Stöhnen goutieren kann – bei den Beschreibungen etlicher Klassiker des Jarrett-Werkeverzeichnisses liegt er, aller barocken Sprachfülle und ungebremster Euphorieattacken zum Trotz, in der Sache richtig. Was an Jarretts Orgelspiel in Ottobeuren allerdings so zauberhaft sein soll, werde ich nie begreifen. Und noch eins: Ikonisierungen behindern die natürliche Begegnung mit kreativen Schöpfungen, man miss nicht gleich immer alles an die Seite der Mona Lisa rücken. Etwas weniger Weihrauch schärft die Sinne.

Aber nun zur Survivors Suite. Hier durchdringen sich afrikanisches Erbe, Free Jazz, Gospelflair, tiefe Versenkung, reinste Melodienlust und hymnische Ekstase. Ich hatte das Glück, dieses Quartett bei einem seiner letzten Auftritte beim Jazzfestival OST-WEST in Nürnberg zu erleben, und es wird mir, obwohl ich ziemlich weit hinten sass, als eines der intensivsten Konzerterlebnisse meines Lebens im Gedächtnis bleiben. Am Mikrofon bedankt sich Michael Engelbrecht für Ihr Dabeisein. The Survivors Suite. Beginning.

 

Keith Jarrett: The Survivors Suite

 

 

Nachklang: Ich habe nur wenige Kürzungen und Änderungen vorgenommen. Radiomoderationen, improvisiert oder notiert, unterscheiden sich zum Glück von Texten für Zeitschriften, Bücher etc. So entgehen einem beim Lesen solcher Transkripte natürlich jede Menge Zwischentöne.

2015 19 Juni

Masterpiece

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Keith Jarrett – Luminessence
 
Jan Garbarek – tenor and soprano saxophones
Strings of Radio Symphony Orchestra Stuttgart
Mladen Gutesha – conductor
Recorded April 29 and 30, 1974 at Tonstudio Bauer, Ludwigsburg
Engineers: Kurt Rapp and Martin Wieland
Produced by Manfred Eicher
 
 
 

 

Ich lag in der Badewanne und begann mit der Lektüre von Wolfgang Sandners Keith Jarrett-Biographie. Schon auf der ersten Seite merkte ich, dass das Wasser etwas zu kühl war, und ich liess Heisses nachlaufen. Dabei vergass ich, dass die Regulierung des Wasserstrahls defekt war, ein heisser Strahl schoss auf die Kniescheiben, die aus dem Schaumbad herausragten. ein kurzer Schrei, das Buch flog durch die Luft, platschte ins Wasser, ich drehte den Hahn ab, fischte das Buch aus dem Wasser, und erholte mich von dem Schreck. Später liess ich das Buch in der Abendsonne trocknen, und bald klebten die ersten sechzig Seiten nicht mehr aneinander. Ich fliege durch das Buch, das einem falschen akademischen Ton widersteht, und doch sehr sachkundig ist. Anders als der Titel dieses kleinen Eintrags vermuten lässt, zähle ich den Pianisten nicht zu den „Amerikanischen Göttern“, weil mir die Verklärung des Genius von Artisten, auch solchen auf dem Hochseil, völlig fremd ist. Nach Heinrich Steinfests Das grüne Rollo lese ich schon wieder – parallel zu Sandner, der manchmal schon zu barocker Bilderflut neigt – ein Mystery-Buch, allerdings eins mit Thrillerelementen, Neil Gaimans vielgerühmten 600-Seiten-Schmöker American Gods. Und die ersten 65 Seiten haben mich regelrecht gefesselt. Vorhin aber, in der plötzlich hereinbrechenden Mittagssonne – ich liege im Garten auf der Wiese, links Gaiman, rechts Sandner – da meldet sich der kleine Hunger. Es ist Erdbeerzeit – Gregs, Jochen und Wolfram stecken heute im finalen Abstiegskampf – und ich bin ganz allein zuhaus. Von Büchern allein kann sich der Mensch nicht ernähren, der Sylter Rooibusch No. 23 (Sanddorn/Orange) scheint ein unerwartetes High im Hirn zu produzieren, ich schwitze, dusche kalt, und hole aus dem Keller einen Biskuitboden. Ich habe noch genügend frische Erdbeeren für mein sehr einfaches Tortenrezept. Ich schneide die Erdbeeren so, dass sie auf dem Tortenboden leicht aufliegen können. Ich mag überhaupt nicht dieses Gelierzeug, mit denen man die frische Fruchtmasse bindet. Deshalb verteile ich die Erdbeeren, konzentriert, doch mit entspannter Hand, etwa so, wie Zen-Inspirierte Brot schneiden (siehe dazu den Film DIVA von Jean Jacques B.), über den Biskuitboden, nachdem ich sie mit Rohrzucker gesüsst habe. So kommt diese Exzellenz-Torte dann auf den Tisch. Beim Schneiden in Portionen fallen dann etliche Erdbeeren über den Rand, ein munteres Gepurzel, und auch beim Essen bleiben die Beeren störrische Widersacher, aber das ist der Preis, den ich gerne zahle. Dazu dann nach Belieben frische Sahne. Ein Hochgenuss. Am Abend dann höre ich BOOK OF WAYS, Keith Jarrett solo auf einem Clavichord, anno 1987. Tolles Doppelalbum, viel besser als diese Orgeleien aus Ottobeuren auf HYMNS & SPHERES. Bin gespannt, was Herr Sandner zu diesen Platten schreiben wird. Der Roman AMERICAN GODS ist gerade bei Eichborn als Director’s Cut erschienen.

 

 
 
 

1) Keith Jarrett: The Survivors‘ Suite / 2) Keith Jarrett: Belonging / 3) Keith Jarrett / Jan Garbarek: Luminessence* / 4) Keith Jarrett: The Köln Concert / 5) Keith Jarrett: The Melody At Night With You / 6) Keith Jarrett: Book Of Ways / 7) Keith Jarrett Trio: Standards Vol. 1 / 8) Keith Jarrett Trio: Changes / 9) Keith Jarrett: Creation ** / 10) Keith Jarrett: Staircase / 11) Keith Jarrett: Bregenz / München / 12) Keith Jarrett: Fort Yawuh / 13) Keith Jarrett: The Sun Bear Concerts / 14) Keith Jarrett: Sleeper / 15) Keith Jarrett and Jack DeJohnette: Ruta and Daitya / 16) Keith Jarrett: Death and the Flower / 17) Keith Jarrett: Bremen / Lausanne ***

 
 
* dieses hohe „Ranking“ bei meinen „favourites“ mag einige verwundern, zumal Jarrett hier „nur“ komponiert, und selbst keinen Ton spielt, aber ich kann gar nicht beschreiben, wie sehr ich dieses Album liebe. Ach, würde Garbarek noch mal mit der Intensität von damals spielen!

** diese hohe Bewertung seiner jüngsten Soloaufnahmen ist gewiss nicht dem Effekt des „Neuen“ geschuldet!

*** kein Wunder angesichts dieser Liste, dass die „Nahaufnahme“ der nächsten Ausgabe der „Klanghorizonte“ sich mit dem „magischen Jahrzehnt des Keith Jarrett“ befasst, den Siebziger Jahren.
 


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