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Archives: Keith Jarrett

Über Facing You und Solo-Concerts Bremen Lausanne ist seit ihrem Erscheinen wahrlich viel gesagt und geschrieben worden, jedoch keine so denkwürdigen Geschichten, wie jene vom Köln Concert, das um ein Haar nicht stattgefunden hätte. Die wohl authentischste Version dieser *merckwürdigen* Anekdote kann man hier nachlesen.

 
 
 

      

 
 
 

Ich schreibe dieses Double Take aus zwei Gründen. Es gibt kaum ein Solokonzert von Keith Jarrett, das mich so bewegt, wie Lausanne Part II. Es gibt eine persönliche Geschichte, in der diese Aufnahmen eine gewisse Rolle spielen. Sie kann mit der, welche sich um das Köln Concert rankt, nicht konkurrieren. Beide Stories gibt es freilich nur deshalb, weil um das Jahr 1971 Manfred Eicher und Keith Jarrett zusammenfanden. 1970 war das Jahr, in dem ich Keith Jarrett für mich entdeckt habe, nicht aufgrund einer Empfehlung in einem Magazin oder einer Rundfunksendung, sondern eher zufällig – Details zu schildern, unterlasse ich. Nur so viel: das Charles-Lloyd-Quartet war das Initium.

 
 
 

 
 
 

Das ist ein Ausschnitt aus der Cover-Rückseite meiner ersten ECM Schallplatte. Die letzte Zeile ist bemerkenswert. Die Postadresse des Labels war identisch mit der Anschrift von Elektro Egger, München-Pasing Gleichmannstraße 10, wo es die legendäre Abteilung ‘jazz by post’ gab. Vielleicht ist manchem Leser das Label JAPO bekannt. Es ist leicht heraus zu finden, wie der Name zu deuten ist.

Bei dieser Adresse gab es Jazz nicht nur ‘by post’. Im obersten Stockwerk befand sich eine Schallplatten-Abteilung mit dem besten Jazz-Sortiment Deutschlands. Ich habe dort Nachmittage verbracht am Plattenspieler, umgeben von Regalen mit LPs. Man munkelt, dass mehrere 10.000 Vinyls vorrätig lagerten. Dort habe ich fast alle meine Charles-Lloyd-Scheiben gehört und gekauft, bevor ich durch die Lampenabteilung und an Waschmaschinen und Haartrocknern vorbei schlendernd den Laden von Elektro Egger verließ.

Jarrett war da noch weit weg, erreichbar nur auf Schallplatten, bald sogar auf solchen der Miles-Davis-Group. Im Oktober 1971 gastierte das Miles-Davis-Septet mit Keith Jarrett in München im Kongress-Saal des Deutschen Museums, mit dem Musiker, der mich damals wie kein anderer faszinierte – von den Beatles und Miles Davis einmal abgesehen. Es war das erste Mal, dass ich Jarrett live hörte.

Kurz darauf, im März 1972, kam Facing You zur Welt, im Hause ECM, in der GLEICHMANNSTRASSE 10. Es war ein wunderbarer Schock für mich. Diese Liaison! Unglaublich! Das Album wurde am 10. November 1971 in Oslo aufgenommen, einen Tag nach der Performance des Miles-Davis-Septet.

Piano Solo Alben waren damals im Jazz eher eine Rarität. Möglicherweise setzte ECM nachhaltige Impulse. Facing You und Chick Coreas Piano Improvisations Vol.2 erschienen am gleichen Tag.

In Front heißt das erste Stück. Ich habe seinerzeit die Titel nicht hinterfragt, ich habe sie einfach hingenommen. Jetzt, im Rückblick, hat in front, vorneweg, etwas Vorausschauendes. Es ist in nuce das erste Solo Concert Jarretts, ein Konzentrat von 10 Minuten Dauer, von einem Thema ausgehend frei vagabundierend und zu ihm zurück findend, und dennoch formvollendet. Starbright habe ich am 12. Juni 1972 im ARRI Kino München wiedergehört, als dort das Trio mit Haden und Motian auftrat. Es war die zweite Livebegegnung mit Jarrett.

Die dritte Begegnung ereignete sich am 27. März 1973. Jarrett spielte solo in Nürnberg im Saal des Heilig Geist Spitals. Den Flügel kannte ich von Proben her, die mein Freund Wolfgang Kelber für die Jugendgottesdienste in der Meistersingerhalle dort abhielt. Es war kein besonders gutes Instrument. Das Konzert – Eintrittspreis 2 DM – besuchten mehrere Oberstufenschüler des Kronacher Gymnasiums für die ich Tickets besorgt hatte. Im Musikunterricht hatten wir Facing You gehört und besprochen, auch die fantastischen Stücke des Charles-Lloyd-Quartetts. Jarrett spielte einen Set von fast einer Stunde Dauer, kam nach langem Beifall zurück auf das Podium mit einem Glas Wasser (Medizin?) in der Hand und erklärte, dass er leicht erkrankt und das Recital beendet sei. Eine Woche vorher, am 20. März 1973, spielte Jarrett das wunderbare Konzert in Lausanne.

Im Sommer 1973 hielt ich mich für ein paar Tage in München auf. jazz by post in der GLEICHMANNSTRASSE 10 besuchte ich natürlich. Ich hatte ein paar LPs ausgesucht und beim Bezahlen stellte ich 2 Fragen.

 

„Tät der Jarrett auch in der Provinz auftreten?“

Scho, wenn ses zoin.“

„Hat ECM was mit dem Elektro Egger zu tun? Is ja dieselbe Adresse.“

Net so recht. Die ham ihr Büro hindn im Rückgebäude. Schaugns halt amol dort vorbei.

 

Erst Jahre später habe ich erfahren, dass Manfred Eicher bei der Gründung des Labels ECM von Karl Egger unterstützt wurde. Ins Rückgebäude ging ich auf der Stelle. Im Büro war es sympathisch unaufgeräumt, auf einem Plattenspieler drehte sich eine Scheibe mit einem weißen unbedruckten Etikett. Ich hörte nicht genau hin, denn ich schwärmte von Jarretts Musik, erzählte, wie ich ihn für mich entdeckt habe und wiederholte meine Frage „tät der auch in der Provinz spielen?“. Die beiden freundlichen jungen Männer erklärten mir, ECM sei zwar keine Konzertagentur, aber sie vermitteln ihre Künstler gerne an Clubs und sonstige interessierte Veranstalter, ich möge einfach meine Adresse hinterlassen. Jetzt erst hörte ich genauer auf die Klänge aus den Lautsprechern. Kann es sein, dass ich Keith Jarrett zuhöre? So kam es mir vor. Ich wollte wissen, was da aufliegt. Es sei die Anpressung von Solokonzerten, gespielt in Bremen und Lausanne. Im Herbst würden sie in einer LP-Box erscheinen.

Von nun an bekam ich Post von ECM. Im August 1974 holte ich dieses Schreiben aus dem Briefkasten:

 
 
 

 
 
 

Man muss die Grafik anklicken, um zu sehen, was ECM 1974/1975 im Angebot hatte. Am 17. Januar 1975 kam es zur nächsten Begegnung. Es war die näheste.

 

Ich liebe vor allem sein Solospiel. Wenn ich Solo spiele, dann kann ich manchmal ein solches Level an Inspiration 5 Minuten halten, doch Keith Jarrett kann so etwas 40 Minuten lang tun. Er zapft da immer etwas an, etwas Göttliches, etwas, das man nicht in Worte fassen kann. Er erstaunt mich.

Brad Mehldau

 

Ja so ist es. Gemeint ist das freie Solospiel, nicht Improvisation nach einem vorgebenen Song, der eine Melodie, chord progressions, und seine Form als Richtlinie bereit stellt. Jarretts Solokonzerte der 70er Jahre waren riskante Wege ins Ungewisse, ohne Umkehr, Revision ausgeschlossen. Beethoven hatte Skizzenbücher, die den oft langen Weg bis zur endgültigen Gestalt eines Themas verraten. Lausanne Part II ist gewachsen wie eine unberührte Landschaft, voller Gegensätze, vollendet, unfassbar. Kann es sein, dass auch Jarrett ins Staunen geriet über diesen *einmaligen* Vorgang?

 

I believe in Music to the extent that it was here before we were. ln that sense, perhaps l’m not a musician. [..] I don’t believe that I can create, but that I can be a channel for the Creative. I do believe in the Creator, and so in reality this is His album through me to you, with as little in between as possible on this media-conscious earth.

Keith Jarrett (aus den liner notes zu ECM 1035/37)

 

Wer will, kann Lausanne Part II *mehrmalig* hören. Das tat ich und werde es noch oft tun. Nach und nach hat sich mir offenbart, wie konsistent und formvollendet sein Spiel ist. Kaum vorstellbar, dass Jarrett, als er dem Wirbel seiner Hände und Füße zuhörte, dies alles bewusst war. Es muss ein besonderes Flow-Erlebnis gewesen sein.


Chris Jarrett hatte Glück. Denn ihren großen Ehrgeiz lebten seine Eltern beim ältesten Bruder aus. „Besonders Keith sollte etwas Besonderes werden. Bei mir war der Druck zum Glück dann schon etwas weg. Wenn Keith sich für Mathematik statt für Musik interessiert hätte, wäre er jetzt sicher einer der besten Mathematiker weltweit.“ So aber wurde Keith Jarrett eben einer der berühmtesten Jazzpianisten. Und spielen die Brüder manchmal zusammen? „Nein“, sagt Chris Jarrett nicht ohne Selbstironie, „dafür sind wir alle zu eigen und zu eitel.“

 

aus NEUE OZ (2011)

 
 
 

 
 
 

Seit 25 Jahren (Anm. inzwischen seit 32 Jahren) lebt der in den USA geborene Musiker und Komponist Chris Jarrett in Deutschland. In seinen Stücken lässt er Jazz, Klassik, Avantgarde und Weltmusik auf atemberaubende Art und Weise verschmelzen. Dafür wird er von Musikjournalisten auch schon mal als „Rebell“ gegen das Pianoestablishment bezeichnet.

„Ich bin in erster Linie Komponist, das würde ich schon sagen. Das hat sich eher aus Zufall ergeben, dass ich mich mit dem Klavier beschäftigt habe, was damit zu tun hat, dass Virtuosität anerkannt wird, eher vielleicht noch als kompositorisches Können.“

Vital und impulsiv ist sie, die Musik von Chris Jarrett, voller Brüche und Überraschungen und niemals so leicht einzuordnen in die üblichen Kategorien des Musikbetriebes. Frank Zappa etwa gilt ihm genauso als Vorbild wie die Meister des Barock oder der Moderne. Dementsprechend offen ist auch sein Repertoire, das von atonalen Miniaturen über Sonaten, Filmmusiken, Ballett bis hin zur Oper reicht. Stilistische oder gar geograische Grenzen lässt der gebürtige Amerikaner nicht gelten:

„Ein Stil, der irgendwie mit etwas Wahrhaftigem zu tun hat, der kommt aus einem selbst. Natürlich sind die Einlüsse da, denen kann man sich auch nicht verschließen. Wir haben ja Internetverbindungen zu Algerien, Ägypten und es gibt youtube. Man kann sich jetzt also viel einfacher reinhören. Da man aber in der westlichen Tradition eingebettet ist, bleibt es nicht aus, dass diese Elemente gemischt werden mit anderen. Ich meine jetzt nicht bewusst ‚Wir mischen jetzt etwas zusammen‘, sondern: Die Liebe zu der Musik, die man hört und dass irgendetwas funkt im Kopfe, diese Mischungen sind interessant.“

Es ist eine ungewöhnliche Künstlervita, auf die der Mittfünfziger mit jugendlicher Ausstrahlung zurückblickt. Die äußere Erscheinung – untersetzt und muskulös, ein Geradeaus-Typ mit kräftigem Händedruck – lässt ahnen, dass er sein Leben nicht nur auf dem Klavierhocker verbracht hat.

 
Lesen Sie bitte hier weiter …

Eigentlich wollte ich nur einen weiteren Kommentar zu Michas La-Fenice-Review beisteuern. Das Vorhaben ist aber aus dem Ruder gelaufen. Deshalb erscheint es als eigenständiges Posting. Ich stimme vollkommen überein mit den Kommentaren von Micha und Jan. So gibt es im Grunde eigentlich nichts, worüber zu schreiben sich lohnt.
 
 

 

Als Facing You erschien, habe ich mich gewundert, dass in HiFi-Stereophonie dem Album nicht die höchste Bewertung zuteil wurde – 9 von 10 Punkten wurden gegeben, nach meiner Erinnerung. Ich fand das unverständlich. Für mich war die Platte sensationell. Die Kritik näherte sich damals behutsam diesem neuen jungen Wilden. Ja, es gab schon längst „Wagnerianer“ in den frühen 70er Jahren, aber noch keine „Jarrettianer“. Die gibt es aber jetzt, sie nähern sich gar nicht behutsam Jarretts Opera, sie schaffen es kaum, unter die Höchstbewertung zu greifen, es sei denn der Unantastbare gibt den Ton an. Reinhard Köchl ist zweifellos einer der mustergültigsten. Gehorsam verdammt er das „Köln Concert“. Das „Köln Concert“ hoch zu schätzen, kann folgenreich sein. Wolfgang Sandner hat das erfahren.
 

Einem Biographen, sagt Wolfgang Sandner, könne eigentlich nichts Besseres widerfahren, als sich vor Abschluss des Manuskriptes mit dem zu Porträtierenden zu überwerfen – der Autor sei dann befreit von Rücksichtnahme.
Der frühere FAZ-Redakteur spricht über sich selbst. Und es war ein tiefer Fall, denn Sandner ist weiter als die meisten Journalisten zum Objekt seines Interesses vorgestoßen: vom Händedruck beim Kennenlernen Anfang der 70er (eine Seltenheit in Jarrett´s Verhalten, wie er […] erzählt) bis zu einer Einladung samt Übernachtung in Jarrett´s Haus in Oxford/New Jersey im Oktober 1987 […]
Sandner triumphiert nicht über diese Audienz, er spricht in verhaltenem Reportage-Ton, auch den Bruch mit Jarrett auf der dritten Textseite, den er dem Buch damit quasi voranstellt, schildert er mit Noblesse und einem gewissen Verständnis.
Keith Jarrett war informiert über die Biographie und habe Interesse & Wohlwollen gezeigt, „bis es bei einer öffentlichen Feier nach einem seiner Solokonzerte zu einem kuriosen Disput zwischen uns über das Köln Concert kam. Dass ich dieses Konzert als einen seiner großen Erfolge bezeichnete, löste sein ausgesprochenes Missfallen aus und brachte unseren Dialog zum Erliegen.“

Michael Rüsenberg in JAZZCITY

 

Ich mag das „Köln Concert“ und finde nicht, dass es ein derart missratenes Kind ist, dass man es verstoßen müsste. Mr. Jarrett hat sicher gute Gründe dafür. Kennt sie jemand? Ich würde sie gerne erfahren.
 
 
Reinhard Köchl – ein Jarrettianer
 

Wie der Jazzpianist Keith Jarrett gerade drauf ist, das weiß seit Jahrzehnten eigentlich jeder, der sich für ihn interessiert. Seine Musik, die Titel und Beigeschichten seiner Liveaufnahmen übermitteln zuverlässig den gerade aktuellen emotionalen Pegelstand. Wie ein Regenradar zeigen sie zurückliegende oder anstehende Hoch- und Tiefdruckgebiete an, warnen vor Hurrikans und geben manchmal sogar Erklärungen für vergangene Katastrophen. Natürlich ist das auch der Fall bei der neuesten Veröffentlichung La Fenice, aufgenommen im gleichnamigen Theater in Venedig am 19. Juli 2006, einem der heiligen Konzertsäle der klassischen Musik.

Reinhard Köchl – ZEIT Online

 

Das ist eine gewagte These, die kaum zu beweisen ist. Umgekehrt wird eher was draus. „Musik ist dazu da, bestimmte Emotionen zu wecken und deren Reflexion“ – Worte von Josef Bulva (in FONO FORUM April 2017). Wir alle sind Opfer der Babylonischen Sprachverwirrung, welche sich nicht nur in der Existenz Hunderter verschiedener Sprachen und Dialekte manifestiert. Die Verwirrung fängt schon bei einem Wort, bei einem Begriff an. Nehmen wir „Emotion“.

Musik – nicht jede – kann uns bewegen (lat. = movere). Mehr sagt das Wort auf der elementarsten Bedeutungsebene nicht: Bewegung, im übertragenen Sinn auch Gemütsbewegung. Wie sich eine emotio konkret äußert, ist mit diesem bedeutungsoffenen Worte freilich nicht gesagt.

Nach meiner persönlichen Erfahrung und Anschauung können es psychosomatische Bewegungen sein, Fußwippen, Herumhopsen, Lust auf Tanzen. Vor allem als Kind und Jugendlichem ist mir (damals vorwiegend bei Mozart) die Gänsehaut den Rücken rauf und runter gelaufen. Mir ist auch schon passiert, dass ich zu Heulen anfing, nicht weil ich traurig war! ich war nur bewegt, ich war high von der Musik. Es kann sich ein unmittelbar sinnliches Lustgefühl einstellen, wie beim Essen einer Brotsuppe.

Nach meiner persönlichen Erfahrung und Anschauung können es rationale, kognitive Bewegungen sein, Auslöser etwa Tom Johnsons Musik und Fragen oder Failing, A Very Difficult Piece for Solo String Bass.
 
 

 

Nach Köchl soll die Musik Auskunft geben über den emotionalen Zustand des Künstlers. Radiance (2002), The Carnegie Hall Concert (2005), La Fenice (2006) , Paris/London (2008), Rio (2011), München (2016). All diese Konzerte zeigen Jarretts von der Anlage der Solokonzerte bis 1996 abweichendes Konzept – „nicht mehr endlos ins Offene treibend, vielmehr fokussierter“ wie Michael es perfekt, weil fokussiert, beschreibt. Wenn ich sie höre (München 2016 hörte ich im Gasteig) und von Titeln und Beigeschichten nichts weiß, ja, selbst wenn mir diese Titel und Beigeschichten im Kopf herumspukten, höre ich dem Paris/London nicht an, in welch verletztem emotionalem Zustand Jarrett damals gewesen ist.
 

Then my wife left me (this was the third time in four years). […] These were the first solo events since my wife had left. I was in an incredibly vulnerable emotional state.

Nach Köchl sollen die Titel Auskunft geben über den emotionalen Zustand des Künstlers. Nun, die Titel der Solokonzerte Jarretts sind überwiegend neutral, neutraler geht es nicht. Es sind Ortsangaben. Gut, die 10-LP-Box des Jahres 1976 hieß Sun Bear Concerts. Der Titel blieb mir immer ein kleines Rätsel – „Sonnen Bär Konzerte“. Ich habe keine Vorstellung davon, was ein Sonnenbär ist. Kann mir jemand helfen? Packt man die LPs aus, hält man dennoch japanische Städte in Händen. Die Box hätte genausogut „The Japanese Concerts“ heißen können.

Mit Radiance änderte sich diese nüchterne Namensgebung. Glanz, Leuchten – meinetwegen, etwas Chuzpe, warum nicht. Paris/London hat aber einen schwerwiegenden Beititel: Testament. Ich weiß noch, wie der mich in Verwirrung stürzte, als ich ihn las. Welt ade, ich bin dein müde? Zieht Jarrett sich vom Podium zurück? Wird er nie mehr einen Ton spielen? Ist er todkrank? Ich habe erst vor wenigen Tagen das Booklet von Testament gelesen.

Nach Köchl sollen die Beigeschichten Auskunft geben über den emotionalen Zustand des Künstlers. Da möchte ich doch eine Beigeschichte aus alten Zeiten vorstellen, eine Beigeschichte aus dem Jahr 1802.
 

O ihr Menschen die ihr mich für Feindseelig störisch oder Misantropisch haltet oder erkläret, wie unrecht thut ihr mir, ihr wißt nicht die geheime ursache von dem, was euch so scheinet, mein Herz und mein Sinn waren von Kindheit an für das zarte Gefühl des Wohlwollens, selbst große Handlungen zu verrichten dazu war ich immer aufgelegt, aber bedenket nur daß seit 6 Jahren ein heilloser Zustand mich befallen,, durch unvernünftige Ärzte verschlimmert, von Jahr zu Jahr in der Hofnung gebessert zu werden, betrogen, endlich zu dem überblick eines daurenden Übels das (dessen Heilung vieleicht Jahre dauren oder gar unmöglich ist) gezwungen, mit einem feurigen Lebhaften Temperamente gebohren selbst empfänglich für die Zerstreuungen der Gesellschaft, muste ich früh mich absondern, einsam mein Leben zubringen.
[…]
aber welche Demüthigung wenn jemand neben mir stund und von weitem eine Flöte hörte und ich nichts hörte, oder jemand den Hirten Singen hörte, und ich auch nichts hörte, solche Ereignisse brachten mich nahe an Verzweiflung, es fehlte wenig, und ich endigte selbst mein Leben – nur sie die Kunst, sie hielt mich zurück.

 

Das schrieb Beethoven im Oktober 1802. Es ist aus einem Brief an seine Brüder, den er nie abschickte, der, noch versiegelt, 1827 in seinem Nachlass gefunden wurde. Im Sommer des Jahres 1802 beendete er die Komposition der 2. Sinfonie. Es ist ein Stück von ausgelassener Heiterkeit, entstanden während einer Lebensphase voller Verzweiflung. Dieser Brief, das sog. Heiligenstädter Testament, ist eines der berühmtesten Dokumente der westlichen Musikgeschichte.

Erstmals gestern ist mir assoziativ eine Parallele aufgefallen, die als These formuliert die „küchenpsychologische“ These Köchls an Gewagtheit in den Schatten stellen würde. Bevor ich sie darlege, weise ich ausdrücklich darauf hin, dass es eine Schnapsidee ist. Das Linking Link heißt „Testament“:
 


I decided that if I backed down now, I would back down forever
(K. Jarrett)
 
frei übersetzt:
 
Es fehlte wenig, und ich endigte selbst mein Leben – nur sie die Kunst, sie hielt mich zurück
(L.v. Beethoven)

 
 

Mit der Annahme, ein Künstler würde in seiner Kunst sein Innerstes (immer) nach Außen kehren, ist Herr Köchl einer Anschauung verfallen, die historisch bedingt ist, die im 19. Jahrhundert wurzelt und auch nicht auf jeden Musiker des 19. Jahrhunderts zutrifft. Wenn ich könnte, würde ich Herrn Köchl fragen, ob er meint, dass der Küchenmeister des Grafen Esterhazy seinen Schmerz über den Tod seiner Gattin in den Speisen, die er zubereiten musste zum Ausdruck brachte.

Wir sollten uns klar machen, dass beispielsweise Johann Sebastian Bach – wenn er Hofkapellmeister war – zu den Bediensteten seines Fürsten zählte, wie der Stallmeister, der Küchenmeister und andere Meister. Da ging es nicht darum, sich selbst in der Musik, im Striegeln der Pferde und dem Kochen der Gerichte auszudrücken. Während der zweiten Reise nach Karlsbad, die J.S. Bach mit seinem Fürsten Leopold auf sich nehmen musste, ist er zum Witwer geworden.
 

Nachdem er mit […] seiner ersten Ehegattin 13 Jahre eine vergnügte Ehe geführet hatte, wiederfuhr ihm in Cöthen, im Jahre 1720 der empfindliche Schmerz, diesselbe, bey seiner Rückkunft von einer Reise, mit seinem Fürsten nach dem Carlsbade, todt und begraben zu finden; ohngeachtet er sie bey der Abreise gesund und frisch verlassen hatte. Die erste Nachricht, daß sie krank gewesen und gestorben wäre, erhielt er beym Eintritte in sein Hauß.

 

Seinen Kompositionen aus jener Zeit hört man nicht an, welcher Schicksalsschlag ihn getroffen hatte. Hiermit endet der Abschnitt über die Beigeschichten.

In Bachs Köthener Jahren sind die Suiten für Violoncello entstanden, die Kim Kashkashian so wunderbar auf der Viola interpretiert.

Guter alter Bekannter in meinem Plattenschrank. Keith Jarrett und seine Solokonzerte. Auf der Online-Plattform der „Zeit“ begeistert sich Herr Köchl so sehr, dass er sich kaum noch einkriegt. Am Köln Concert lässt er nicht viel Gutes. Und dann leistet er sich den küchenpsychologischen Leichtsinnsfehler No. 1 – dass die  Musik eines Improvisators immerzu und zuvorderst aktuelle Seelenzustände spiegeln würde. Uuuaaaaa! Nur weil Jarrett einmal in London sein Herz ausschüttete in den „liner notes“. Ich kann in La Fenice nichts entdecken, was mich vom Stuhl haut. Nach seinem „Chronic Fatigue Syndrome“ sind seine Soloauftritte nicht mehr endlos ins Offene treibend, vielmehr fokussierter.

Dennoch: ich erkenne, oder spüre die Muster, und niemand möge mir erzählen, es gäbe da, after all these years, keine Routine „im Schöpfen“ aus jenem Pool, in dem sich jahrzehntelange Erfahrungen, enormes Wissen und Können, Eingebungen des Augenblicks, das grosse weite Unterbewusste – und eben auch akute seelische Empfindsamkeiten versammelt haben. Ich mochte Keith Jarretts Solokunst weitaus mehr, als sie reines Abenteuer waren, in den Siebzigern, auch noch in den Achtzigern, bis hin zu den famosen italienischen Konzerten, versammelt in der kleine Kiste A Multitude of Angels. „Torino, Part 1“ (1996) ist eine weitere Stern(dreiviertel)stunde, in jenen Tagen wäre ich seiner Reiseroute durch Italien gern gefolgt. Natürlich gab es damals, in den frühen Zeiten, jenen „days of wine and roses“, Schwankungen, Tage ohne Feuer, keine Frage.

 
 
 

 
 
 

Aber nach wie vor kehre ich, immer wieder mal, über die Jahre, zurück, voller Entdeckungsfreude, zu den famosen Aufnahmen aus Köln, Bregenz, Wien, Bremen, Lausanne, und zu der Schallplattenkiste mit den „Sun Bear Concerts“. Jenen zehn Schallplattenseiten zu folgen, hatte damals auf mich eine ähnlich berauschende Wirkung, wie etliche Jahre vorher, in Jules Verne’s Reise zum Mittelpunkt der Erde zu versinken (und ich meine nicht all die niedlichen Verfilmungen des Stoffes). Ja, und als Manfred Eicher und Keith Jarrett einmal in Paris waren, entdeckten sie einen Flügel, einen Raum – und nahmen das fantastische Doppelalbum Staircase auf (es ging auch damals schon fokussiert, man denke nur an sein erste Soloalbum Facing You). Aber La Fenice zündet nicht, nichts transportiert mich irgendwohin, ausser zu meinen Erinnerungen. Es gefällt mir einfach nur, und wenn ich für „Down Beat“ eine Rezension verfassen würde, kämen drei Sterne zusammen. Da kann Herr Köchl (da können sie alle) erzählen, was er will (sie wollen). Und um es noch einmal ganz ausdrücklich zu sagen: ich liebe das Köln Concert.

 

Den klassischen Double-Take kennt man aus Stummfilmen, zum Beispiel bei Laurel and Hardy: ungerührt wird eine Aktion zur Kenntnis genommen, bis mit zeitlicher Verzögerung gestutzt wird, und der wahre Sachverhalt aufscheint. Wer unsere Double-Takes mit ECM-Platten kennt, wird natürlich nur eine minimale Reaktionszeit brauchen, um zu erkennen, dass Neil Youngs „Hitchhiker“ nicht zum ECM-Katalog zählt. Und doch haben diese beiden Schallplatten, die sich bei mir nie abnutzen, einiges geneinsam, man schaue nur auf die Umschattung der Coverfotografien.

Beide stammen aus den 70er Jahren, nur erschien Neil Youngs Soloperformance erst Jahrzehnte später – bei Jarrett stand „Facing You“ am Beginn vieler atemraubender Solodarbietungen. Im Studio waren aussser den Musikern jeweils nur zwei weitere Personen, Manfred Eicher und Jan Erik Kongshaug in Oslo, sowie  David Briggs und ein mit Neil befreundeter Schauspieler, dessen Namen mir gerade nicht einfällt, an der West Coast.

Beide Tonaufzeichnungen sind überragend, und was die Ausstrahlung der Musik angeht, sind „intimacy“ und „intensity“ zwei reflexhaft auftauchende Wörter, die auch kurzem Nachdenken standhalten. Der gebürtige Kanadier hatte ein Heimspiel auf seiner Ranch, Haschisch war in dieser Nacht dabei, und, was weiss ich, sonst noch. Er betrauerte en passant das Ende einer grossen Liebe, und David Briggs scheint den Regler für die Gitarre ein wenig aufzudrehen, während Neil Young  an den Versen von „Give Me Strength“ entlangtaumelt, in sanfter Bedröhnung. Und doch waren seine Sinne geschärft.

Sicher hat Keith Jarrett während der Aufnahme einen eher klaren (oder, Zen-technisch, leeren) Kopf gehabt, egal, wohin die Musik ihn transportiert hat. Manfred Eicher könnte sicher einiges zu dieser magischen Dreiviertelstunde erzählen, den Stunden davor, dem Tag danach. Die eine oder andere Frau geistert, schaut man sich die Titel an, auch durch diese Platte, die in einer Doppel-Besprechung im Down Beat neben Paul Bleys „Open, To Love“ auftaucht: beide erhielten fünf Sterne, aber das wäre ein anderer „Double Take“.

 

Großvater wir danken dir! So versuchte jedenfalls Loriot den Familiensegen bei den Hoppenstedts wieder in die Bahnen bürgerlicher Ordnung zu bringen. Wobei ich gerne und unumwunden zugeben will, dass auch mein Großvater mit einer sehr großzügigen Beteiligung einen zentralen Beitrag für die Anschaffung meines Klaviers leistete bzw. dies überhaupt erst möglich machte. Jetzt steht es mattschwarz und schon seit Jahren abbezahlt mir, während ich dies schreibe, gegenüber und läßt seine Basssaiten leise angesichts des heutigen Themas mitschwingen. Und natürlich kennt es die beiden Alben ganz genau von den kläglichen Anfängen bis hin zu dem Wohlklang, den mir günstigstenfalls zu erzeugen vergönnt war…

Als ich zum ersten Mal Sacred Hymns hörte, traf mich diese Musik in ihrer subtilen hypnotischen Wucht ungeheuerlich tief. Diese Auswahl von Stücken von Georges I. Gurdjieff, von Thomas De Hartmann für Klavier parallel in Echtzeit aus dem konzertanten Vorspiel Gurdjieffs selbst notiert und für Piano transkribiert, stellen eine ganz selbstverständlich klingende Melange aus orientalischen, asiatischen und rituellen Stücken mit europäischer Klassik dar, die in der asketischen und präzisen Interpretation Keith Jarretts mit großer Leichtigkeit innere Räume aufziehen. Räume, die neben ihrer melancholischen Dimension seelische Entwicklungsräume entfalten, was wahrscheinlich sogar Gurdjieffs hauptsächlichste Absicht darstellte, denn er spielte seine legendären Abendkonzerte im Schloss Prieuré des Basses Loges bei Paris seinen Zuhörern gewiss nicht zur bloßen Unterhaltung vor. Sein Ziel war vielmehr die harmonische Entwicklung des Menschen, was er zumindest mit seiner Musik bei mir, fast wie eine kleine Initiation, auch nach Jahrzehnten des Hörens noch bewirkt. Keine Frage, dass ich diese Stücke also auf dem Klavier spielen musste. Aber woher nehmen? Die Noten waren schon seit Jahrzehnten vergriffen und unbezahlbare Sammlerstücke. Und sich mit Keith Jarrett messen? Vermessen! So vergingen fast zwei Jahrzehnte bis sich endlich der Schott Verlag erbarmte und sämtliche von De Hartmann niedergeschriebenen Klavierstücke in vier Bänden wieder auflegte. Erlösung und Herausforderung zugleich über der aber bis heute eine ungeheure Faszination schwebt dieser frühen Weltmusik aus dem eigenen Urgrund etwas Leben einhauchen zu können. Keith Jarrett aber bleibt unerreicht, auch unter all den anderen Interpreten Gurdjieff’scher Musik, mit Ausnahme vielleicht von Elan Sicroff, der sich dieser Faszination auch vollständig ergeben hat.

Das Pendant dazu erschien nur wenige Jahre später: Children’s Songs von Chick Corea. Pendant, weil diese Musik leicht, fröhlich und ganz und gar nicht so schwermütig auf mich wirkte. Und einfach nicht so abgenutzt klassisch klang, da hier Jazzelemente und die ungeheure Improvisationserfahrung Corea’s in einfachen, aber sehr archaisch klingenden Pianostücken, daherkamen. Sie laden mich ein ihren inneren Weg zu erkunden, die Stimmungen, die Klarheit und die lichte Weite. Auch musste ich hier gar nicht lange auf die Noten warten, die sich aber erst mal als nicht so einfach herausstellten. Chick Corea ist halt schlichtweg ein wesentlich versierterer Pianist als es Gurdjieff als Autodidakt auf seinem Harmonium je war, was sich aber zum Glück nicht als unbewältigbar herausstellte: es sind ja schließlich Children’s Songs. 

Seitdem sind viele, viele Jahre vergangen. Beide Alben gehören immer noch zu meinen Lieblingspianoalben, beide berühren mich immer noch aufs Neue. Und es waren die letzten Stücke, die mich verführen konnten, sie nach Noten auf dem Klavier zu spielen. Danach zog es mich auf das offene Meer improvisierter Musik, weg von den Bastionen des Reproduzierbaren immer weiter hinaus mit der bis heute unstillbaren Sehnsucht Strukturen und Patterns zu zerschlagen, um mich einer vielleicht nicht selten verstörenden Schönheit des Augenblickes immer tiefer anzunähern. Aber so blieben Sacred Hymns und Children’s Songs das letzte Stückchen Festland vor den Aufbruch, Finisterre.

 
 
 
       
 

 

 

Jeder, der sich für Jazz / Musik interessiert, kommt in diesen Wochen an dem Cover der neuen Platte von Kamasi Washington nicht vorbei. Wir werden uns hüten, es hier nochmals aufzutischen. Offensichtlich sind da beträchtliche Werbegelder im Spiel, und die Musikkritik zeigt sich überschwänglich. Wer so blöd ist, da gleich den neuen Coltrane wahrzunehmen, wie des öfteren passiert, anlässlich des kräftig gehypten Debuts, nimmt sich selbst aus dem Feld. Was ich über die Musik lese, ihren Mut zum Pathos, zum grossen Klangtheater, etc., lässt mich eher zaudern, sie anzuhören. Das Schlimmste ist das Cover von „Heaven and Earth“: als könnte der aufgebrezelte Kamasi über Wasser gehen. Ein Götterbote, mindestens. Pseudomystischer Overload. Wie sehr mag ich dagegen ein ähnliche Motiv ohne posierendes Ego: die vier Luftballons auf dem Cover von Keith Jarretts „Belonging“.  Und wie sehr schätze ich, im Kontrast zu Kamasis Kitsch, das Cover der neuen CD von Graham Nash (Gregor öffnete seinen Plattenschrank dazu, vor Tagen): ein Junge schaut mit seinem Fernrohr auf ein riesiges Naturpanorama. Beide Bilder inszenieren Natur, aber bei dem Cover der übrigens betörend schönen Arbeit („Over The Years“), Demo-Versionen bekannter und weniger bekannter Lieder des alten Barden, spielen Staunen und Nostalgie auf durchweg sympathische Art mit, und die Lieder zahlen diese Mixtur aus Einfachem und Profundem mit Mehrwert zurück, und vollkommen reduziert. Was für eine Zeitreise, ohne Prätention und Zirkusgehabe. (Und wie ich die Musik von K.W. wohl empfinde, nach dieser Vor-Urteilsbildung, sollte ich sie wirklich einmal hören!?). Und wenn diese zwei Cover auf so unterschiedliche Art mit dem Motiv „grandioser Natur“ umgehen, wie umschattet wirkt da die Bebilderung des Soloalbums von Stuart Staples – auch da taucht der Himmel auf, in einem Bild von Suzanne Osborne. Ursprünglich wollte Claire Denis Suzannes Serie von 365 Ölgemälden, mit dem Himmel als durchgehendem Raum, in einen Film verwandeln. Als Langzeitlauscher der Tindersticks wartet „Arrhythmia“ daheim auf mich, ich kenne keine einzige Komposition, ahne aber, dass die Musik bestens passen wird in die Klanghorizonte im August, vor oder nach zwei, drei Stücken der kommenden CD von Tord Gustavsen. Von der ich gleichfalls noch keinen Ton gehört habe.

Kongreßsaal – so darf man das seit 1996 nicht mehr schreiben. Duden empfiehlt „Kongresssaal“, lässt aber auch „Kongress-Saal“ zu („Konzert-Saal“ dagegen ist ein orthografischer Fehler). Mir sind drei s in Folge zuwider. Ich bin da nicht allein, wie man auf diesem Ticket aus dem Jahr 1977 erkennen kann.
 
 
 

 
 

Ohne besondere persönliche Gründe gäbe es keinen Anlass, vom KONGRESS-SAAL IM DEUTSCHEN MUSEUM zu berichten. Dieser einst bedeutende Konzertsaal ist – man muss es so sagen – heruntergekommen. Vor wenigen Tagen war ich in München, an einem kühlen sonnigen Frühlingstag. Wir machten einen ausgedehnten Spaziergang, Wege, die ich zur Zeit meines Studiums und die Jahren danach oft gegangen bin: Musikhochschule, Brienner Straße, durch den Hofgarten an der Residenz vorbei, die den Herkulessaal beherbergt. Entlang der Isar gelangt man zum Gasteig, dann sind es nur ein paar Schritte und ich stehe vor den verschlossenen Türen des Kongreßsaals. Wenn ich an diesen Orten vorbei schlendere tauchen Erinnerungen an fantastische Konzerte auf. Den mächtigsten Eindruck hinterließ der Auftritt des Miles-Davis-Septets im Kongreßsaal des Deutschen Museums im Herbst 1971. Am Osterwochende brachte Ö1 den Mitschnitt des Auftritts dieser Band vom 5. November 1971 in Wien – ein weiterer Finger auf … nein, nicht eine Wunde, eher auf eine erogene Zone.
 

Hauptsächlich ging es mir gar nicht um Miles Davis, sondern um Keith Jarrett. Seit ich ihn auf Forest Flower gehört habe, bin ich unheilbar infiziert. Jetzt konnte ich ihn zum ersten Mal live hören, es war atemberaubend, natürlich nicht nur seinetwegen, sondern auch wegen der brachialen Energie, welche das Miles-Davis-Septet verstrahlte. Wir saßen vorne links in der ersten Reihe.
 
 
 

 
 
 

Ein paar Reihen hinter uns waren noch besetzt, dann gähnende Leere. Ich schätze, es waren circa 500 Besucher im Saal, der an die 2500 Plätze bot. Keine fünf Jahre früher habe ich im Kongreßsaal das Dave-Brubeck-Quartet und das Oscar-Peterson-Trio gehört – volles Haus! Vielleicht hatte Miles Davis mit Bitches Brew sein altes Publikum (zumindest in München) verschreckt.
 

Während jener Tournee spielte die Miles-Davis-Group häufig zwei Konzerte an einem Abend, die um 19 und 22 Uhr begannen. Wir hatten Tickets für die 19 Uhr Vorstellung. Nach dem ersten Auftritt kam ein Mitarbeiter des Veranstalters auf die Bühne und bot allen im Saal an, mit der 19 Uhr Eintrittskarte zur 22 Uhr Vorstellung zu kommen. Dafür seien noch deutlich weniger Plätze verkauft worden, das wäre ja ein Affront den Musikern gegenüber. Klar, wir blieben.
 

Ich musste nach beiden Aufführungen noch zurückfahren, bis nach Kronach, und bin wohl gegen 4 Uhr morgens ins Bett gekrochen. Am Vormittag war Schultag. Ich wohnte zur Miete bei einer Familie, deren Sohn Werner – er wurde ein guter Freund von mir – Schüler in der Abiturklasse war. Nachmittags schwärmte ich vom Erlebnis des Vorabends, offenbar eindrücklich. Denn als ich anfügte, das Miles-Davis-Septet spiele diesen Abend zu Frankfurt-Hoechst in der Jahrhunderthalle meinte er, man solle unbedingt dorthin fahren. Ich sei dazu wegen Schlafmangels nicht in der Lage sagte ich und lehnte ab. Werner rief seinen Freund Wolfgang an, der seit ein paar Wochen den Führerschein besaß. Er war bereit zu fahren, ab 18 Uhr – er leistete Zivildienst. Telefonische Kartenreservierung, kurz vor 22 Uhr trafen wir in der Jahrhunderthalle ein.
 

Innerhalb von 30 Stunden dreimal das Miles-Davis-Septet live hören – das muss man erlebt haben! Wolfgang hat uns in meinem VW-Käfer, der 2 Jahre später im Oktober 1973 verendete, sicher chauffiert.

Wenn das Neue seinen Reiz verliert, sind die griffigen Vokabeln zur Hand. Aber wenn das Neue sich nicht darum schert, das Neue zu sein, fallen die meisten Worte ins Leere, das Abenteuer bleibt bestehen: den ersten Ton anzuschlagen, der Entfaltung einzelner Motve und Motivketten mal verblüfft, mal zweifelnd zu folgen, Atem zu holen, Laut zu geben (Jarretts Stöhnen ist nicht inszeniert, vielmehr Begleiterscheinung eines Ekstatikers bei der Arbeit), zwischen Stilen und Jahrzehnten fündig zu werden (als wäre es ein erstes Mal, kein Zitatenschatz). Und so gibt es hier, in diesen vier italienischen Konzerten aus den Neunziger Jahren , einiges mehr zu bestaunen, zu belauschen als in der zu obsessiv betriebenen Triobearbeitung alter amerikanischer Songblätter. Aus ungenannten, mediterranen Quellen wurde mir das Material der vier Konzerte vor Wochen zugespielt, und ich schmuggelte Ferrara (oder war es Modena) in eine Radiostunde nach Mitternacht. Es war mir ein Fest. Und jetzt reden Sie jetzt bitte nicht vom Köln Concert. The sounds they are a’changin‘! So weit, so gut, und neben A MULTITUDE OF ANGELS ist heute auch FLOTUS von Lambchop erschienen. Es gibt letzteres sogar in einer Edition mit Whisky.

Samstag 16. Juli 2016 – München, Gasteig
 
Keith Jarrett, piano solo
 
Ich habe Jarrett am 23. Oktober 1992 im Gasteig zu München live gehört und damals beschlossen, kein Konzert Jarretts mehr zu besuchen. Warum?

Jenem Konzert drohte der Abbruch. Es stimmt schon, in den ersten 10 Minuten wurde gehustet wie in einer Lungenheilanstalt. Jarrett hörte auf zu spielen, wandte sich zunächst freundlich ans Publikum: „can we cough all together at the same time?“, worauf es lange ruhig blieb bis eine weitere Ermunterung ein paar bemühte Verhüstungen hervorrief. Es dauerte nicht lange bis zum nächsten Einhalt. Diese Unterbrechung war jedoch ernster, unangenehmer, denn Jarrett verließ die Bühne, Ende der Vorstellung? Es schien so, denn es dauerte lange, bis er zurück kam. Zuhören mit einer Schlinge um den Hals, die bei jedem Husten im Saal sich enger zusammen zieht, ist nicht mein Ding.

Mit einem solchen Vorfall hatte ich nicht gerechnet. In jenen Zeiten des Praeinternetikums war die Kunde von Jarretts Publikumsbelehrungen noch nicht bei mir eingetroffen. Im Oktober 1992 besuchte ich das zwölfte Mal ein Konzert von bzw. mit Keith Jarrett. Nur einmal erlebte ich eine Unterbrechung. Das war beim Auftritt seines Amerikanischen Quartetts 1976 bei Jazz-Ost-West in Nürnberg, wo er nach wenigen Sekunden sich an die Herde von Fotografen wandte: „If you don’t know when to take pictures – I don’t want any pictures – we stop immediately“. Einverstanden. Es sei gesagt, dass es das sog. Ambiente Konzert war, bei dem simultan im Großen Saal, im Foyer und im Kleinen Saal der Meistersingerhalle Bands spielten und die Besucher nach gusto hin und her wanderten. Es gab Unruhe die Fülle als Jarrett, Redman, Haden und Motian eine fantastische Performance der „Survivors’ Suite“ spielten – ohne weitere Unterbrechung!

Nun habe ich doch noch einmal ein Jarrett Konzert live erlebt. Leise muss es da zugehen.
 
 
 
Jarrett2016
 
 
 

Dieses Ticket war ein Geschenk, das mir zwei Tage vor dem Event zugefallen ist. Natürlich ist mein 1992 gefasster Vorsatz obsolet geworden. Aber was ihn auslöste spielt freilich eine Rolle, zumal medial vermittelte „Erkenntnisse“ über Jarretts gelegentlich sogar unflätige Belehrungen des Publikums, über seinen neurotisch anmutenden Zwang, mangelnde Konzentrationsfähigkeit des Publikums zu beklagen etc. den zum künstlerischen Hochamt Pilgernden begleiten. Die frischen Nachrichten kamen aus Wien – vom 9. Juli 2016.

Keith Jarrett tritt nicht auf, um Mühselige, Beladene oder Gutgelaunte zu erquicken. Er verlangt dem Publikum Einiges ab, wobei die einfachste Übung darin besteht, SmartPhones still zu legen und auf schlecht belichtete SmartPhotos zu verzichten – eine Aufgabe, an der mindestens 2 Wiener scheiterten. In München – und wie ich erfahren habe auch in Wien – gab sich der Veranstalter alle Mühe, das Publikum auf Jarretts Ansprüche vorzubereiten, niemand sollte versehentlich einen Eklat provozieren. Auf jedem Sitz lag ein Infoblatt mit Verhaltensregeln, zu denen auch ein Fotografierverbot während des Schlussbeifalls (!) zählte. Der Saal wurde verdunkelt, die Seitentür zur Bühne öffnete sich, und es trat auf … ein abhängig Beschäftigter der Veranstalterfirma, welcher den Text des Infoblattes vorlas, das Blatt wendete und alles in English wiederholte.

Ich bin trotzdem auf das Schlimmste gefasst, aber es kommt ganz anders. Das Publikum ist lautlos still und bleibt es nach dem einleitenden sperrigen Jarrett’schen Impromptu. Eine lange Generalpause, dann Jarretts erste kurze Ansprache: man möge ruhig applaudieren, wenn einem danach ist – Erleichterung auf beiden Seiten. Das zweite Stück ist von düsterer Art. In den anschließenden Miniaturen erklingen hellere Farben, fassliche Melodien, es folgen glitzernde Passagen, pianistische Bravourstücke, impressionistische Klänge. Gelöst und ohne jeden Hinweis auf einen Verfall der guten Atmosphäre geht es durch den zweiten Teil.

Zu Jarretts Konzerten gehören offenbar Ansprachen, dem Vernehmen nach meistens Belehrungen oder gar Beschimpfungen. Er hält im zweiten Teil eine längere Vorlesung, sie handelt von den Herausforderungen an einen Improvisator, der sich nicht wiederholen, der nicht in Routine verfallen will, davon, warum er nach weit über 100 Solokonzerten immer noch die Anstrengungen von Solo Recitals auf sich nimmt – „who else will do it?“

Er schließt, sich gut gelaunt entschuldigend, mit „Why am I giving a lecture?“ Ich höre ein „thank you“ und halte das für mehr als eine höfliche Floskel der Art thank-you-for-listening

Zurück zum Pianoforte für einen stilisierten Blues und ein paar schöne Préludes vor herrlichen Zugaben: „Answer Me, My Love“, eine zweite, die mir kein Standard zu sein schien, und „Somewhere over the Rainbow“. Standing Ovations nach jeder Zugabe, ich hatte den Eindruck, es könne sogar ein viertes Encore geben. Es war ein großartiges Konzert. Dann ist es doch passiert – ein paar SmartPhlitzlichter …

 

Ferdinand Ries

 

Dieser Marsch veranlaßte übrigens das Gute, daß Graf Browne gleich die Composition dreier Märsche zu vier Händen, welche der Fürstinn Esterhazy gewidmet wurden (Opus 45), von Beethoven begehrte.
Beethoven componirte einen Theil des zweiten Marsches, während er, was mir noch immer unbegreiflich ist, mir zugleich Lection über eine Sonate gab, die ich Abends in einem kleinen Concerte bei dem eben erwähnten Grafen vortragen sollte. Auch die Märsche sollte ich daselbst mit ihm spielen.
Während Letzteres geschah, sprach der junge Graf P…. in der Thüre zum Nebenzimmer so laut und frei mit einer schönen Dame, daß Beethoven, da mehrere Versuche, Stille herbeizuführen erfolglos blieben, plötzlich mitten im Spiele mir die Hand vom Clavier wegzog, aufsprang und ganz laut sagte: „für solche Schweine spiele ich nicht.“
Alle Versuche, ihn wieder an’s Clavier zu bringen, waren vergeblich; sogar wollte er nicht erlauben, daß ich die Sonate spielte. So hörte die Musik zur allgemeinen Mißstimmung auf.

 

 (vorgefallen im Jahr 1803)

 

 

Montag 18. Juli 2016 – München, Tollwood Festival

 

Jamie Cullum

 

Der Besuch eines Jamie Cullum Konzerts ist bei uns ein Familienausflug, dreimal schon hat das stattgefunden. Da geht es ganz schön laut zu. Ich habe mich nicht vorne in Nähe der Bühne aufgehalten, sondern hinter dem Geviert der Licht- und Tontechnik. Vielleicht ist dort der Sound der bestmögliche im Tollwood-Zelt. Eine Schalldruckanzeige verrät präzise, wann es ratsam wird, die Ohren zu schützen. So weit kam es nicht, 103 dB war der einmalige Spitzenpegel. Außerdem gab es kühlende Ventilatoren für die Belegschaft und einen großen Flachbildschirm – ich hatte also beste Sicht auf die Bühne und Jamie Cullums Finger.

 
 
 

 Cullum2016

 
 
 

Jamie Cullum tritt auf, um viele Gutgelaunte zu erquicken. SmartPhotos ohne Blitzlicht, gedacht für den Privatgebrauch sind erlaubt – so die Durchsage des Veranstalters. Jazz mit Popschminke, Pop mit Jazzschminke unterhalten mich glänzend. Jamie, das Energiebündel, ist ein wirklich guter Klavierspieler und Crooner mit einer perfekten Band. Große Überraschungen gibt es nicht und bald fühle ich mich wie im Fußballstadion, umgeben von Fangesängen, die Songs werden mit Jubel begrüßt wie Kicker, wenn sie in die Arena einziehen. Jamies Intros funktionieren, wie Ansagen des Stadionsprechers. Beim nächsten Familienausflug bin ich bestimmt wieder dabei.

 

fast vergessen: Jamie Cullum ist ebenfalls in Wien aufgetreten.


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