Mit Secret Defense (1998) griff Jacque Rivette das Genre des Thrillers auf und interpretiert es auf faszinierende Weise auf seine eigene Art. Der Motor der Geschichte ist eine Variation der altgriechischen Orestie. In der klassischen Orestie rächen die Geschwister Orest und Elektra den Tod ihres Vaters Agamemnon. Im Jahr 1937 veröffentlichte Giraudoux eine wenig bekannte Version der Orestie, von der Rivette sich inspirieren ließ. An sich waren die Akten über den Tod des Vaters, der aus einem fahrenden Zug stürzte, seit fünf Jahren geschlossen. Eine Fotografie, die der Sohn Paul von einem Bekannten erhalten hat, bringt neue Umstände ans Licht. Pauls ältere Schwester Sylvie, erfolgreiche Biologin in der Krebsforschung, will ihren Bruder davon abhalten, unüberlegt zu reagieren. Sylvie, brillant gespielt von Sandrine Bonnaire, ist die zentrale Figur des Films. Sie bestimmt die Erzählstruktur, die sich nach einem entscheidenden Ereignis komplett verändert, vom zielgerichteten Handeln zur Erstarrung, einem Geschehenlassen, einer Wahrnehmung nur noch im ungefähren und vagen. Frühstück mit Kaffee, Rührei und Rotwein. Wie unscharf und überbelichtet nun die Kinder der Hausangestellten im Garten herumtollen. Wie bei Merry-Go-Round spielt das Vaterhaus eine große, symbolische Rolle: Hier ist es ein traditionsreiches Gebäude aus dem 17. oder 18. Jahrhundert mit einer großen Bibliothek, echten Gemälden, repräsentativen riesigen Räumen und einer großzügigen gewundenen Treppe. Das Anwesen liegt abgelegen in Chagny, südlich von Dijon, und es gehört der Familie nicht mehr. Wie Sylvie mit dem Zug von Paris zum Landhaus in Chagny gelangt, zeigt der Film sehr genau, in einer legendären Sequenz, die ungefähr 20 Minuten dauert und in der fast kein Wort gesprochen wird. Die Reise als Persönlichkeitsverwandlung. Sylvie ist nicht geschickt darin, sich unauffällig zu verhalten. In Paris hat sie noch schnell zwei billige Sonnenbrillen gekauft, die sie erst auf der Toilette des TGV anprobiert. Sie blafft einen Fahrgast im Bistro an, der sie anschaut, wie sie Wodka auf Eis aus einem Plastikbecher trinkt. Am Bahnhof von Chagny – es ist inzwischen dunkel – vermeidet sie es, mit dem Bus zu fahren, dreht sich aber ins Scheinwerferlicht, als der Bus sie überholt. Den Vater haben wir nur auf dem Foto gesehen, die Schwester auch. Die Mutter lebt in der Nähe des Landhauses und fertigt Skulpturen weiblicher Körper an. Immer wieder werden in Secret Defense Pistolen verlagert: aus einer Schublade, in eine Reisetasche, aus einer Reisetasche, in eine andere Schublade. Und es gibt das Motiv der Doppelgängerin und des Wiederholungszwangs, ähnlich wie in Hitchcocks Vertigo. Jacque Rivette versteht es, durch diskrete, aber entscheidende Andeutungen eindringliche Bilder und Szenerien im Zuschauer zu erzeugen, die umso stärker wirken, weil sie nicht gezeigt wurden. Da genügt nur ein Satz oder ein paar benutzte Gummistiefel auf der Treppe. Secret Defense (Geheimsache / Top Secret) ist ein ruhiger Film und aus meiner Sicht einer der besten von Rivette. Am Ende sitzen wir sprachlos da und können nachdenken über Gerechtigkeit, Familie und Freiheit, Widersprüche und offene Fragen.
Archives: Jacques Rivette
2019 24 Okt
Im Sog der Familienstruktur
Martina Weber | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags: Jacques Rivette, Sandrine Bonnaire, Secret Defense | Comments off
2019 24 Sep
Keiner weiß mehr
Martina Weber | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags: Jacques Rivette, Rolf Dieter Brinkmann | 2 Comments
Sprechen Sie den Titel halblaut vor sich hin. Überlegen Sie vielleicht vorher kurz, oder überlegen Sie besser nicht. Diese drei Worte, jeweils anders betont, und die Bedeutung verschiebt sich. Es ist der Titel des einzigen Romans von Rolf Dieter Brinkmann, der im Jahr 1968 bei Kiepenheuer & Witsch erschien. Am 21. November 1967 las Brinkmann im Studio des Deutschlandfunks aus dem Manuskript und sprach anschließend mit dem damaligen Literaturredakteur Wolfgang Pehnt. Eine Wiederholung dieser Aufnahme habe ich heute gehört. In Brinkmanns Buch gibt es keine klassischen Handlungsstränge, dafür Beschreibungen, Erzählungen und Eindrücke des männlichen Protagonisten über das, was Brinkmann „die Schwierigkeiten zwischenmenschlicher Beziehungen“ nennt. Es ist der Beginn der Popliteratur in Deutschland. Im Gespräch sagt Brinkmann: „Ich glaube, dass ein Roman in manchen Passagen sehr grob geschrieben sein muss, um sich zu sträuben gegen eine schnelle und voreilige Aufnahme des Themas und des Dargestellten. Es muss im Leser selbst Widerstand hervorrufen.“ Brinkmann diagnostiziert ein Erstarren der Menschen in „Sachzusammenhängen und in der Fremdbedeutung von Sachen, die nicht von ihnen selbst geschaffen wurden.“ Das Jahr 1968 mit seinen Umwälzungen stand erst noch bevor. Es war ein souveränes Interview. Es ist lange her, dass ich mir das Buch gekauft habe und mich dann aber doch nicht hineinvertiefen konnte, weil es mich nicht gepackt hat. Nun, da ich Brinkmann zugehört habe, fasziniert mich der Rhythmus in seiner Sprache, die Genauigkeit der Beobachtung und die Art des sprachlichen Geflechts: intelligent, komplex und unkalkulierbar. „Keiner weiß mehr“ – so wurde der Titel eines Films von Jacques Rivette im Abspann auf der DVD übersetzt: „Va Savoir“. Es ist eine Redewendung. „Keiner weiß mehr“ ist eine poetische Übersetzung, korrekt wäre auch „Keine Ahnung“, „Was weiß ich“ oder „Weiß der Kuckuck (Teufel, Geier, etc.)“ gewesen. Der Film zählt zum Spätwerk Rivettes. Ein wichtiger Teil des Lebens spielt sich hier auf einer Bühne ab, deren Grenzen verwischen. Wie immer bei Rivette sehen wir von Paris nur ein paar Nebenstraßen, Hauseingänge, Dächer von Häusern. Wir erfahren von einem ungewöhnlichen Detail in der Organisation des französischen Bibliothekswesens und wie man die Regeln des Duells ins frühe 21. Jahrhundert übertragen kann. Am meisten erstaunt hat mich hier die Unberechenbarkeit der Charaktere. Und wie sie sich von dem, was ihnen am wichtigsten erscheint, befreien.
2019 7 Sep
Das Knistern zwischen den Schnittstellen
Martina Weber | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags: Jacques Rivette | 3 Comments
Unter den Filmemachern der Nouvelle Vague war Jacques Rivette der Beschwörer des Magischen und Mysteriösen. Es waren die Tagebücher von Jean Cocteau aus den Jahren 1945/46, die dieser während der Dreharbeiten an Beauty and the Beast geschrieben hatte, die Rivettes Begeisterung am Film entfachten. Er beschloss, Filme zu drehen, mit anderen gemeinsam an etwas zu arbeiten, nicht für sich allein. Er zog nach Paris und begann damit Filmkritiken zu schreiben. Es waren die Jahre, in denen er zwanzig Mal in der Woche ins Kino ging, manchmal in vier Vorstellungen an einem Tag, alle interessant: DeMille, Warhol, ein japanischer Film ohne Untertitel. Die Katogorien von Zeit und Raum lösten sich auf. Schnell lernte Rivette die späteren Hauptfiguren der Nouvelle Vague kennen. Merry-Go-Round (1981) entstand auf Wunsch von Maria Schneider, die Rivette vorschlug, einen Film mit ihr und Joe Dallessandro zu drehen. Als Ausgangspunkt für ein Zusammentreffen der beiden ließ Rivette sie im Film durch eine andere Person – die Schwester der einen, die Freundin des anderen -, in eine Hotelhalle nach Paris lotsen. Doch die Schwester bzw. Freundin erscheint nicht. Der Film wirkt zum Teil wie ein Experiment der Art, was passiert, wenn Maria Schneider (als Léo) und Joe Dallessandro (als Ben) gemeinsam vor der Kamera in ihren Rollen agieren. Der Dreh zog sich hin, Schneider und Dallessandro verstanden einander nicht. Neben persönlichen Spannungen gab es ernsthafte gesundheitliche Probleme der Beteiligten und zehn Mal wurde erwogen, das Projekt abzubrechen. Man merkt schnell, dass der Film seine Qualität vor allem durch die Montage erhielt und durch das, was zwischen Schneider und Dallessandro geschieht und was nicht geschieht. Die Faszination der beiden ist enorm und trägt den gesamten Film, auch wenn er sich mit seinen zweieinhalb Stunden ziemlich in die Länge zieht. In Anbetracht der Situation, in der sich die Schwester bzw. Freundin befindet und der dramatischen Hintergründe, die nach und nach enthüllt werden, wirken Léo und Ben fast surreal entspannt. Dallessandro verkörpert den Womanizer und Schneider spielt die jüngere Schwester: tough, lässig, unabhängig, intelligent und impulsiv. Merry-Go-Round öffnet einige parrallel laufende Räume, innere und äußere, zwischen Verschwörungskomplotten und suspekten Nebenfiguren, abgelegenen leerstehenden Bürgerhäusern, gefährlichen Begegnungen in den Dünen und im Laubwald, Transiträume, Pariser Vorortstraßen, einem Übungsraum, in dem Barre Phillips und John Surman musizieren. Ich mochte die Energie, die darin steckte, wenn Léo und Ben einfach nur nebeneinander saßen, sei es auf einer Gartenmauer oder auf einem alten Sofa. Gegen Ende gewinnt der Film an Tempo. Es gibt eine kleine Schlägerei, bei der es so offensichtlich ist, dass die Schläge gefakt sind, dass ich mich frage, ob es beabsichtigt war oder ob die Aufnahmen einer anderen Kamera verloren gegangen waren und es keine Kapazitäten mehr gab, um die Szene nochmal zu drehen. Der Schluss des Films lässt uns, wie Léo, sprachlos und irritiert zurück. „Jacques Rivette hat“, sagte Jonathan Rosenbaum, „das Kino mit ein paar Filmen in die Luft gesprengt.“
2013 10 Jun
Jacques Rivette
Michael Engelbrecht | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags: Jacques Rivette | Comments off
Als Teenager gehörten die Filme von Claude Chabrol und Francois Truffaut zu den guten Dingen: Chabrol liess die Fassaden des Bürgertums bröckeln, und Truffaut irrte mit Jean Pierre Leaud durch endlose Wirrungen des Eros. Früh in der Studentenzeit wurde aber Jacques Rivette mein ganz persönlcher „Held“ unter den Regisseuren der Nouvelle Vague. Er improvisierte mit seinen Darstellern in einem Paris fernab des kämpferischen Zeitgeists. Liebe, Verschwörung und andere Rätsel wurden zwar selten gelöst, doch stets in eine besondere Aura getaucht: die wunderbaren Hauptdarstellerinnen von „Celine und Julie fahren Boot“ bewegten sich voller Anmut, gleichzeitig im Stolperschritt, durch ihre Stadt: Alltag als Improvisation mit kleinen Geheimnissen. Die Waffe der Rivette’schen Figuren war die Phantasie. John Surman und Barre Phillips spielen in einem anderen Werk (Merry-Go-Round) ihre Filmmusik vor der laufenden Kamera, statt sie später zu laufenden Bildern zu erfinden. Zu den Schlangenlinien des Surman’schen Saxofons huschten die Protagonisten anders durchs Bild, die Musik empfahl ein leicht verändertes Gehen, das mitunter einem Tanz nahe kam. Schon damals war immer von diesem opus magnum zu hören, dass kein Normalsterblicher je zu Gesicht bekommen hatte. „Out 1 – Noli me tangere“ war 13 Stunden lang, und schlummerte lang in den Archiven. Jetzt kann man es sich bei ARTE besorgen, auf mehreren DVDs, die französische Originalfassung mit deutschen Untertiteln. Ganz alter Stoff, jede Menge Verrückte, freies Theater, ein Hauch von Balzac nach dem Mai 68, und eine liebevoll-verrückte Hommage an die „Stadt der Liebe“, selten war ein Blick auf den Alltag und seine kleinen Mysterien so reich an Verzweigungen, so nah an permanenter Träumerei!