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Archives: Hyperkulturalität

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Als 2002 der Song Waltz auf dem Album As If To Nothing von Craig Armstrong erschien, war mit den trocken skandierten Lyrics von Antye Greie-Fuchs der Hypertext als Ausgangspunkt und wichtige Voraussetzung für die Entwicklung einer Hyperkulturalität endgültig in der Popmusik angekommen. As we may think a (File) Structure for the Complex, the Changing and the Indeterminate könnte man in der Zusammenschau der Titel der zugrundeliegenden Texte für die Entwicklung hypertextueller Programmstrukturen (html) von Vannevar Bush und Ted Nelson die Vorlage sehen für ein Konzept, das als Kommunikationsstruktur die Verknotung und Vernetzung, die assoziativen Verbindungen in einem zunehmend globalisierten Weltgeschehen abzubilden versucht. Byung-Chul Han betont in seinem Büchlein über Hyperkulturalität, dass die Welt selber hypertextuell ist, nichts isoliert vom anderen existiert. Eine Welt als komplexes Netz, das bereits in der vedischen Vorstellung von Indra’s Netz als Abbild des Weltgeschehens Ausdruck fand, ein Konnektiom. Dieses wird z.B. auf der Website radio.garden (gibt es auch als App), wo es dem interessierten Hörer möglich ist jegliche weltweit bestehende Internetradiosender auf einer großen Karte anzuklicken und hineinzuhören, in sehr anschaulicher Weise deutlich. Eine wahrlich spannende Erkundungsempfehlung! Mit einem Klick öffnet sich ein Fenster in einer hyphenisierten Welt und zeigt ein buntes Potpourri an musikalischen Möglichkeiten. Ohne mich zu bewegen zu müssen, werde ich quasi zum Touristen in jeglicher zur Verfügung stehender kulturellen Schöpfung: alle Kulturen aus vielen unterschiedlichen Zeiten sind instantan zugänglich.

Dies verändert aber die Erfahrung von kulturell determinierten Elementen, wobei hier für uns v.a. die künstlerisch-musikalischen Ausdrucksformen im komplexen Kontext von Wissen, Glauben, Moralvorstellungen, Brauchtum und anderen Fähigkeiten, die die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gesellschaft prägen, bedeutsam seien sollen. Und natürlich auch die Subkulturen, die sich in ihren Werten, Vorstellungen und Ausdrucksformen abgrenzend auf die jeweilige vor Ort bestehende Gesellschaft beziehen und innerhalb ihrer ein Eigendasein führen. Subkulturen haben ein strenges Bezugssystem, das sie entweder verändern (progressiv) oder besondere Aspekte darin bewahren (regressiv) wollen. Sie sind lokal, kontext- und zeitgebunden. Doch durch die Vernetzung und ubiquitäre Verfügbarkeit z.B. von Musik, Kunst und anderen kulturell-kreativen Ereignissen werden die Subkulturen zu einer bedrohten Spezies, da die Hyperkultur in ihrer Grundstruktur nicht-lokal, kontexterweiternd und zeitübergreifend ist. Im Austausch zwischen den Kulturen und Subkulturen entwickelt sich etwas Neues, dialogisch in der Interkulturalität, durch Toleranz getragen in der Multikulturalität, wo Elemente unterschiedlichen Ursprungs nebeneinanderstehen und in der grenzüberschreitenden Dynamik im transkulturellen Transfer, wie Byung-Chul Han sehr detailreich beschreibt. Diese stufenweise Grenzauflösung führt bei der Entstehung hyperkultureller Muster zur Auflösung des Horizontes, der räumlichen und zeitlichen Begrenzung, so dass es

 

zu einem abstandslosen Nebeneinander unterschiedlicher kultureller Formen kommt. Klänge und Gerüche lösen sich von ihren ursprünglichen Orten und sind in einem grenzenlosen Hyperraum verfügbar. Sie erzeugen so eine intensive Vielfalt an Lebens- und Wahrnehmungsformen, die bestimmte historische, sozio-kulturelle, technische und mediale Prozesse oder Gegebenheiten voraussetzen. Das Hyper (Akkumulation, Vernetzung, Verdichtung) kennzeichnet das Wesen der Globalisierung (B-CH).

 

Aus dieser komplexen und ubiquitären Verfügbarkeit von Kulturgut, z.B. der Musik unterschiedlicher Traditionen und Ethnien, kann in einem ganz individuellen Auswahlprozess etwas ganz Eigenes, Neues entstehen. Hyperkulturell bedeutet hier also nicht über den Kulturen als solchen zu stehen, sondern eine kreative Synthese weit über die einzelnen, als Ausgangspunkt genommenen Kulturformen hinausgehend. Man könnte hier mit GPT-3, einer Open-AI, sagen dass

 

Hyperkulturalität auch als die Fähigkeit verstanden werden kann, zwischen verschiedenen Kulturen zu wechseln und sich in ihnen zu bewegen, ohne dass es zu einem Verlust der Identität oder Integration kommt.

 

In der Musik wurde dieser Prozess durch mehrere weitere Faktoren enorm begünstigt, bzw. überhaupt erst möglich gemacht:

 

  • Der Entwicklung von Samplern
  • Der Erfindung und bezahlbaren Verfügbarkeit von synthetischen Klangerzeugern und
  • Der gewaltigen Entwicklung der Möglichkeiten jedwelche Klänge im Studio nahezu beliebig zu bearbeiten.

 

Während Sampler noch den Transfer originären Klangmaterials ermöglichten, was z.B. sehr eindrucksvoll auf My Life in the Bush of Ghosts von Brian Eno und David Byrne zu hören ist, stellen Synthesizer und computerbasierte Studiotechnik neue, wenig spezifisch kulturell vorbelastete Produktionsmöglichkeiten dar, zumal sie selbst meist wesentliche Elemente hyperkultureller Musikformen stellen.

 

Wenn Byung-Chul Han herausarbeitet, dass Hyperkulturalität ein Phänomen der heutigen Zeit ist und nur unter den heute gegebenen Umständen entstehen konnte, so können wir uns fragen wann dies in der Musik seinen Ausdruck gefunden hat. Auch wenn ich bei genauerer Betrachtung gerade in der experimentellen Musik nach dem zweiten Weltkrieg und in der Entwicklung der Jazzmusik schon recht früh viele richtungsweisende Ansätze sehe, hat sich in ihrem Wesen hyperkulturelle Musik erst etwa um die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts entwickelt. Hier sind, und das ist eine sehr subjektive, persönliche und reduzierte Auswahl, vor allem die drei CoDoNa-Alben von Don Cherry, Colin Walcott und Nana Vasconcelos auf der Ebene akustischer Musik konstituierend gewesen und auf der Ebene elektroakustischer Musik besonders Jon Hassell, der sein Fourth World Music-Konzept explizit als hyperkulturell formulierte und kongenial realisierte.

 

 

     

 

 

Jon Hassell hatte seine musikalischen Wurzeln in der amerikanischen experimentellen Musikszene genauso wie durch sein Studium der elektronischen Musik bei Karlheinz Stockhausen und der klassisch nordindischen Musik bei Pandit Pran Nath, dessen Techniken er auf die Intonation seiner Trompete übertrug und schließlich wieder technisch verfremdete. Auf dieser Basis verband er afrikanische Drumpattern und javanische Gamelanfragmente, Wasserklänge und tropische Vogelstimmen, Gesänge der Aka-Pygmäen und Synthesizerdrones mit den strukturellen Mitteln europäischer Musiktraditionen und den subtilen repetitiven und selbstreferentiellen Strukturen elektronischer Produktionsmöglichkeiten, um so mit jedem Stück eine völlige neue Form struktureller Organisation und Erweiterung des vorbekannten musikalischen Vokabulars zu schaffen. In der Überwindung eurozentrischer Traditionen sah er darin einen Entwurf einer „Coffee-coloured“ klassischen Musik der Zukunft, in der die zugrundeliegenden Elemente bestenfalls nur noch fragmentarisch erkennbar sind.

 

 

   

 

 

Vor dem Hintergrund dieses hyperkulturellen Musikentwurfes wird eine Kritik an der Aneignung, der Assimilation des Fremden, bedeutungslos, da die unendliche Vielfalt kultureller Ausdrucksformen bereits innnerhalb dieser Hyperkultur beheimatet ist. Hyperkultur ist, wie Byung-Chul Han formuliert, eine Kultur intensiver Aneignung, in der das Eigene in der geglückten Aneignung eine stete Erneuerung erfährt, die durch die jeweilige Auswahl stark individuell geprägt ist.

Weiterhin sind für mich Peter Gabriel mit den Alben Melt und Security und vielen seiner Real World-Produktionen, Laurie Anderson mit Mister Heartbreak, Jean-Michel Jarre‘s Zoolook wichtige Alben einer sich in dieser Zeit konstituierenden musikalischen Hyperkultur.

Ein weiteres musikalisch recht heterogenes und hochspannendes Beispiel stellt das Londoner Musikerkollektiv Transglobal Underground dar, wo sich Musiker mit völlig unterschiedlichem Hintergrund trafen, um eine Tanzmusik jenseits stupider Technorhythmen und wie auch immer gearteter Weltmusik zu kreieren. Neben arabischen Einflüsse auch durch Natacha Atlas, gab es Impulse aus der klassisch indischen Musik, Reggae, afrikanischen Rhythmen und Balkanbeats, Bhangra, Eighties-Pop und Erfahrungen als DJ’s, die zu einem sehr vitalen, unvorhersehbaren Klangraum verschmolzen, der sich bis heute durch wechselnde Kollektivmitglieder und Konstellationen wandelt und weiterentwickelt.

 

 

     

 

 

Auch darf hier Hector Zazou nicht unerwähnt bleiben, der sich schon recht früh in seiner Musikerkarriere um kultur- und genreüberschreitende Musik intensiv bemüht hat. Der Höhepunkt seines Vermächtnisses ist für mich das letzte noch zu seinen Lebzeiten erschienene Album In The House Of Mirrors, wo er aus Sessions mit indischen und usbekischen Musikern, aber auch Nils Petter Molvaer und Bill Rieflin in der finalen Bearbeitung eine außerordentliche und einzigartige Kunstmusik schuf.

 

 

     

 

 

Eine besondere Stellung sollte später Björk einnehmen, die mit dem Homogenic ein programmatisches Album schuf, das damals weit über die Genregrenzen hinausreichte. Sie erarbeitete hier in vielen Kollaborationen eine ganz eigene Melange von den Erfahrungen der Naturgeräusche ihrer isländischen Heimat, klassischer und traditioneller Musik zu globalen Musikformen und technologisch geprägten Elementen, die sie oft scharf kontrastierte und eine futuristische, mit den Hörgewohnheiten bisheriger Musik brechende, intensive, unbequeme und zutiefst faszinierende Klangwelt schuf. Diesen Ansatz vertiefte sie in den folgenden Jahren sowohl in der Komplexität als auch Tiefe, besonders prägnant sichtbar bei den Alben Utopia und Fossora.

Bei der Durchsicht der Jahresbestenlisten 2022 wird auch schnell deutlich, wie viele Alben jenseits gängiger Genrezuordnungen und der verschiedenen Geschmackausrichtungen hier im Blog eine hyperkulturelle Signatur tragen und damit den Reichtum vieler Musiktraditionen in ein Futuristisches und Größeres einbringen und so auf ein neues Level heben. Auch ein wahllos ungezwungenes Durchklicken der Sender auf radio.garden zeigt, wie weit die Grenzen zwischen den Kulturen längst gefallen sind, unsere Hörgewohnheiten sich verändert haben und hyperkulturell geprägte Musikstücke bereits Eingang in den Mainstream gefunden haben.

 

 

 

 

Diese Zeilen sollen den Versuch darstellen die Ideen Byung-Chul Han’s zur Hyperkulturalität auf das weite Feld der Musik zu übertragen, das er weitgehend unerwähnt lässt und viel eher eine Anregung zu sein, eine Diskussion anzustoßen als auch nur ansatzweise ein Statement zu sein – eine einfache Gedankenskizze…


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