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Archives: Die Suchtfibel

2022 8 Mai

Alte Bande (Teil 4)

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Damals, in den frühen Jahren in der Fachklinik Furth i. W., gab es umfangreiche Unterlagen, aber noch nicht dieses Standardwerk von Ralf Schneider, das in diesem Jahr in der 21. überarbeiteten Auflage erschienen ist. Die erste bis vierte Auflage erschien seinerzeit unter dem Titel „Alkoholabhängigkeit – Informationen für Betroffene, Angehörige und Interessierte“. Die Gesamtauflage: mehr als 370.000.

 

Ich brachte Ralf zum Widersehen Terje Rypdals „Descendre“ mit, ein Album, das 1980 erschien, in dem  Jahr, als meine relativ kurze Zeit am Ausläufer des Hohen Bogens begann. Und Platten von ECM den Soundtrack unseres Lebens mitschrieben, nah an der tschechischen Grenze. Und Ralf brachte mir heute früh, zum letzten geneinsamen Frühstück Aller, seine „Suchtfibel“ mit, und allein schon das Schmökern in den Seiten –  on this lazy sunday afternoon – machte mir klar, wie vertraut mir,  all der vergangenen Zeit zum Trotz, die Inhalte dieses Buches, die Denkweisen Kognitiver Verhaltenstherapie, sind. Offen für Erweiterung und klugen Eklektizismus. Ein Mix aus fundiertem Wissen und sinnlich ansprechender Vermittlung. Das feine Motiv auf den Cover der „Fibel“ suggeriert die umgekehrte Bewegungsrichtung von „Descendre“ – ein „Hinaufsteigen“.

 

Und wie nah mir immer noch, kleine Abschweifung, diese Menschen von damals sind.  Selbst die, damals nicht beste Kumpel waren. Ein altes, dezent verwandeltes Wir-Gefühl. (Die sanfte Beharrlichkeit von  Monika C. schätzte ich schon damals sehr, die Stimme von Gudrun klingt wie einst, und versetzt mich im Handumdrehen in eine leichte Trance.  Beim kraftraubenden Skilanglauf mit Dieter und Michaela  durfte ich als „townie“ meine Grenzen kennenlernen. Ich betreibe  jetzt aber kein Spiel der Reihum-Komplimente.) 

 

 

Einiges an unserer Gruppentherapie für Alkohol- und Medikamentenabhängige basierte auf Improvisation – der Transfer von theoretischer Beschlagenheit in die therapeutische Arbeit ist eine Herausforderung gewesen, damals, als solche Kliniken in den berühmten „Kinderschuhen“ steckten. Und dann kamen wir in  aller Regel aus grossen Städten – da war auch der Alltag voller Improvisation.

 

Es gibt ein paar interessante Parallelen zwischen Jazzmusik und Psychotherapie.  Zum Beispiel: Therapien glücken seltener, wenn man sich stringent an Lehrbüchern ausrichtet, und dem therapeutischen Prozess die Luft zum Atmen nimmt, die Überraschungsmomente, den improvisatorischen Spielraum. (was ich an „Gesprächstechniken“ lernte, konnte ich später auf Interviewsituationen  übertragen, speziell wenn da ein Raum zu öffnen war ins Private hinein, und  „repertoire stories“ zu glatt und routiniert waren.)

 

Ein passagenweise dunkles Album wie „Descendre(deutsch „hinabsteigen“), voller unvorhersehbarer Momente, ähnelt dem „flow“ gelingender Psychotherapien. Du begegnest verhärteten Strukturen, Abgründen, verschütteten wie offenen Potentialen, und dann?  Muster wandeln sich, Krusten brechen auf, Perspektiven kippen, die Dinge / Klänge bahnen sich einen neuen Weg. Aus Disziplin entsteht Freiheit. „Mit jedem Lichtwechsel werden helle Auflösungen und schattenhafte Erinnerungen enthüllt, die das wütende Feuer hinter der eisigen Oberfläche verraten.“ (Tyran Grillo über „Descendre“). Dein Identitätsempfinden wandelt sich, und doch bleibst dir selbst (in unerwarteter Weise) treu.

 

Reden wir jetzt von Psychotherapie,
oder von der Essenz des Jazz?
Nichts hier ist esoterisch.
Und nie ist alles auflösbar.
Alte Bande bleiben bestehen.
Oft genug.

 


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