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Archives: Bernard Stiegler

Eine Verbindung zwischen Philosophie und Fernsehen lässt sich leicht finden. Gerne denke ich an jene Nächte, in denen Dingens und ich bei Vollmond, begleitet von einem Hund namens Tiger, stundenlang am Fluss entlangliefen und etwa über die Gäste von Talkshows sinnierten, hinsichtlich der lebensphilosophischen Relevanz des Gesagten und angesichts jener durch äussere oder innere Stimmen geäusserten Forderung: Du musst dein Leben ändern! Ein anderer Kumpel früherer Tage war da eher Freund der schnellen Lösungen: „Ein Loch ist im Eimer, Karl-Henry? Dann flicke es!“. Aber pure Verhaltenstherapie nach der Methode Hast du Angst vor einer Brücke dann spring von ihr hinunter war unsereins ja schon immer suspekt. Das Interesse an Philosophie war und ist auch begründet in dem Verdacht (Boris Groys), dass es etwas zu wissen gibt, das sich zu wissen lohnt und sich abhebt vom Grundlagengepauke jeder noch so guten Schulbildung, vielmehr initiiert ist durch Neugier und eigene Fragestellungen. Kontraproduktive Überbleibsel schwarzer Pädagogik finden sich ja heute noch zuhauf. Auch Phänomene des Zeiterlebens waren immer von Interesse: Paul Virilio etwa und seine Gedanken über „Geschwindigkeit“, die ihren aktualisierten Fortgang finden etwa in Hartmut Rosas Begriffen der Resonanz und Unverfügbarkeit. Ein anderer, Bernard Stiegler, zählt zu den „gefährlichen“ Denkern. Nicht, weil er einst als inhaftierter Bankräuber zur Philosophie fand (siehe sein Essay Zum Akt, erschienen bei Merve), sondern weil er glaubhaft darstellt, was uns alle heutzutage tendenziell zu digitalen Zombies werden lässt. Er schreibt in seinem Buch Logik der Sorge: „Die Retention ist die Grundlage jedes Sorge-Systems, das stets ein Lernsystem ist, durch das sich Aufmerksamkeit entwickelt. Lernen bedeutet etwas behalten, lateinisch retenire.“ Mit anderen Worten: darf es bitte etwas mehr sein als das Zappen durch Kanäle und das Wischen auf der Screen? Fernsehserien sind hier aber nicht nur Stoff, aus dem die Träume sind, die uns wehrlos überfluten (Stieglers „pharmaka“), sondern vielmehr Fundgrube für Identifikationen, Empathien, Leitbildspiegelungen und biografische Parallelen. Und sie sind Objekte des Rückbezugs: der Retention. Da man sie nicht ins Regal stellen kann wie Bücher, die man schnell zur Hand hat, um das mit Bleistift Angekreuzte aufzufinden, führt man eben Listen und erinnert sich auf diesem Weg an seine televisionär zurückgelegten Strecken und Terrains. Hier wird dann die eigene Einbildungskraft revitalisiert, zudem das Gedächtnis geschult. Man ist dann mehr als blosser Konsument von kulturellen Inhalten. Denn was hilfts: die Tage der Gutenberg-Ära sind lange gezählt und man muss sich anderweitig zu behelfen wissen. „Seit Jahren nervte mich dieser klappernde Hinterbauständer am Fahrrad. Heute habe ich endlich einen Neuen montiert. Herrliche Stille nun!“ Well done, Karl-Henry. Es leben die Aufmerksamkeitstechniken!

 

 

 

Bevor nun der Reiter erneut sein schwarzes Roß sattelt und teufelsgleich einen altersgemäß kontrolliert ekstatischen Ritt in die Sommerlandschaft unternimmt – für den der geeignete, ihn begleitende Soundtrack vielleicht die Christopher-Cross-Songs Ride like the wind und Sailing wären oder das von Sting in Wildwestmanier gecoverte Hung my Head, das ja vom Leichtsinn singt, weil einer Rast macht und die Rifle ausprobiert, als Ziel seines Spiels aber fatalerweise eine Lebendattrappe wählt und somit fortan als Gehängter (el colgado) gilt – nimmt er die Gelegenheit wahr, falls er dann irgendwo auch am Galgen baumeln sollte oder an einem Schild für Vorfahrt, die er nicht gewähren wollte, seiner Nachwelt obenstehend ein seit längerem gewähltes Lieblingszitat quasi als Erbschaft zu übermitteln. Es entstammt dem Buch Logik der Sorge des Philosophen Bernhard Stiegler, der während seiner Inhaftierung aufgrund eines bewaffneten Banküberfalls in seiner Zelle zur Philosophie fand und inzwischen zu den bedeutenden zeitgenössischen Denkern Frankreichs zählt. Sein Buch mahnt den Verlust der Aufklärung durch Technik und digitale Medien an, einhergehend mit dem globalen Schwinden der Aufmerksamkeit und einer Infantilisierung der Gesellschaft, die beispielsweise Erziehungsberechtigte davon entbindet, Verantwortung und Vorbildfunktion zu übernehmen. Der vom Autor verwendete Begriff Retention fällt ins Auge: die Fähigkeit, in den gegenwärtigen Moment auch das (unmittelbar) Vorangegangene zu integrieren. Ein weiterer markanter Begriff: die Psychopharmaka – sie bezeichnen unter anderem fertige Kulturleistungen, die gar nicht mehr in ihrer geschichtlichen Entwicklung beziehungsweise Komplexität nachvollzogen, vielmehr ohne Respekt gegenüber Künstlern, Wissenschaftlern und Produzenten (per Mausklick) konsumiert werden. Was mich beeindruckt am Denken Stieglers, das sich zunächst schwer erschließt (die Franzosen, die spinnen, denkt man sich), sind seine Schärfe und Triftigkeit, die ja laut allgemeinem gesellschaftlichen Konsens in der Philosophie besser aufgehoben sind als in der Räuberei.


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