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Archives: Asmus Tietchens

 

10 Jahre muss es her sein, dass ich erstmals die Existenz von YouTubern oder Live Streams registriert habe. Mein Sohn spielte damals Minecraft und wir Eltern waren verwundert, dass er seine limitierte Bildschirmzeit darauf verwendete, anderen Menschen beim Zocken und Labern zuzuschauen. In den darauf folgenden Jahren habe ich zahlreiche Tutorials geschaut, über die Aufzucht und Verarbeitung von Chilis, Rezepte, Rezensionen, Sportübungen, usw. – das kennen ja heutzutage alle.

Nun ist aber etwas neues in mein Leben getreten: der Livestream. Nicht über ein Event (wie eine Fußball-WM), sondern von einer Privatperson, wahrscheinlich ist hier „influencer“ der richtige Begriff. Freitag abends heißt es jedenfalls seit ca. 2 Monaten immer wieder „Sorry, I have Stunty Tonight.“ Unter dem Namen StuntrockConfusion streamt ein (ehemaliger?) Techno-DJ zweieinhalb Stunden aus einer kleinen Waldhütte in Schweden. Stunty scheint ein schier unerschöpfliches Wissen über Musik zu haben, plus eine geschätzt fünfstellige Plattensammlung, und spielt den Zuhörern seine Schätze vor: ein bunte Tüte aus allen Spielformen der elektronischen Musik, Avantgarde, Klassik, Musik aus allen Kontinenten, Dub, musique concrète, … – von obskur bis sehr obskur ist alles dabei. Ich kenne in ungefähr jedem zweiten Stream mal ein Stück.

Zum Beispiel scheint Stunty sich in den letzten Wochen und Monaten einen ganzen Stapel LPs von Asmus Tietchens gekauft zu haben, die er gerne auflegt. Der Fluxus Künstler Hermann Nitsch war auch zweimal dabei, oder die portugiesische Formation Telectu, ein Duo, Keyboard und Gitarre, das in den 80er Jahren in den Grenzgebieten zwischen Minimal Music, Jazz und elektronischer Musik unterwegs war. Das Album „Belzebu“ habe ich als Reissue relativ günstig aus England bestellt (und zum Glück keinen Zoll bezahlt). Auf jeder Seite gehen drei Stücke ineinander über, rhythmisch verzahnte Pattern setzen ein und aus, verändern allmählich ihr Verhältnis zueinander, bis sie sich wieder in das elektronische Grundrauschen zurückziehen. Die Musik bereitet mir viel Freude, leider sind die anderen Werke dieser Formation nur schwer zu bekommen und entsprechend kostspielig. Für solche und weitere Entdeckungen – zum Beispiel die wunderbaren Cello Interpretationen von Charles Curtis, von dessem Album „Performances & Recordings: 1998 – 2018“ ich gerade jeden Abend eine Seite höre – sage ich an Freitagabenden gerne hin und wieder „sorry, I have Stunty tonight.“

 

 
 
Weiter geht’s mit Tietchens. Farbenfroh und knallig, nicht nur optisch, sondern auch akustisch: Litia, 1983 erstmals erschienen und letzter Teil der Sky-Records-Episode. Es spielt wiederum das Zeitzeichenorchester, welches nach wie vor aus Anagrammen des Meisters besteht.

Man merkt der Platte an, dass sie eine Art Pflichterfüllung darstellt, und ich halte sie für die schwächste der vier Sky-Alben. Das heißt aber nicht, dass sie etwa schlecht wäre; wer die anderen drei Alben der Serie mochte, wird sich auch mit dieser anfreunden können. Zwei neue Instrumente sind zu verzeichnen, ein Korg Polysix und eine programmierbare Rhythmusmaschine namens MFB-521, über die Tietchens schreibt, seine ursprüngliche Faszination sei bald der Ernüchterung gewichen. (Dieses Ding hatte ich einmal selbst, es war billig, aber kompliziert zu bedienen, ließ sich nur auf Umwegen mit meinem sonstigen damaligen Equipment synchronisieren und gehörte klanglich in die Abteilung „Klopfgeist“. Ich habe das Gerät nach ein paar Wochen wieder verkauft. Auch bei Tietchens taucht es später nicht wieder auf.) Mit diesen Geräten sowie einem verwaschen klingenden Hallgerät produziert Tietchens stark rhythmusorientierte Klanglandschaften, tragfähige Melodien sind hier vergleichsweise selten zu hören. Es ist unüberhörbar, dass sich Tietchens bereits vestärkt mit Industrial befasste, doch dafür war Sky-Chef Günter Körber nicht zu begeistern. So blieb Litia die letzte Sky-Veröffentlichung.

Es scheint ein wenig merkwürdig zu sein, dass die vier Sky-Veröffentlichungen stets als eine Art „eigenständige Werkgruppe“ gesehen werden, aber hört man sie im Kontext mit Tietchens‘ weiteren Platten, dann wird deutlich, dass sie tatsächlich eine solche bilden. „Poppiger“, wenn man das überhaupt so sagen kann, ist Tietchens nie geworden — wenn überhaupt, dann wäre an die Aroma-Club-Veröffentlichungen zu denken. Aber die sind von hier aus gesehen noch einige Jahre entfernt; die Reihe begann im Jahr 2000.
 
 

 
 
Die 10-inch-Platte Rattenheu, erschienen 1996 auf dem Hamburger Label The Bog, enthält fünf Stücke, die für die Sky-LPs keine Verwendung gefunden hatten. Sie stehen diesen qualitativ in nichts nach.
 
 

 
 
Litia wurde 2004 auf dem Bremer Label Die Stadt als CD wiederveröffentlicht. Diese Version enthält die fünf Rattenheu-Titel als Bonustracks, allesamt wunderfeinst klangrestauriert und mit Liner Notes vom Meister selbst versehen.

Bliebe noch auf Der fünfte Himmel hinzuweisen, 2014 auf Bureau B erschienen. Hier sind neben den Rattenheu-Titeln noch sieben weitere Stücke versammelt, die in die Sky-Reihe gehören würden. Diese waren allerdings bereits als Bonustracks über die Stadt-Wiederveröffentlichungen der Sky-Serie verteilt.
 
 

 
 

Litia
– Sky Records; Sky 087 (1983)
– Die Stadt; DS 80 (2004)
Rattenheu
– The Bog; Bog 003 (1996)
Der fünfte Himmel
– Bureau B; BB 156 (2014)

 

2022 3 Dez

Zwischendurch: Asmus Tietchens

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Ein Radiotipp: Anlaesslich des 75. Geburtstages des Hamburger Klangkuenstlers und Komponisten Asmus Tietchens hat der ORF ein einstuendiges Portrait gesendet. Eine Sendung von Heinrich Deisl und trotz des etwas eigenwilligen Fotos sehr hoerenswert.

Hier zu hoeren.

Und ja, ich weiss, dass ich vor langer Zeit einmal damit begonnen habe, Tietchens‘ Veroeffentlichungen chronologisch vorzustellen. Es geht weiter.

 

 

 

Man dürfe nie vergessen, so schrieb Asmus Tietchens einmal, dass wir von unheimlichen Dingen umgeben sind.

Eines davon heißt Musik an der Grenze. Es handelt sich um eine Cassettenproduktion, die vierte einer Art Werkreihe, 1982 in England veröffentlicht. Dies ist ebenso harte Kost wie schon der Vorgänger Musik im Schatten. Während die allerdings ihren Schwerpunkt vorrangig auf brachialen Sounds hatte, wird hier weniger mit Sounds als mit Wiederholungen kurzer Patterns gearbeitet. Klangquellen sind wieder der Moog Sonic Six, außerdem steuerte Okko Bekker zusätzliche Synthesizerklänge bei. In Track 4, „Titanic“, scheint mir sogar einmal ein Sequenzer im Einsatz zu sein, der sonst in der Musik Asmus Tietchens‘ keine große Rolle spielt. Die Wiederholungen basieren auf Tapeloops, die der Meister unter dem Pseudonym Loop de Vega angefertigt hat.

Das Kernstück ist die zehnminütige „Kultmusik für ein altes Ländle“. Das klingt gemütlich, ist es aber nicht. Über einer Art Bordunklang und ringmodulierten Geräuschen liegen seltsame, verhangene Chöre und verzerrte, klagende, teils anscheinend weinende oder schreiende Stimmen, immer aber bleiben sie undeutlich; man ahnt sie mehr als dass man sie hört. Dazu setzt nach etwa einer Minute eine verdoppelte und verhallte Stimme ein, die monoton, getragen, unablässig und von dumpfen Trommelschlägen begleitet den Satz „Austria es it orbis ultimo“ wiederholt. So jedenfalls höre ich den Satz, der sich offenkundig an das alte Habsburger-Motto „Austria est imperare orbi universo“ (oder auch A.E.I.O.U.) anlehnt. Grammatikalisch ergibt der Satz wenig Sinn, aber das macht nichts, der Tonfall, in dem er gesprochen wird, und die endlose Wiederholung entfalten Wirkung: Im Kopfhörer gehört erzeugt dieses Stück eine hypnotische und gleichzeitig zunehmend beklemmende Stimmung.

Musik für zwei Uhr nachts, wenn man gute Nerven hat.

 

Musik an der Grenze
Yorkhouse Records YHR 024 (England 1982)

Wiederveröffentlicht wiederum als Cassette auf Auricle Music 025 (England 1987)

2021 15 Jan

[AT 08] Asmus Tietchens: Musik im Schatten

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Weiter in der Asmus-Tietchens-Chronologie: Irgendwann 1982, zwischen den Sky-LPs Spät-Europa und In die Nacht, erschien auf dem amerikanischen Cassettenlabel Aeon die Musik im Schatten. Die Auflage ist nicht bekannt; mein Tipp: nicht mehr als zehn. Mit etwas gutem Willen kann man das Produkt mit Musik aus der Grauzone (1981) und Musik an der Grenze (1982), beide ebenfalls Cassettenproduktionen, als Teil einer Werkgruppe auffassen.

Die fünf Tracks sind harte elektronische Kost, hervorgebracht auf dem Moog Sonic Six, gelegentlich mit kurzen, durchweg durch den Synthesizer und den Filteraltar gedrehten Sprachsamples erweitert. Verständlich ist dabei nur das Wort „selbst“, zu hören in dem Stück „Du darfst“, das wohl nach der gleichnamigen Margarinemarke benannt ist und ähnlich glitschig klingt. Alle fünf Stücke sind akustisch bewusst aufdringlich und schrill gehalten, es gibt kaum Pads, kaum Ruhepunkte und nur wenige angedeutete Melodien. In „Nosferatu“ hören wir elektronisch imitierte Mickymaus-Stimmen, die ein wenig an „Stressmen“ vom Biotop-Album erinnern. Tietchens-typisch ist aber auch auf dieser Einspielung der ökonomische Umgang mit dem Material — nie sind es mehr als vier Schallquellen gleichzeitig, die man hört. Deswegen konnte Tietchens auch immer auf die Möglichkeiten des programmierbaren Mischpultes verzichten, das in Okko Bekkers Audiplex-Studio vorhanden war.

Es ist kein Vergnügen, sich diese Cassette anzuhören; auf mich wirkt die Einspielung „zusammengehauen“ und nicht wirklich interessant. Im Gesamtwerk Tietchens‘ wird man die Musik im Schatten wohl als entbehrlich ansehen dürfen.
 
Musik im Schatten
Aeon AE 001, USA 1982
Wiederveröffentlicht auf Auricle Music AMC 34, GB 1988.
 
 

 
 
Nach viel zu langer Pause möchte ich nun endlich meine angefangene Asmus-Tietchens-Werkschau fortsetzen.

In die Nacht ist das dritte Album, das Tietchens für Sky Records eingespielt hat. Erschienen ist es 1982 in einer Auflage von 1000 Stück. Das Instrumentarium ist dasselbe wie auf den Vorgängern, auch die Akustik des Albums ist wieder seltsam verhangen und künstlich, was am verwendeten Hallgerät liegt. Auch das aus Anagrammen des Namens seines geistigen Vaters bestehende Zeitzeichenorchester war wieder mit von der Partie, das Cover lag in der bewährten Hand von „Tina Tuschemess“. Ein Foto im Innencover der Platte zeigt, dass im Audiplex-Studio von „Rokko Ekbek“, wo die Scheibe eingespielt wurde, bereits ein Fairlight vorhanden war, aber der kam hier noch nicht zum Einsatz. Tietchens wollte offenkundig den Seriencharakter nicht durch allzu abweichende Klänge zerstören.

Das Album ist noch auf Wunsch des damaligen Sky-Inhabers Günter Körber entstanden und setzte Tietchens unter Zeitdruck — „aus vertriebspolitischen Gründen“. Tietchens lief daraufhin nach eigener Aussage in eine ästhetische Falle, denn die von den beiden Vorgängern gewohnten kurzen Stücke hätte er nicht innerhalb des gegebenen Zeitrahmens anfertigen können, und so entschied er sich dafür, eine kleinere Anzahl längerer Stücke einzuspielen, ergänzt um einige kurze Stücke, die von den vorigen Alben noch übriggeblieben waren.

Nicht allen Stücken ist das gut bekommen, das Album weist einige Längen auf. Langweilig wird es trotzdem nicht; Tietchens scheinen sie mehr zu stören als mich. Deutlich wird aber durch die längeren Teile das Konstruktionsprinzip: Die Stücke, davon bin ich überzeugt, sind zunächst in grafischer Form entstanden, um dann der Skizze folgend abschnittsweise aufgenommen werden zu können. Und die Stücke sind auskomponiert, Tietchens hat sich bewusst Rhythmen, Melodien und Harmonien einfallen lassen. Das ist hervorzuheben, denn das blieb nicht immer so. In die Nacht ist ein unterhaltsames Album geworden, poppig, angenehm schräg, manchmal schroff, einige Melodiefetzen haben dennoch Ohrwurmcharakter. Und rechtzeitig fertig geworden ist es auch.

Tietchens hat aus dem Album die Konsequenz gezogen, sich künftig nicht mehr unter Zeitdruck setzen lassen zu wollen.
 
 

 
 
Die Original-LP ist natürlich längst verschollen. Das Bremer Label Die Stadt hat das Album 2004 als CD wiederveröffentlicht, ergänzt um insgesamt fünf Bonsutracks. „Aus dem Tag“, das ursprünglich die LP eröffnen sollte, aber dann weggelassen wurde, eröffnet jetzt wie vorgesehen die Reise, am Ende stehen drei weitere (kurze) Stücke, die Körber seinerzeit als „zu experimentell“ ansah. Darüber ließe sich streiten; ich finde sie durchaus passend — das letzte der drei, „Lebende Regler“ schließt den Kreis zu „Aus dem Tag“ mit unverständlichem Gemurmel. Bureau B wiederveröffentlichte das Album 2013 als CD und LP, jedoch ohne Bonustracks.
 
 
Asmus Tietchens: In die Nacht
– Sky Records 077 (LP)
– Die Stadt DS 72 (CD)
– Bureau B BB 143 (LP und CD)
 

 

 
 
 
Damit es nun endlich mal weitergeht mit der Asmus-Tietchens-Reihe.

Spät-Europa, erschienen 1982 als die zweite von Tietchens‘ Sky-Records-Veröffentlichungen, schließt nahtlos an Biotop an, ist aber, was die Beherrschung des Instrumentariums angeht, einen Schritt weiter. Während Biotop noch einen eher spielerischen und dadurch manchmal etwas beliebigen Eindruck machte, scheint mir Spät-Europa bereits recht deutlich von einer konzeptionellen Grundüberlegung auszugehen. Hier ist nichts zufällig, Tietchens wusste offenbar sehr viel genauer als bei dem Vorgänger, was er wollte, und er konnte es handwerklich auch umsetzen. Hinter dieser Platte steckt eine gehörige Portion Aggressivität, die trotz der etwas verwaschenen Akustik durchkommt. Letztere erklärt sich aus dem Hallgerät, dem verwendeten Harmonizer und einigen Effektgeräten, die auch schon auf Biotop zum Einsatz kamen, aber auch diese sind hier sinnvoller und gezielter eingesetzt. Als „Band“ wird auch hier wieder das „Zeitzeichenorchester“ angegeben, das aus Anagrammen von Tietchens‘ Namen besteht. Als Gast in „Schöne Dritte Welt“ tritt C. V. Liquidsky (= Andreas Hoffmann, von Cinéma Vérité) in Erscheinung; das Stück wurde auch in das Kompilationsalbum Mit festem Gruß von 1999 (The Bog 0609) aufgenommen.

„Schöne Dritte Welt“ dürfte eines von Tietchens‘ „poppigsten“ Stücken sein, eine gewisse Galligkeit ist allerdings unüberhörbar. Sie zieht sich durch das ganze Album und macht klar, weshalb Sky-Records-Chef Günter Körber nicht mehr allzu begeistert von dem Material war — dies war nicht das, was er sich von Tietchens versprochen hatte, und Tietchens hatte keine Lust, das zu liefern, was Körber sich wohl wünschte. Da aber ein Vertrag über vier Alben bestand, erschienen noch zwei weitere Alben Tietchens‘ auf Sky, die im selben Stil gehalten sind. Spät-Europa erschien mit 1000 Stück Auflage, was selbst für Sky-Verhältnisse wenig war. Der Titel „Erloschene Herzen“ war ein freundlich-ironischer Gruß an Michael Rothers Flammende Herzen (die beiden sind gute Freunde; wenn man die richtigen Kneipen in Hamburg kennt, kann man sie gelegentlich beim Pool-Billard treffen.)

Von der Sky-LP existiert eine Fehlpressung von 40 Stück; wer sie hat, wird aber sicherlich nicht reich damit. Als CD wurde das Album zunächst von Die Stadt im Jahr 2004 mit zwei Bonustracks wiederveröffentlicht. Bureau B veröffentlichte das Album 2013 ein weiteres Mal, allerdings ohne die Bonustracks (diese landeten dann auf einer Tietchens-Kompilation namens Der fünfte Himmel, auf die später noch einzugehen sein wird).
 
 
Spät-Europa
Sky 070 (1982)
Die Stadt DS-68 (2004)
Bureau B BB-142 (2013)
 

 

 
 
 
Damit es mit Herrn Tietchens in der chronologischen Reihenfolge weitergeht, hier die Musik aus der Grauzone von 1981. Eine C-60-Cassettenveröffentlichung, deren Auflage und genaues Veröffentlichungsdatum nicht mehr feststellbar ist, wahrscheinlich ist aber, dass sie zwischen Tietchens‘ ersten beiden Sky-Platten erschienen ist und wohl nur Eingeweihten überhaupt bekannt war.

Die Parallele zu frühen Cluster-Aufnahmen drängt sich auf, harsche Klangflächen beherrschen zunächst das akustische Bild. Rhythmus, wenn überhaupt vorhanden, wird durch die Verwendung eines Echogerätes erzeugt. Doch die akustischen Landschaften verändern sich langsam aber stetig, bis der Cluster-Eindruck am Ende verschwunden ist und ein eindeutiger Tietchens vorliegt. Hauptinstrument ist der Moog Sonic Six. Plattenknistern mischt sich in die Kulisse, unverständliche, teils elektronisch verzerrte Wortfetzen tauchen auf, ein sich überschreiendes Saxophon, dessen Herkunft ebenso unbestimmt bleibt wie das gelegentlich hineingehämmerte Klavierspiel. Das Ganze ist, obwohl in acht Stücke unterteilt, wohl als Einheit anzusehen und sollte in der vorgegebenen Reihenfolge gehört werden.

Musik aus der Grauzone ist insofern bemerkenswert, als es atmosphärisch komplett aus der Viererreihe der Sky-Alben herausfällt, was auf ein früheres Aufnahmedatum hinweisen könnte. Zudem ist die Cassette Teil einer eigenständigen Werkgruppe — schwer zu sagen allerdings, ob das von Anfang an so geplant war oder sich später ergeben hat. Dazu in späteren Posts mehr.
 
 
 

 
 
 
Musik aus der Grauzone
MC (C-60), Yorkhouse Records YHR 019 (1981)
Re-issue Auricle Music AMC 024 (1987)
 

 


 
 
 

Biotop, 1981 auf dem Hamburger Sky-Label erschienen, war mein Erstkontakt mit der Musik Asmus Tietchens‘. Kaufimpuls war nicht nur Sky (dieses Label war immer der Aufmerksamkeit wert, weil sein Boss Günter Körber ganz offenkundig nur Platten machte, die er sich selber gern anhörte), sondern ein Interview von Steve B. Peinemann mit Asmus Tietchens in dem damals noch lesenswerten Stadtmagazin „Szene Hamburg“. In diesem erzählte Tietchens unter anderem, einen Sarg unter dem Wohnzimmertisch stehen zu haben, dass er einmal Werbetexter gewesen war und woher der Titel „Geisel des Monats“ kam — Geiselnahmen waren damals gerade eine Modeerscheinung und mediales Dauerthema.

Biotop ist die erste von insgesamt vier Platten, die innerhalb von nur zwei Jahren auf dem Sky-Label erschienen. Peter Baumann, der Tietchens‘ Erstling Nachtstücke produziert und beim französischen Egg/Barclay-Label untergebracht hatte, nahm seine Option auf ein weiteres Album nicht wahr, und so landete Tietchens durch seine Freundschaft mit der Gruppe Cluster bei Sky. Diese vier Platten bilden im Werk Tietchens‘ fast so etwas wie eine eigenständige Werkgruppe. „Industrial“ im späteren Sinne gab es noch nicht, und Tietchens experimentierte mit rhythmisch orientierten, melodiösen Stücken, die man schon beinahe Popmusik nennen könnte — wären da nicht Tietchens‘ sarkastischer, gelegentlich sardonischer Humor, der die Stücke immer im letzten Moment davor bewahrt, es zu werden, und die Harmonien, die immer irgendwo haken. Dieser Humor zeigt sich schon im schreiend tageslichtleuchtenden Cover (Grafik: Tina Tuschemess) und dem komplett gegensätzlichen Titel, er setzt sich fort in der „Band“, dem Zeitzeichenorchester, das sich ausschließlich aus Anagrammen des Orchesterleiters zusammensetzt, und einzig ein gewisser Rokko Ekbek passt nicht in die Reihe — grübel, grübel.

Die Aufnahmen, das scheint mir nicht ganz unwichtig zu sein, entstanden vor dem Kontakt mit Körber, sie sind also ohne Produktionsdruck, aber auch ohne die Gewissheit einer Veröffentlichung, eingespielt worden. Das dominierende Instrument ist ein Roland-CompuRhythm, ein programmierbares Rhythmusgerät, der damals sehr beliebte Vorläufer der TR-808, die dann durch Phil Collins zu Weltruhm kam. Das Melodieinstrument ist ein Moog Sonic-Six, der auch später immer wieder bei Tietchens auftaucht. Das Ganze ist auf acht Spuren aufgenommen, ein Eventide-Harmonizer und ein Hallgerät kommen ergänzend zum Einsatz. Das ist schon alles. Kein Stück ist länger als drei Minuten. Auf der usprünglichen Original-LP lief das letzte Stück auf Seite 2 in einer bespielten Endlosrille aus, auf der späteren CD-Veröffentlichung ist es ausgeblendet. Außerdem findet sich handschriftlich ins Deadwax gekratzt der Hinweis „Urbane Musik!“

Körber hatte geäußert: „Wenn das irgendwie erfolgreich ist, können wir gleich ’n halbes Jahr später ’ne weitere LP machen. “ Das wurde dann Spät-Europa. Dazu demnächst mehr in [AT06].

 

Asmus Tietchens:
Biotop
Sky Records – 057 (1981)
Wiederveröffentlichung mit Bonustracks (zu diesen später mehr):
Die Stadt – DS 61 (2003)
Wiederveröffentlichung ohne Bonustracks:
Bureau B – BB 141 (2013)

 

 
 
 
1977, lange bevor Asmus Tietchens seine erste Soloplatte veröffentlichte, ereilte ihn ein Notruf von Hans-Joachim Roedelius. Dieser stand mit Dieter Moebius im Studio und hatte bei Conny Plank für das Album Cluster & Eno 30 Minuten Musik mit Brian Eno eingespielt. Der allerdings musste sich dann nach England verabschieden. Weil aber 30 Minuten zu wenig für ein Album sind, andererseits der Termin fürs Schneiden der Plattenmatritze schon gebucht war, musste flugs noch ein weiteres Stück her. Das spielten dann Asmus Tietchens und Okko Bekker in Okkos Audiplex-Studio ein, sechseinhalb Minuten lang und „One“ betitelt. Zu hören sind Gitarre, präpariertes Klavier und Sitar. Weder Eno noch Roedelius oder Moebius sind an dem Stück beteiligt. Interessanterweise fand Manfred Gillig seinerzeit in seiner Albumrezension in der „Sounds“, mit seinen „orientalisch gefärbten Sitar- und Perkussionsklängen“ beziehe das Stück „schon eher Stellung“ [als der Rest der LP] und erinnere an Enos Another Green World. Kann man so sehen, obwohl es sich nach meinem Dafürhalten sehr gut in den Rest des Albums einfügt, das ich im übrigen bis heute sehr liebe.
 
 
 

 
 
 
Liliental, aufgenommen 1976, veröffentlicht 1978, ist keine Band, sondern eher ein Zufallsprodukt. Tietchens findet die Platte nicht wichtig, aber sie ist seine erste Äußerung als Musiker, die auf einem Tonträger erschienen ist. Eigentlich sollte dies eine Soloplatte von Dieter Moebius werden, der allerdings dann Tietchens und Bekker einlud, daran mitzuwirken. Die Möglichkeit, eine Woche lang umsonst Connys Studio zu nutzen, ließen sich die beiden nicht entgehen, und durch Zufall — wegen einer Kraan-Produktion — fanden sich dort noch Bassgitarrist Hellmut Hattler und Saxophonist Johannes „Alto“ Pappert ein. Conny Plank selbst griff zur Gitarre, und so entstand dieses Album, mehr oder weniger aus Sessionsituationen heraus. Tietchens, Bekker, Moebius und Plank sind auf allen sechs Tracks zu hören, Hattler auf den Stücken der Seite 1, Pappert auf den Stücken der Seite 2.

Das Album schwankt zwischen Experiment und Unterhaltung, ist in jedem Fall angenehm zu hören und gilt heute als eine Art Krautrock-Geheimtipp.
 
 
 

 
 
 
Letzteres kann man von der Cripple Story bei allem guten Willen nicht sagen. Aufgenommen wohl 1967, wurde die Story 1985 als EP mit dem Untertitel „Ein Streichquartett“ als Privatpressung mit einer Auflage von drei Exemplaren veröffentlicht. Zu hören sind E-Bass, E-Gitarre, Geige und Balalaika, sämtlich mit dem Bogen malträtiert. Vier Tracks, der letzte ist eine Veralberung der deutschen Nationalhymne, gewidmet ist das Ganze Rolf Zander, Tietchens‘ und Bekkers Musiklehrer am Kaifu-Gymnasium.

„Kaifu“ steht für „Kaiser-Friedrich-Ufer“, eine Straße in Hamburg-Eimsbüttel, an der sich das gleichnamige Gymnasium befindet. Tietchens und Bekker gingen dort zur Schule. Ich kenne das Gebäude auch gut, ich musste jeden Morgen dort vorbei zum benachbarten Bismarck-Gymnasium. Und wer will, kann das ehrwürdige Bauwerk auch in dem bahnbrechenden Filmdrama „Zur Hölle mit den Paukern“ von 1967 (Teil 1 der Septologie „Die Lümmel von der ersten Bank“) in Augenschein nehmen. Die Cripple Story legt beredtes Zeugnis von der anregenden Atmosphäre dieses Instituts ab und wird neben den Werken György Ligetis und Dieter Bohlens seinen sicheren Platz in der Musikgeschichte finden.
 
 

Cluster & Eno
1977, Sky Records 010

Liliental
1978, Brain Records 0060.117

Cripple Story
1985, Aurecs 001, heute enthalten auf dem Album „Adventures in Sound


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