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Archives: Anne Goldmann

Michael Engelbrecht: Irgendwann in den Siebzigern erschien als Taschenbuch das grosse Interview, das Francois Truffaut mit Alfred Hitchcock gemacht hat. Das war natürlich für jemanden aus meiner Generation ein „gefundenes Fressen“: zwei geschätzte Regisseure plaudern aus dem Nähkästchen. Wie hat sich Ihre Wertschätzung für Hitchcocks Filme entwickelt? Gab es da einschneidende, unvergessliche Fernseh- oder Kinoerlebnisse?

 

Anne Goldmann: Vielen Dank für den Tipp. Ich bin mit Filmtheorie und Filmsprache ja kein bisschen vertraut – aber ich liebe Kino: Die Atmosphäre im Saal, die große Leinwand, das Eintauchen in eine andere Welt. Zum Glück gibt es sie noch, die Kinos, in denen die Zeit ein bisschen stehengeblieben ist – oder es wenigstens so scheint …

Es muss nicht Hitchcock sein, obwohl seine Filme großartig sind und den Blick schärfen. Tatsächlich aber brauche ich nicht einmal „Suspense“. (Ich lese auch kaum Thriller, selten Krimis.) Ich mag Filme und Bücher mit gut gezeichneten Protagonisten und nur auf den ersten Blick stabilen Beziehungskonstellationen. Grenzsituationen. Filme, die an glatten Oberflächen, an meinen Sicherheiten kratzen, das Offensichtliche verweigern. Die mich irritieren und zugleich fesseln und in die Geschichte hineinziehen. In dem Sinn also kein einschneidendes Hitchcock-Kinoerlebnis, aber doch ein paar wunderbare Stunden mit einigen seiner Filme.

 
 
 

 
 
 

ME: Eine Ursituation aus „Das Fenster zum Hof“ könnte man als Ausgangspunkt von „Lichtschacht“ benennen: James Stewart meint, Zeuge eines Mordes geworden zu sein, und wird erstmal nicht ernst genommen. War dies ein Kristallisationspunkt, welche Ihren neuen Roman in Gang setzte? Das Cover des Buches macht die Parallele deutlich. Oder gab es noch eine andere Ausgangsidee?

 

AG: Tatsächlich (die Ähnlichkeit zur Ausgangssequenz des Films ist ein schöner Zufall) hat die Geschichte einen realen Kern: Vor etwa drei Jahren wurde ich Zeugin einer kleinen Szene, die sofort meine Gedanken zum Laufen gebracht hat: Da saßen drei Leute auf einem nahegelegenen Dach mit Gläsern in den Händen und prosteten einander zu. Nun bin ich ja nicht ganz frei von Höhenangst und habe erst einmal die Luft angehalten. Mein zweiter Gedanke: Eine wunderbare Einstiegsszene … Was, wenn nun einer von ihnen vom Dach gestoßen wird? Welche Gründe könnte der Täter/die Täterin haben, jemanden zu ermorden? Und: Das Verbrechen braucht eine Zeugin, die in einer Ausnahmesituation steht, die sie dazu bringt, anders zu handeln, als Sie und ich es vermutlich täten. Natürlich durfte die Leiche nicht gleich gefunden werden. Sie fällt also in einen Lichtschacht.

Anders als der Protagonist im Fenster zum Hof ist Lena in Lichtschacht freilich hinsichtlich der „Ermittlungen“ ganz auf sich allein gestellt, was durch den Umstand noch verschärft wird, dass sie ihren eigenen Wahrnehmungen nicht traut und am liebsten alles verdrängen, vergessen würde.

Das Cover von Martin Grundmann mochte ich sofort. Ich spiele ja gern mit Bildern.

 
 
 

 
 
 

ME: Gibt es solche Lichtschächte an vielen Orten, oder sind sie eher eine Ausnahme? Und in der realen Welt auch schon Schauplatz von Verbrechen gewesen?

 

AG: Ich habe jedenfalls schon mehrmals Zeitungsmeldungen gelesen, wonach jemand auf einer Party betrunken in einen Lichtschacht gestürzt ist. Von Verbrechen in Lichtschächten ist mir nichts bekannt, aber wer weiß … und wenn man selber spurlos verschwinden wollte – nein, keine Sorge! -, wäre das jedenfalls der ideale Ort dafür.

 

ME: Während man gern bei einigen Thrillern schnell vermutet, er sei schon mit Blick auf eine mögliche Verfilmung geschrieben, ist Ihr Roman eigentlich unverfilmbar, weil die Hauptfigur des zweiten Erzählstranges anonym bleibt, woraus sich eine besondere Spannung entwickelt. Das ist schon sehr „tricky“. Es muss da eigentlich einen Vorläufer für diese „suspense“-Startegie geben, obwohl ich in meinem Gedächntnis vergeblich rumkrame. Sind Sie da inspirationstechnisch bei irgendeinem Klassiker (vielleicht Agatha Christie?) fündig geworden?

 

AG: An eine Verfilmung habe ich nicht gedacht. Aber Sie haben natürlich recht: Lichtschacht wäre eine echte Herausforderung. (Hier müsste m. E. die Kamera die Position des Täters einnehmen und dann wäre da natürlich noch das Problem mit der Stimme, und … )

Tricky – nun ja: Ich stand vor dem Problem, dass die Leserin/der Leser mehr wissen müssen als die Protagonistin. Ich wollte sie ganz nah ans Geschehen heranholen. Gleichzeitig dürfen sie sich wie Lena der Identität des Täters nicht sicher sein. Damit blieb nur diese eine Möglichkeit. Ob schon einmal jemand diese Frage auf ähnliche Weise gelöst hat? Vermutlich – aber auch mir fällt niemand ein.

 

ME: Ich sass einmal mit Hakan Nesser tief in der westfälischen Provinz, in der Gaststätte des Bahnhofs von Unna. Wir kamen von Hölzchen auf Stöckchen, von Leonard Cohen auf Kriminalromane als Schnittstelle von Jugend- und Erwachsenenliteratur – und dann auch auf die sog. „schwedische Krimiszene“. Er hielt diesen Ausdruck für einen Hype, für einen Vermarktungstrick. Man kann drüber streiten: schliesslch gibt es so eine Art „sozialkritischen Realismus“, der von Sjöwall/Wahlöö bis in die Gegenwart (Mankell und Co.) führt. Andererseits: in welchem Land gibt es solche Strömungen der Kriminalliteratur nicht? Sehen Sie sich in irgendeiner Art in einer speziellen Tradition der österreichischen oder europäischen Literatur, oder halten Sie Kriminalschriftsteller eher für Einzeltäter?

 

AG: Ich weiß, dass Schubladen vielen ein Stück Sicherheit geben. Auch ich sehe aber wie Hakan Nesser derlei „Zuordnungen“, wenn Sie so wollen, im Großen und Ganzen als Teil einer Marketingstrategie. Die Leserin/der Leser wissen, was sie kriegen, wenn sie in ein bestimmtes Regal greifen, der Handel liefert angepasst an die Zielgruppe. Was einmal außergewöhnlich, originär, originell war, wird wieder und wieder aufgegriffen. Fast jedem Hype folgen Bücher über Bücher, die auf der Erfolgswelle mitsurfen wollen und beim Lesen einen schalen Nachgeschmack hinterlassen.

Das Schöne am Schreiben ist für mich das Entwickeln der Personen, die ich auf die Reise schicke, das Ausprobieren, wie sich eine Idee am besten umsetzen lässt – es kann glücken oder scheitern – und wie ich meine Themen in die Handlung verpacken kann. Reizvoll finde ich das Spielen mit dem Genre.

Ich glaube, dass Kriminalschriftsteller genauso verschieden sind wie ihre Bücher (oder doch eher umgekehrt). Ich selber bin sicher jemand, die sich schwer – und ungern, das auch – einordnen lässt.

 

ME: Wann waren Sie in Ihrer Vita erstmals von einem Kriminalroman dermassen in Bann geschlagen, dass die Lektüre noch lange nach der letzten Seite nachwirkte?

 

AG: Das war wohl – vor vielen, vielen Jahren – der Der talentierte Mr. Ripley von Patricia Highsmith. Heute sind es Bücher wie die von Daniel Woodrell. Der Tod von Sweet Mister hat mich nachhaltig beeindruckt.

 

ME: Gibt es einen Psychothriller, den Sie mehr als einmal gelesen haben (und sei es auch „nur“, um hinter sein Konstruktionsprinzip zu kommen)?

 

AG: Astrid Paprottas Sterntaucher. Das ist freilich schon einige Jahre her. Bezüglich „Konstruktion“ halte ich mich an ein paar gute alte Regeln, breche die eine oder andere und verlasse mich dabei auf mein Gespür. (Natürlich verlaufe ich mich auch manchmal. Aber nur so lernt man.)

 

ME: Auf welche anstehende Neuerscheinung in Sachen „crime“ warten Sie voller Hochspannung?

 

AG: Die werde ich vermutlich erst beim Stöbern in meiner Buchhandlung entdecken. Hier finde ich immer wieder (für mich) neue Schriftsteller. Es genügen ja meist wenige Zeilen, und ich bin gefangen – oder gelangweilt.

 

ME: Verfolgen Sie einige der Fernsehserien, die seit Jahren tatsächlich genrerweiternd sind, bzw. bleibende Meilensteine in die ansonsten oft öden TV-Landschaft platzieren, wie zuletzt etwa True Crime, Top of the Lake, oder Broadchurch? Alle drei genannten Serien haben traumatisierte Figuren als Protagonisten!

 

AG: Auch hier muss ich passen. Ich lebe schon seit gut zweieinhalb Jahrzehnten ohne Fernsehen. Traumatisierte Menschen begegnen mir v. a. in meinem Arbeitsalltag als Sozialarbeiterin in der Straffälligenhilfe. Ich begleite sie oft über viele Jahre, durch alle Höhen und Tiefen. Wenn es Fernsehserien gelingt, im Zuschauer Interesse zu wecken, das über Voyeurismus hinausgeht, vielleicht einen Zugang ermöglicht, begeistern Sie mich vielleicht noch fürs Fernsehen.

 

ME: In Ihrem Roman habe ich zum ersten Mal erfahren, was man in Wien für „Milchkaffee“ sagt. Wo in Wien gibt es ihrer Meinung nach die beste „Melange“?

 

AG: Jetzt bringen sie mich tatsächlich in die Bredouille. Wo es die beste Melange gibt – das ist nämlich eine Glaubensfrage, über die man lange streiten kann.
Ich würde Sie ins Café Prückel einladen.

 

Webseite der Autorin: www.annegoldmann.at

 
 
 

Foto © Herbert Redtenbacher
 


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