Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

2024 16 Aug

Martin Brambach

von | Kategorie: Blog | | 1 Comment

 

Der Mann ist die Show – unter anderem zu bewundern im aktuellen Dresden-Tatort. Ein Typ, von dem man den Anschein hat, dass er permanent übergriffig wird, vor allem (aber nicht nur) gegenüber Frauen. Seine beiden Kommissar-Kolleginnen haben es nicht einfach mit ihrem Chef, dem Paradebeispiel für die Generation des alten weissen Mannes mit längst abgelaufener Halbwertszeit und Sugar-Daddy Attitüde. Beim Verhör schreit er unvermittelt, stets dem cholerischen Ausbruch innig verbunden, so wie dem Kutscher permanent die Pferde durchgehen, eine junge Schülerin an, dabei mit dem Gesicht ganz nah dran: „Ja, merken Sie denn nicht, junges Frollein, dass wir hier auf Ihrer Seite sind!“ Er bekommt dann auch schnell den Platzverweis: „Chef, Sie gehen am besten mal raus und wir machen das hier weiter.“ Keiner kann so akurat den Lodenmantel an den Haken hängen, dabei die Untergebenen zur Drecksarbeit delegieren, derweil er sich ja um „die Presse“ oder andere höhere Aufgaben kümmern muss. Seit langem kennt man den aus Funk und Fernsehen bekannten deutschen Schauspieler, genial in der Darstellung des Unsympathen. Ich sah in mal in einer Talkshow und war verwundert, dass er privat das Gegenteil zu sein scheint, was er in seinen Rollen darstellt: ein mitfühlender und sensibler Typ, der wahrscheinlich Rockmusik hört, Yoga macht und sich vegetarisch ernährt. Besteht nicht auch darin der Reiz des Schauspielerberufs, dass man seine Schattenseiten kennenlernt und darstellen kann: der Jekyll & Hyde Effekt? Jede Wette, dass es dem Brambach einen Mords-Spass macht, was er spielt. Als Zuschauer jedenfalls kommt unsereins auf seine Kosten: her mit den Dresden-Tatorts!

 

 

Für die Zeit der Hochbetagtheit habe ich mir vorgenommen, noch einmal Karl May zu lesen, als stolze Besitzerin aller 70 Bände in der formschönen Ausgabe des verdienten Bamberger Verlags mit dem kuschelig-altmodischen Golddruckoutfit. Man riecht förmlich den ehrwürdigen Staub, den man aus ihnen herausschütteln kann und in diesen Nebeln und Gerüchen findet sich ein Stück Vergangenheit/ Kindheit kurzfristig wieder – dusty hours.

Wie ich die Anschaffung mit meinem knappen Taschengeld geschafft habe, ist mir bis heute ein Rätsel, ich hoffe ich habe keines geklaut, das hätte der grosse Mayster nicht gutgeheissen, die Kindererziehung lag ihm sehr am Herzen, obwohl er keine hatte – kein Wunder bei 14 Geschwistern, da hat man die Nüstern voll. Heute kann man die gesammelten Werke bei Amazon für 7,99 erstehen, ein Zeichen dafür, dass die beste Zeit des Autors wohl vorbei und jegliches Verfallsdatum abgelaufen ist.

Die Verfilmungen in den Jahren ab 1962 aufwärts brachten noch einmal eine kurze Renaissance, die auch den Büchermarkt triggerte, bis die anschwellende Popkultur mit einer ganz neuen Bildsprache und neuen Themen das brave Bravo-Nachkriegsjugend-Eiapopeia (immerhin bekam die Jugend jetzt eine eigene Kultur, Mode und Musik) unter sich begrub. Da konnte auch der hoffnungslos gutaussehende Pierre Brice nicht mehr viel dagegen machen – der sich im übrigen als alter Sauertopf erwies und stinkebeleidigt war, als Bully Herbig sein Schuh-des-Manitou-Gekaspere auf die Leinwand bannte und alle den schwulen Winnetouch plötzlich besser fanden als die holzgeschnitzte Originalfigur mit maximal drei Gesichtsausdrücken, die er uns immer ablieferte (betroffen, nicht betroffen, sehr betroffen) und was wiederum alles Hohe und Hehre der May-Welt endgültig in die Gewässer der Lethe schwemmte, die bekanntlich alles vergessen lässt damit es einem im Hades dann besser gefällt.

Zugegeben: die Storys sind schwarzweiss und trivial und die Figurenzeichnung ein Sammelsurium an shining heroes, aalglatten Gangstern und skurril-schrägen Typen, auch von der Darstellung von geschlechtlich uneindeutigen oder transvestitisch sich gebärdenden Zeitgenossen schreckte May nicht zurück, gegen Crossdresser hatte er offenbar nichts.

Ein Kessel Buntes und nicht wirklich fesselnd für alle die das Kindesalterverfallsdatum überschritten haben. Wer aber glaubt, es handle sich hier um Wildwestgeschichten und Reiseerzählungen, der irrt gewaltig – der May’sche Mikrokosmos ist wesentlich komplexer und durchaus wert, dass sich Literaturwissenschaftler und Psychologen mit ihm beschäftigen. Taten auch viele.

Faszinierend zunächst der Mann selbst: Ein schwächliches Kind einer armen Weberfamilie in Sachsen, vorübergehend vermutlich aufgrund Mangelernährung erblindet. Daher nicht fähig, am Webstuhl zu malochen und der Grossmutter zur Obhut anvertraut, die ihn lehrte, dass man in der Welt der Märchen und Phantasien besser beheimatet ist als im Reich der Schwerkraft, der störrischen Materie und der ungestillten körperlichen Bedürfnisse. Der Vater, ein durchaus schlauer Kopf, der den Sohn an die Bücher brachte – immerhin das – aber ihn und seine Geschwister (er war das fünfte von vierzehn Kindern, von denen aber neun in den ersten Lebensmonaten verstarben) gnadenlos mit der Rute (genannt der „Birkene Hans“, hier also bereits die Fetischisierung eines Folterinstrumentes) verprügelte.

Die Anhäufung von Waffen ganz besonderer Art und ihre phallische Symbolik findet sich im gesamten Oeuvre Mays: Sam Hawkens hatte seine treffsichere Liddy, wenn eine Schiesserei drohte, freute die sich offenbar bereits im Vorfeld und er bemerkte „dass Liddy Hochzeitsgedanken hat.“ Was immer man sich darunter jetzt vorstellen mag. Old Shatterhand hat natürlich gleich zwei Schiessprügel, klaro.

Die Mutter Mays war eine depressive Dulderin – das damals übliche Ehegespann eines saufenden Cholerikers, diese Konstellation in Verbindung mit Armut und Kinderarbeit ergibt nicht immer unkomplizierten Nachwuchs – das war auch die Konstellation in der Hitler und Stalin aufwuchsen. Beim Vater der Sklave, bei der Mutter der gescheiterte Retter (Frauen aus der Gewalt von Monstern zu befreien ist im Werk ebenso ein oft aufzufindendes Motiv), bei der Oma der Märchenprinz – ein integriertes realistisches Selbstbild darf man bei diesem mismatch ohnehin nicht erwarten, da konnte nichts wachsen und wieder gesundschrumpfen um zu einer Mitte zu finden die ein geglücktes Leben ermöglicht und jede Demütigung zieht sofort die kompensatorische Reaktivierung von Grössenphantasien und dementsprechende Manifestationen (im Angeben war er unschlagbar!) nach sich und dies ist wiederum ein Anreiz für die Umwelt ihn weiter zu deckeln.

Aus dieser Spirale fand er nie mehr heraus, denn unsere Verwerfungen im Selbstbild spiegelt uns recht zuverlässig die Umwelt wieder: Man wird auf den Thron gehoben und wieder gestürzt und durchgeprügelt – manchmal sogar hintereinander von den gleichen Leuten und hat den Eindruck dass die Vergangenheit nie endet. Die Errichtung eines Armes-Opfer-verkanntes-Genie-Selbstbildes, von bösen Neidern umzingelt, rettet hier vor dem narzisstischen Zusammenbruch.

Die Gut-Böse-Spaltung zieht sich durch sein gesamtes Werk, in den früheren Jahren begann er mit Kolportage-Fortsetzungsromanen in katholischen Familienzeitschriften (Waldröschen, Erzgebirgische Dorfgeschichten), mit reichlich wackeren deutschen Helden und viel traulichem Waldesrauschen – und sich durch das gesamte Oeuvre ziehenden sadistischen Entladungen. Hadschi Halefs treffsichere Peitsche, die „die Haut aufplatzen lässt“ und sich sodann „tief ins Fleisch des Schurken wühlt“, hatte auch schon ihre Vorläufer dort im Erzgebirgischen und wurde ebenso oft wie später im Orient hervorgeholt.

 

 

Die Volten, Kapriolen und sonstigen Versuche eines unterbezahlten, kränklichen Dorfschullehrers und späteren Gefängnisinsassen sich durch Hochstapelei und überbordende Phantasietätigkeit vor der Ärmlichkeit und Banalität des Lebens zu retten und stets mit einem Bein jenseits der Realitätsschranke in grandiosen Traumwelten zu herumzuspazieren und dort in hochidealisierten Beziehungen mit perfekten Menschen sein Herz zu erwärmen sind lesens- und studierenswert. Er schaffte es, diese Traumwelten immer stärker in sein Leben zu integrieren, sich immer häufiger als das Ideal-Ich zu präsentieren, das im Westen wie im Orient grandiose Siege erfocht.

In seinem Privatmuseum Villa Shatterhand  liess er die Träume sich materialisieren, allerlei Völkerkundliches sammelte sich an und sogar die legendäre Silberbüchse und Haare vom Haupte Winnetous konnten besichtigt werden – gemäss späterer Überprüfungen handelte es sich um Pferdehaar – und May sah sich gezwungen seine Geschichten zu korrigieren die besagten dass Winnetou mit Ross und Silberbüchse in den Gros-Ventre-Bergen unter einem Erdhügel begraben wurde. Offenbar hat Old Shatterhand dann Leichenfledderei begangen – natürlich nur um seinerseits ebensolches der schurkischen Komantschen zu verhindern – und die Waffe der starren Hand entwunden sowie noch ein Haarbüschel für die staunende Nachwelt sichergestellt. Wenn man Mays Gedankenpfade weiterdenkt kommt man rasch ins Bizarre wenn nicht gleich ins Lächerliche.

Arno Schmidt amüsierte die Leserwelt mit der Analyse der unterschwelligen Sexualbotschaften und – landschaften im Oeuvre. Dass sich Old Shatterhand und Winnetou (der Herr mit der unpraktischen Damenfrisur, der auch nach dem grössten Schlachtgetümmel noch untadelig sauber und gebügelt in seinen weissen Lederklamotten aussieht und der vermutlich morgens am Teich sitzt, sich die Klapperschlangenhaut in die Flechten flicht und die Leggins wäscht – ich sage ja, man kommt schnell ins Bizarre) ständig umarmen und auch küssen, sei jetzt dahingestellt, ebenso das Kommunizierende-Röhren-Getue („Was mein weisser Bruder fühlt, das fühlt auch Winnetou!“), das die Seelenverwandtschaft unterstreichen soll, ist dabei nur ein Augenzwinkern wert, sadomasochistische Entgleisungen meinethalben auch, Schmidts besonderes Interesse galt den sexualisierten Darstellungen von Landschaften. Fasten seat belts!

 

 

Es wird in offenbar haufenweise vorhandene senkrecht sich öffnende und dicht bewaldete Felsspalten, aus denen ein Bächlein rieselnd hervorspringt, eingedrungen und ebenso oft in kreisrunde und bewachsene Talkessel abgestiegen, aus denen üble Dünste dampfen, man bricht auf zum „Loch der alten Frau“, Winnetou ruht in den Gros-Ventre-Bergen (der Tod als Rückkehr in den Bauch der Mutter Erde – okay, kann man so stehen lassen), ein Häuptling nennt sich Lata Nalga, was etwa mit Konservenhintern zu übersetzen wäre.

Und so geht es ähnlich charmant und sanft hügelig weiter. Kriemhild – so Arno Schmid, der Meister der Wortspiele – sei ja nicht nur eine Prinzessin gewesen, sondern cream hilled sei ja auch eine Eigenschaft jedweder Miss Germania, dem gemäss treiben sich die Protagonisten auch gerne zwischen Hügeln mit im Abendrot rosa leuchtenden Spitzen herum und erkunden anmutig begraste Felsritzen, in denen es dann beim Eindringen recht spannend wird und so mancher verborgene Schatz zu finden ist.

By the way: Wenn sich eine Frau an Shatterhand oder Winnetou anpirscht, ist klar, dass ihr kein langes Leben beschert ist und der Meuchelmörder bereits lauert, um sie um die Ecke zu bringen und die hochidealisierte Beziehung zwischen den männlichen Protagonisten störungsfrei aufrechtzuerhalten. Deutschgetümelt wurde natürlich weiterhin – Old Shatterhand ist ja Sachse, trifft im Westen auch rätselhafterweise immer wieder auf Sachsen und der weisse Lehrer von Winnetou, den es auch in den Westen verschlagen hat, stammt aus … raten Sie mal.

Die Sachsen sind natürlich alle feine Kerle und so wird mit dem Wörtchen deutsch das bekannte chauvinistische Schindluder getrieben. Weiter scheint auch in der Maywelt eine besondere Form von Fulfilling-Department zu existieren: Wenn irgendein Gauner den kuriosen Schwur tut, ein Grizzly solle ihm das Gehirn herausfressen, wenn er nicht die Wahrheit sage … etc … etc … – kann man sicher sein, dass Meister Petz schon um die Ecke auf ihn und sein bisschen Grips wartet.

Laut Schmidts Analyse sah er sogar in dem quirligen und immer etwas aufgeregten, sein eigenes Ding verfolgenden und mit einem Bart gesegneten (der aus sieben Haaren bestand – drei rechts, vier links, wenn ich mich recht erinnere) Hadschi Halef Mays eigenen Penis. Schwer zu bändigen war der anscheinend – nu ja, nu ja! So weit so kindlich!

Jedenfalls nahm man dem Alten seine Hochstapelei sowie auch die „unmoralischen Züge“ seiner Kolportageromane  – etwas Sterileres als diese war sogar in der damaligen Zeit schwer aufzufinden – äusserst übel und er sah sich zu einem Kurswechsel gezwungen und verkündete häufig und ex cathedra, dass seine Reiseerzählungen, mit denen er es zu Popularität und bescheidenem Wohlstand gebracht habe, nur Vorstudien gewesen seien und sein eigentliches Werk jetzt im Alter beginne: der Ich-Erzähler (also Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi) nun der suchende Mensch sei, der versuche, die „Menschheitsfrage“ zu lösen – also irgendwie eben den Kampf zwischen Gut und Böse zu gewinnen und das Niederringen des eigenen Schweinehundes hinzukriegen, wie man das heute nennen würde.

 

 

Damit wurde es endgültig beklemmend …

Illustriert wurden die Bücher dieser Ära nun vom Kunstprofessor Sascha Schneider, einem Maler, der sich damals schon als homosexuell geoutet hatte, folglich wimmelte es von da ab im Oeuvre reichlich von nackten Kerlen in anmutigen Posen.

 

      

 

 

Auch manch anderer Illustrator einer niedrigeren Kaste wurde Opfer des gleichen Sogs und bildete Winnetou mit Ohrring, kessem Hüftschwung und neckischem Pferdeschwänzchen ab.

 

 

Handlungsmässig ging es nun eher spirituell-jenseitig zur Sache und die Geschichten handelten von Ardistan und Dschinnistan (das Reich des Bösen, Triebhaften und Erdgebundenen contra … das Gegenteil halt!) und das Pendant von Winnetou war im Orient eine ebenso betagte wie moralisch hoch und höchst stehende Dame – vermutlich ein Abbild der idealisierten Grossmutter der May hier ein charmantes Denkmal setzte – und die Kara Ben Nemsi zu seinem ursprünglichen Ziel führte das „Edelmenschentum“ zu erreichen.

 

 

Marah Durimeh!
Tusch, Trommelwirbel!

Lesen wollte das nun mittlerweile niemand mehr, verlegt wurde es weiterhin und Vortragsabende und Lesungen gab es auch weiterhin, angeblich soll auch Adolf Hitler gelegentlich im Auditorium gehockt haben, um etwas über den Edelmenschen zu hören. Da hat ihm sicher vieles gefallen.

Die Identität des Weitgereisten beliess May weiter im wohligen Dunkel der Halbverdrängung und liess sich, klein und schmächtig wie er war, mit Indianergewand, Lasso und Silberbüchse als Old Shatterhand ablichten, auch als ihm schon keiner mehr den berüchtigten Prankenhieb Richtung feindlicher Schläfe zutraute. Irgendwie ja auch eine Leistung! Oder wahlweise Frechheit, abgrundtiefe Arglosigkeit und stabilisierender Grössenwahn – die Realitätsgrenze war bei ihm jedenfalls zeitlebens sehr unscharf gezogen.
Nebenbei hatte er sich immer wieder mit Gerichten, Verlegern, Moralaposteln und anderen Nattern auseinanderzusetzen, was seine Gesundheit zusehends schwächte, um seine Feinde war er wahrlich auch nicht zu beneiden.

In seinen letzten Jahren, bereits altersgebrechlich, besuchte er doch einmal – erstmalig – den Wilden Westen, lebte und speiste in einem gepflegten Hotel. An seiner Seite seine zweite Ehefrau Klara, die den Rest seines Lebens treu ergeben vor ihm auf den Knien lag, (nachdem er die erste – die Emma – vom Typ her eher ein berechnendes Luder – losgeworden war, dergleichen schaffte er durchaus) und der er ebenfalls in seinen Büchern ein gebührendes Denkmal gesetzt hatte: Die schöne Kurdin Schakara, die morgens wie weiland Winnetou ihre schwarzen Flechten am Teich ordnete – womit die Sexualüberschreibung von männlich zu weiblich im höheren Alter offenbar vollzogen war. Die Frauen bekamen zunehmend das zahlenmässige Übergewicht und die stärkere moralische Macht im Oeuvre und bar jeder Selbstreflexion hat er auch sicher nicht gemerkt, dass dies zeitlich mit dem Eingehen seiner zweiten Ehe in etwa zusammenfiel.

Als er einige Tage in den Staaten verschwunden beziehungsweise für die Presse nicht zu sprechen war – man vermutet Unpässlichkeit – erklärte seine Schakara den Reportern, er sei wohl mal eben rasch zu seinen Apachen gefahren deren Ehrenhäuptling (das gibt’s anscheinend – Häuptling h.c.) er ja immer noch sei. In einem späteren Interview bekannte sie das alles nicht mehr so genau zu wissen, auch ihr Mann sei sich nicht mehr sicher wohin ihn seine Ausflüge geführt hatten. Somit hielt sie das gemeinsam gewobene narzisstische Konstrukt aufrecht und konnte weiterhin – anstatt mit einem Schullehrer und Kleinkriminellen von sehr instabiler psychischer Struktur – mit Old Shatterhand verheiratet sein. Da lohnt sich dergleichen Drüberschwurbeln.

Ob das Ganze ein Vorbild für die Jugend gewesen ist, sei jetzt mal dahingestellt und ist im übrigen völlig irrelevant; wenn ich die Bände jetzt auf dem Flohmarkt anbieten würde, käme sicher von den youngsters lediglich die Frage, wo ich denn meine Zeitkapsel geparkt hätte.

 

Summary:

Das Werk ist künstlerisch wenig interessant. Das Leben des Autors und seine Fähigkeit des Selbst- und Fremdbetrugs und das durchaus geschickte Hangeln über immer wieder auftauchende Abgründe in seiner unruhig gezogenen Lebensspur und das Aufhalten in intermediären Räumen, bis keiner mehr wusste, was wie wo wann und mit wem und ob überhaupt oder eher doch nicht passiert war, ist sehr wohl ein Kunstwerk ganz eigener Art und unverzichtbarer Stoff für Psychiatrie-Seminare. Das Wilkomirski-Syndrom nennt man’s heute – eine Form von Pseudologia phantastica.

Wie ich überhaupt zu diesem Thema komme?

Ich war in Berchtesgaden, hab’s ja nicht weit dahin, und habe mal wieder das Lattengebirge bewundert und die schlafende Hexe.

Very cream hilled!
Eiverbibbsch!!

 

2024 9 Aug

Den Kopf verlieren

von | Kategorie: Blog | | 2 Comments

 

„Was kostet den Kopf?“ lautete der Titel einer Jubiläums-Festschrift zu Ehren des Soziologen Dietmar Kamper, dessen Bücher ich einst sammelte wie andere Leute Schallplatten und eigenmächtig zum Kultstatus erhob. Nun, die Zeiten ändern sich, aber der Terror der Bilder und die parasitäre Bemächtigung des Körpers durch den Geist, auf die ja auch der vom Bürgertum vielgescholtene Osho alias Bhagwan Shree Rajnesh einst hinwies, ist immer noch am wirken, stärker als je zuvor. Allerdings, in psychotherapeutischen Kreisen inzwischen bekannt, besteht eine konstruktive Wechselwirkung: der Körper formt den Geist (bottom-up) und der Geist den Körper (top-down). Die Eingangsfrage des geschätzten Soziologen, der ja auch Leistungssportler war in frühen Tagen, zielt wohl eher auf Letzteres und tatsächlich wies er immer wieder darauf hin, auf welch perfide Weise der Körper zugunsten des Geistes das Nachsehen hat. Deshalb werde ich auch nicht müde, meinen Lieblingswitz wiederholt zu zitieren, in dem Jemand einen verlorenen Schlüssel unter der Laterne sucht, obwohl er ihn im dunklen Gebüsch weiter abseits verloren hat. Aber dort sind weder Licht noch Ratio. So ist der Kopf, hat er einmal feste Vorstellungen gefasst, nur schwerlich davon abzubringen. Ich habe es mir mittlerweile abgewöhnt, die Glaubenssätze anderer Menschen anzugreifen, diesem Minenfeld weiche ich aus, soweit es gelingt, behalte meinen Widerspruch für mich. Denn paart sich Sturheit mit Narzissmus, heisst es: die Flucht ergreifen.

 

 

                      

 

Notturno (Ö, 1986), Fritz Lehner

 

Wenn ich die bevorzugten und individuellen Klangqualitäten grosser Komponisten Revue passieren lasse, würde ich Beethoven das Donnergrollen zuordnen – irgendwie konnte er das am besten, Mozart das Leuchten und Strahlen, Schumann das Abgründige und Schubert die Sehnsucht und die Wehmut – dieser Mann sehnte sich das Herz aus dem Leibe.

Eine Biographie über ihn, die mir vor Jahrzehnten in die Hände fiel, war betitelt als „Musikgewordenes Heimweh“, vom Sprachlichen her etwas verstolpert – aber passt!

Fremd zieh ich wieder aus – zwischen diesen beiden Polen spannt sich das Leben von Franz Schubert auf, hier in einem Biopic von Fritz Lehner mit dem kongenialen Gernot Roll als Kameramann in einem Dreiteiler, fürs Fernsehen produziert; der Regisseur bekam dafür 1986 den Bundesfilmpreis.

Der kommerzielle Erfolg im deutschsprachigen Raum blieb dem Film versagt, er wurde fürs Kino auf einen dreistündigen Zweiteiler eingedampft (das heisst einige der besten Momente fehlen bzw der ganze Mittelteil), englisch synchronisiert und im Ausland vertrieben womit sich wieder das Muster konstellierte, dass der Prophet im eigenen Lande nicht viel gilt. Falls Schubert hätte hellsehen können, hätte er sich darüber nicht weiter gewundert und ein eigenes Lebensmuster darin wiedererkannt.

Sowohl der Zwei – als auch der fünfstündige Dreiteiler Mit meinen heissen Tränen sind mittlerweile als DVD erhältlich und ein gutes Zeichen dafür dass Produzenten vernunftbegabt sind und Potentiale erkennen und fördern können.

Der Film beschreibt das Leben des Hofkompositeurs Franz Schubert im Jahr 1828; es ist sein letztes Lebensjahr und bereits verdunkelt durch eine schwere Erkrankung, die ihn bald töten wird, die er zeitweise noch zu verleugnen sucht, bis sie am Ende zum finalen und nicht mehr zu verleugnenden Prankenhieb ansetzt, wahrlich eine Reise in den Winter auf die man uns mitnimmt.

Zunächst sehen wir ihn im Kreise seiner Freunde – junge Künstler aus den besseren Kreisen Wiens – Moritz von Schwind, Franz von Schober, Johann Strauss – und deren Entourage von hübschen Mädchen zum Feiern und Hörner-Abstossen, bevor eine gutbürgerliche Jungfrau geehelicht wird.

Alles smarte Jungs – wie man heute sagen würde – unter denen Schubert, den sie liebevoll aber auch abschätzig „Schwammerl“ nannten, sicher das grösste Talent sein eigen nennt, aber auf gesellschaftlichem Parkett eher unsicher und tapsig wirkt und auf Prostituierte zur Befriedigung angewiesen ist. Hart genug für einen Romantiker, der die Mutter verlor und als dreizehntes Kind der Eltern entsprechend emotional ausgehungert war. Als seine Ansteckung mit Syphilis langsam ruchbar wird, geht die Umgebung zusehends auf Abstand.

 

 

Der Film legt wenig Schwerpunkt auf äussere Handlung, ist fokussiert auf die Darstellung innerer Prozesse und Entwicklungen, die vom Regisseur in die szenische Gestaltung symbolisierend eingewoben werden und eine ganz eigene Textur bilden – ein gelähmter Bettler, der ihn verfolgt und seine Freundschaft sucht als Verkörperung des Elends das ihn nicht loslässt, grüne Äpfel, die unvollendet im Sturm vom Baum gefegt werden, gefangene Tiere, denen kurz die Freiheit geschenkt wird als Symbole eines eingesperrten Trieblebens, eine verfallende überwucherte Kirche, von der die Natur wieder kraftvoll und zunehmend Besitz ergreift in einer Phase eines kurzen Aufblühens von zupackender Männlichkeit des Protagonisten, freilich von kurzer Dauer.

Ein von einem Feuerwerkskörper getroffener niederbrennender Baum als Bild für die ultimative narzisstische Katastrophe, als er bemerkt dass das Mädchen, das sich für ihn interessiert, von seinen Freunden eben dafür bezahlt wurde. Im Hintergrund dieses Bildes einer Zerstörung die grandiosen Ejakulationen eines Feuerwerks, die darauf schliessen lassen, dass seine Freunde nach den oralen Befriedigungen eines Gartenfestes nun zu Freuden anderer Art übergegangen sind, von Moritz von Schwind in Skizzen festgehalten, die Schubert am nächsten Morgen auf der hagelverwüsteten Festtafel vorfindet.

Wir sehen Gesichter und Blicke in teils quälend langen Einstellungen – die Kamera bleibt stets nahe bei den Protagonisten und lässt sie nicht aus den Augen – sie erzählen die Geschichte einer Liebessuche, von Neid und Eifersucht und schliesslich einer Agonie, die ganze Umgebung in ihren fahlen Farben scheint davon infiziert zu sein, projektiv gesehen durch das Auge des Protagonisten in seinem körperlichen und seelischen Zugrundegehen.

Das Ganze geschickt plaziert ins Dulijöh – Wien der Biedermeierzeit, hinter aller Postkutschengemütlichkeit ein brutaler Polizeistaat (häufig eingeblendete berittene Polizei mit allen Insignien von Macht und Gewalt ausgestattet erzählen davon und schlagen assoziativ den Bogen zum Stock des brutalen Vaters, mit denen er seine Kinder und seine Schulklasse in Schach hält) mit ausgedehnten Ghettos für den verarmten Teil der Bevölkerung in denen Prostitution, Kriminalität und Krankheiten gedeihen.

Die im düsteren Hintergrund häufig eingeblendeten Postkutschen erinnern eher an Charon, der Menschen dorthin befördert, wo sie nicht hinwollen oder Nietzsches dramatisches Gedicht vom Tod Beethovens. Eine melancholische Fin-de-siecle-Stimmung, nur hundert Jahre früher, aber man sagt ja, dass die Jahrhundertwenden immer mit Melancholie und Depression vergesellschaftet seien. Warum auch immer … die Kunst hat diesen Phasen jedenfalls viel zu verdanken.Somit bildet die Umgebung eine Folie für den Protagonisten und spiegelt ihm zurück, was er erlebt, Innen und Aussen verschmelzen zu einer Einheit und wir haben in der Zusammenschau Teil an Verfall, Untergang und kurzzeitigem Aufleuchten und Wiederverlöschen.

Der Regisseur versteht es auch, Ambivalenzen herauszuarbeiten – die des narzisstischen Poseurs Franz von Schober und dessen Neid auf den Begabteren und seine Schuldgefühle, weil er ihn zu erotischen Eskapaden mitnahm und dem Schubert letztlich seine Krankheit verdankt. Auch so kann man ein Neidobjekt beseitigen, aber die Reue versteht noch ihn einzuholen, die hat flinke Beine und erwischt so manchen Hallodri doch noch am Ende und sorgt für eine Weiterentwicklung zum Besseren. Seine Tränen am Krankenbett sind ehrlich. Und die Frauen die von seiner gefühlvollen Musik tief bewegt werden, sich aber körperlich nicht von ihm angezogen fühlen und deshalb Schuld und Mitleid verspüren – das rührt auch das Herz der Käuflichen – ebenfalls eine anstrengende Mischung und schwer zu ertragen, da hält man Abstand und der Liebesansturm des Ausgehungerten endet in Peinlichkeit und Scham.

Und Johann Strauss spielt furios auf, schlägt alle in seinen Bann und seine depressiv – versteinerte Miene konterkariert alle fröhlichen Walzer und hellt sich erst auf als er einer Violinsonate von Schubert lauscht – man versteht sich, erkennt sich als im Leid verbunden und merkt, dass Depression auch vor den “ Feschen“ nicht haltmacht – und dass man nicht allein ist. Das Andeuten ansonsten unsichtbarer Beziehungen durch Blicke und Mimik ist eine der Stärken des Filmes.

Aber es gibt noch eine Abendröte vor dem grossen Dämmern: Schubert, in einer kleinen Kammer in der Wohnung seines Bruder untergebracht (und zeitweise sogar eingesperrt) komponiert seinen letzten Liederzyklus, die „Winterreise“, die er voll Freude als Fortschritt in seiner musikalischen Entwicklung erlebt und es spinnen sich feine Liebesfäden zwischen ihm und seiner jüngeren Schwester (oder Halbschwester) Josefa; sie betreut ihn, wäscht ihn und als sich erste kognitive Ausfälle zeigen hilft sie ihm sich zu strukturieren und an seiner Komposition weiterzuarbeiten.

Es kommt zu einer zwar nicht genitalen aber inzestuösen Begegnung, die Schubert noch einmal neue Kräfte verleiht – er kleidet sich an und möchte ausgehen, nimmt Kontakt zu einer Nachbarin auf, die er schon länger beobachtet – ein letztes – und wohl auch einziges Mal tanzt er mit einer Frau – vielleicht auch nur in der Phantasie, mehr geht nicht. Vorher erblickt er seinen Doppelgänger vor dem Haus – ein mythisch-kryptischer Hinweis auf den nahen Tod; Freud interpretierte ihn als das Gegenteil bzw als Abwehrkonstrukt: Ein Doppelgänger sichert das Überleben dessen, der ihn phantasmisch erschafft – einer bleibt also übrig – ein infantil anmutendes Rechenexempel, aber wenn sich Freud vom Klinischen entfernte und in kulturell – mythologischen Bereichen herumzudenken begann, wurde es oft recht seltsam, da wäre man versucht ihn ans Krankenbett zurückzupfeifen.

Bruder und Schwester Schubert also wirken zusammengeschmiedet im nonverbalen Kontakt und einer Art primordialem Raum in dem wortloses Verstehen herrscht. Das Mädchen spricht nicht, scheint verstummt – vielleicht angesichts der Gewalttätigkeit des Vaters, der mit seiner Zeugungswut zwei Ehefrauen verschliss – er hatte insgesamt 19 Kinder – und sich wohl auch wenig darum scherte, wenn die Kinder die sogenannte „Urszene“ auch mitbekamen. Der alte Pfiffikus aus der Berggasse hätte sich darauf natürlich wieder freudig gestürzt.

Zusammen mit ihrem Bruder, der in seiner Musik ausdrückte, was er realen Frauen nicht sagen konnte, webt Josefa ein Netz von hoher Dichte aus Blicken, Gesten und wortlosem Verständnis, das erst der Tod zu zerreissen versteht. Das letzte was wir von Schubert sehen, ist der panische Blick, als man sie aus dem Sterbezimmer führt und die Tür sich hinter ihr schliesst und Schubert, nun aller freundlichen Objekte beraubt, weiss in seiner Umnachtung doch noch genau wer als nächstes durch diese Tür eintreten und ihn endgültig fortführen wird.

Vorher hat sich der Kranke noch verzweifelt gewehrt gegen den Priester, der ihm die „Letzte Ölung“ – wie man das damals noch nannte – verpassen wollte – ein Terminus, der mich immer eher an Nahrungszubereitung oder den Bereich der Mechanik erinnerte als an das was es vorgab zu sein, aber vielleicht braucht man ja wirklich Schmiermittel für die Reise in die Ewigkeit, dann würde dergleichen ja Sinn machen – Schmiergelder gabs in diesem Kontext ja auch schon reichlich zu Zeiten des Ablasshandels.

In seinem Violinkonzert „Der Tod und das Mädchen“, das häufig eingeblendet wird, hat Schubert diesem gefürchteten Gesellen ein musikalisches Motiv zugeordnet das eine dunkel-tröstliche, mütterliche Klangfärbung sein eigen nennt, bei ihm wissen wir das Mädchen geborgen. „Bin Freund und komme nicht zu strafen“ – wie es im Text von Matthias Claudius heisst. Dem Sterbenden wünschen wir dasselbe auch – so wie er es sich beim Komponieren ersehnt haben mag – ein letztes Liebesobjekt das der quälenden Reise ein Ende setzt und bei dem man endlich zur Ruhe kommen kann und ein Entkommen vor einer Welt die ihm nie Zuhause war.

Diesen Schluss versagt uns der Film – wir verlassen Schubert in einem Moment der Panik und des Verlustes und der Regisseur verzichtet dankenswerterweise auf wohlfeilen Trost des Publikums und jegliches andere Sentiment und lässt die Grausamkeit dieses Schicksals und dieses Todes als das stehen was sie ist und mutet sie dem Zuschauer ungefiltert zu, der ebenso abrupt aus dem Film geworfen wird wie Schubert aus seinem Leben. Eine letzte Zeugenschaft, ein Bleiben an seiner Seite und eine Verbeugung vor einem der ganz Grossen.

 

2024 27 Jul

Delicate Bitches

von | Kategorie: Blog | Tags:  | | 11 Comments

 
 

Under the Bridge gehört zu den TV-Serien, die durch eine ruhige Erzählart brillieren. Und deshalb freut es mich, doch noch hineingefunden zu haben nach anfänglichen Widerständen – im Gegensatz zu der vielgelobten Serie The Bear. Was bitteschön soll sehenswert sein an einer aufgeheizten Küchenatmosphäre, in der sich alle permanent anschreien? And so I dropped it with a kick. Nee – unter, über und rund um die Brücke läuft’s anders. Einige Teenies aus der amerikanischen Unterschicht wollen Mafia spielen, dabei kommt es zum Tod (unter der Brücke) eines Mädchens, deren Eltern indischer Abstammung zu den Zeugen Jehovas gehören. Die Tochter nimmt Reissaus aus dieser ebenso gottesfürchtigen wie lebensfeindlichen Welt (das eine schliesst das andere oftmals nicht aus, im Gegenteil). Doch ihre Buddy-Bitches erweisen sich als fataler Rettungsanker. Die Serie lehnt an einen Roman an, dessen Autorin in der Serie eine Frau spielt, die in ihr Heimatdorf zurückkehrt, um genau diesen Roman zu schreiben (the trick of the tail). Sie ist noch immer in lesbischer Liebe ihrer Jugendfreundin zugetan, die als Cop mit der Aufklärung des Todesfalls zu tun hat. Beide sind darin verwickelt. Die Spannung der Serie bleibt erträglich – umso besser, denn der Geist kann sich entspannt der Entwicklung von Handlung und Charakteren hingeben. Vielfach ruhige Bilder, Rückblenden, Gespräche, kein unnötiges Puschen mit Reiz-Effekten. Schöne Bilder: I love Amerika, but yet was never there. Jaja, die Drehorte, gern geht man auf televisionäre Reisen. Der Soundtrack ist so gut (beispielsweise auf der Schulabschlussfeier), dass man sich an alte Verliebtheiten zurückerinnert und dabei jeweils den Monoschalter auf Stereo stellt. Auch eine Art Switch (while watching the bitches): es leben die Kontraste.

 

Nein, ich habe die Fellinibiographie von Tullio Kezich nicht gelesen, nur die Rezension vom genial verschwurbelten Georg Seeßlen, und diese hat mich auch davon abgehalten es zu tun. Kezich war langjähriger Freund Fellinis und hat bereits zu seinen Lebzeiten 1987 den ersten Teil davon geschrieben. Einen grossen Teil dieses sicher sehr verdienstvollen, 2005 erschienenen Buches widmet der Autor offenbar der Rezipientenanalyse. Es gibt also Fellinianer (Leute die eine Rolle in seinem Leben spielten oder ihn in irgendeiner Form begleitet haben), die Fellinisanten (also wohl die Fans, wenn ich das richtig verstehe) und die Fellinisten (also Kritiker und Wissenschaftler) und Fellinologen, die noch irgendetwas anderes präferieren und repräsentieren … wurscht! Wird mir jetzt zu mühsam und ist nicht wirklich zielführend zum Verständnis, denn die Frage ist, ob es bei einer Würdigung eines Regisseurs notwendig ist, alle Splittergruppen in der Fanbase zu erforschen und wenn ich vor Beginn der Lektüre schon ein Vokabelheft anlegen muss, verzichte ich dann doch und mache mir lieber ein paar südlich-warme Gedanken über die langjährige tolle Beziehung zwischen dem Grande Maestro und mir. Er weiss leider nur nix davon, aber so ist das ja oft mit der Liebe.

Dann sehe ich den jungen Federico – in Amarcord Titto genannt (was für Assoziationen da wohl auftauchen mögen?) – der gerade an und unter der Brust der Tabakwarenhändlerin erstickt und das Ganze aber trotzdem phantastisch zu finden scheint, sehe Gradisca mit ihren Freundinnen beim ersten Schneefall durch Rimini stöckeln, Ascyltos und Encolpius sich um ihren Lustknaben streiten, Snaporaz durch ein Haus voller Feministinnen irrlichtern, eine gealterte Prostituierte, verfallend und trotzdem würdevoll wie eine Königin in ihrem Reich neben einem ebenso gealterten Bauwerk in Personalunion monumental an der Via Appia Antica stehen, das klerikale Defilee in Form einer Modenschau für pompöse Priestergewänder, der Aufmarsch der Damen in einem eher proletarisch-preiswerten Puff und andererseits einem für den gehobenen Anspruch in denen die Damen zum Posieren vor der Kundschaft mit den immergleichen Sprüchen – ob preiswert oder arriviert – ihre Fähigkeiten anpreisen. Und andere vergnügliche Bacchanale. Und die aufgebrezelte ältere Amerikanerin, die in Rom einem Touristenbus entsteigt, während in unmittelbarer Nähe schon die Gigolos lauern und eines dieser Testosteronpakete sich anpirscht, „Ju wonna pigscha?“ fragt und sie ihm neckisch posierend den Fotoapparat reicht. Sie bekommt ihr Pigscha und bestimmt noch einiges obendrauf – der Beginn einer kurzen, aber sicher wundervollen Freundschaft, bei der hoffentlich auch etwas für den Geldbeutel des schönen Römers herausspringt. Man gönnt es ihm, weil er mit seinem knallengen Shirt, dem Goldkettchen, dem grauenvollen Akzent des englischsprechenden Italieners und der unnachahmlichen Art die Sonnenbrille hochzuschieben und den ersten Feuerpfeil eines Blickes abzuschicken so herrlich dem Klischee entspricht. Dergleichen können nur Italiener, das brauchen andere Nationalitäten gar nicht erst zu üben.

 
 
 

                   

 
 
 

Da menschelts gewaltig – wie kriegte der Maestro das bloss hin, dies alles nicht der Lächerlichkeit preiszugeben? Ausgenommen vielleicht den Priesteroutfit – Catwalk, aber der ist eher bizarr und gruselig – wenn man den Pomp der katholischen Kirche mitbedenkt, bleibt einem bei dergleichen ohnehin die Bolognese im Halse stecken. Aber Pigschas für die Ewigkeit in einer ewigen Stadt.

 
 
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Was an Fellini vor allem besticht ist seine Körpernähe bzw seine Art, Körperlichkeit in Szene zu setzen und gleichzeitig die Darsteller zu schützen und nicht blosszustellen – sie bleiben bei jedweder Entstellung liebens – bzw achtenswert.

Mechthild Zeul beschreibt in ihrem Buch Das Höhlenhaus der Träume das Kino als eine Art Urhöhle, in der der Zuschauer mit Bildern, die er inhalieren darf, sozusagen gefüttert wird und in einem oral anmutenden Prozess mit dem Film verschmilzt, ihn aufnimmt und damit seine eigene Wirklichkeit in Form einer Synthese von Film und dadurch ausgelösten eigenen Vorstellungen und Empfindungen schafft, einen Übergangsraum zwischen Phantasie und Realität ähnlich wie Kinder es mit ihren Spielsachen erschaffen und eine Erklärung, warum jeder immer seinen eigenen Film sieht. Aufnehmen, Modifizieren, eine Art Stoffwechselvorgang …

Somit wäre ein Fellini-Film ein opulentes Festmahl, aus dem man satt wieder herauskommt. Trink Auge, was die Wimper hält … Gottfried Keller bleibt hier im Oralen und wäre sicher in späteren Zeiten auch Fellini-Fan geworden.

Die Welt von Fellini – so schreibt Seeßlen, ist ein Körper, der angesehen werden will, die Nebenwelten (Zirkus, Variete, Theater) öffnen und schliessen sich. Fellinis Blick auf die Welt, ihre Gesichter, Masken und Gesten „ist eine grosse Frechheit“. Das letzte ist von Seesslen sicher augenzwinkernd gemeint – der kindlich-freche Blick auf die Welt und ihre Eigenheiten, die als Verzerrungen anmuten und zur näheren Erforschung einladen.

Fellinis Filme künden auch noch von der Mythomanie Italiens und er zeichnet sie auch noch liebevoll in ihren Stadien des Zerfalls – vor allem die La Mamma Grande und ihrem vielversprechenden Körper, ihre Formen, ihre Begierden, ihre Gutartigkeit – mit dem Blick eines staunenden Kindes für das alles neu, interessant und rätselhaft ist und zur Dauererkundung einlädt – so sind seine Filme auch ein ständiges Unterwegssein zu immer gleichen und doch immer neuen Objekten die zur Erkundung einladen, so wie ein Kind den Körper der Mutter entdeckt und das Liebespaar den Körper des anderen und auf diesem Umwege dann auch wieder den eigenen. Das kindliche – und somit wertfreie – Staunen über die Schätze der Welt und die Begegnung mit ihnen ist in jeder Szene zu spüren und macht für mich den Reiz dieser Filme aus – dieses Angestecktwerden durch diese kindliche Sichtweise und das Erleben einer Welt ohne Bosheit und Niedertracht aber vom Zauber des Immer-Neuen kündend. Diese erschliesst sich ja nicht auf den ersten Blick sondern erst beim Beginn von Handlung und Kommunikation.

Und Hintern-Fetischist ist Fellini allemal, da gibts reichlich zu gucken für Gesinnungsgenossen, üppige Schönheit findet sich im Süden offenbar an jeder Ecke, das funktioniert bei ihm so zuverlässig, wie wenn man mit einem Leichenspürhund über den Friedhof geht.

 
 

 
 

Aber auch der Zerfall von Körperlichkeit ist sein Thema – die zerfallenden Statuen und Fresken im Untergrund von Rom, die von unserer Gegenwart vermutlich nichts mehr wissen wollen und sich lieber – und das im Wortsinne – bei Sauerstoffzufuhr verkrümeln; die Erben eines wohlhabenden Dichters, der per Testament verfügt hat, dass sie das Erbe nur erhalten, wenn sie seinen Leichnam verspeisen und denen wir beim wenig begeisterten und stark verlangsamten Kauen schadenfroh zusehen dürfen; die Protagonisten im Satyricon verwandeln sich am Ende in auf Felsen gemalte Bilder, verlieren also ihren Körper und bekommen gerade dadurch eine Form von überdauerndem Leben als ewiger, vom Zerfall geschützter Mythos. Gestaltwandel – auch das ein Teil des Lebens.

Und am Ende seiner Karriere noch ein grosser Treffer: Das kindliche Staunen von Ginger und Fred in Szene zu setzen und deren Stolz darüber im Alter noch einmal einen gemeinsamen Stepptanzauftritt vor grossem Publikum aufs Parkett legen zu dürfen – und nicht zu bemerken dass sie in einer Kuriositätenshow zynisch verbraten werden. Auch hier das Bewahren einer Unschuld die sich keine Ränkespiele vorstellen kann, vor allem das Gesicht von Giulietta Masina für sich allein könnte den ganzen Film bestreiten – staunend, erfreut, erschreckt, aber immer bodenständig und immer ein bisschen aus der Zeit gefallen innerhalb des Pandämoniums des modernen Showbusiness mit seinem Versteckte-Kamera -Blamagen-Humor. Mastroianni als Sahnehäubchen obendrauf als hinreissender und meistens angeschickerter alter Sack, der den Auftritt noch beinahe verstolpert und dabei doch seinen Charme bewahrt bzw den ihm stets innewohnenden Charme des Unperfekten wieder mal routiniert auf die Leinwand klatscht. Man könnte beide knuddeln und spürt doch schmerzlich den melancholischen Abgesang auf eine ganz andere versterbende Form der Kino- und Showkultur bei der es noch nichts blosszustellen und zu schämen gab.

Bei allem Inszenieren von Körperlichkeit hatte Fellini eine Ehefrau, bei der der Körper nur eine geringe Rolle spielte – Giulietta Masina pflegte ausschliesslich mit dem Gesicht zu arbeiten – eindrucksvoll erstmalig zu beobachten in La Strada als man dem abgestumpft wirkenden Landpomeränzchen mit Pokerface – Gelsomina – einen Hut aufsetzte und das Gesicht plötzlich eine Fülle von Affekten ausdrückte: Freude, Pfiffigkeit, Überraschung, Temperament, Neugier auf und Liebe zum Leben – sofort wieder in sich zusammenfallend bevor ihr grosser Zampano es sehen und vielleicht missbilligen hätte können.

Impact!

 
 
 

                           

 
 
 

Aber der Zuschauer hat es gesehen und selten ist es einem Regisseur – und einer Schauspielerin – gelungen einen Menschen in Sekundenschnelle so komplett zu charakterisieren.

Und Fellini schaffte es aus seiner Schaffenskrise einen seiner grössten Erfolge zu konstruieren indem er genau diese zum Thema zu machte – Achteinhalb. Das muss man sich auch erst mal trauen und ist allemal besser als sich in einer narzisstischen Depression zu suhlen oder dramatisch zu erschiessen, weil man gerade mal nicht viel auf die Kette kriegt – als ob das Nicht – Künstlern nicht genauso ginge.

Wenn Morgenstern einen Fellini-Film gesehen hätte wäre er sicher aus dem Kino gekommen „selig lächelnd wie ein satter Säugling“.

Und darauf jetzt noch einen Grappa zum Verdauen und dann noch als dolci einen Film des Fellini-Schülers inhalieren, vielleicht Gente di Roma von Ettore Scola, der sich vom Stil des grossen Alten zu lösen verstand und eine neue ureigene Bildsprache mit einem ganz besonderen und unverwechselbaren Humor entwickelte. Das hätte dem Boss gefallen – diese kleinen short cuts ... die beiden Küchenhilfen – ein Römer und ein Afrikaner, die wüst miteinander streiten, sich wechselseitig als Idioten beschimpfen und anbrüllen, einer bereits zum Steakmesser greift und ein Blutbad mit zweifellos rassistischem Hintergrund in der Luft liegt, danach aber doch beschliessen Bier zu besorgen und sich abends das Spiel gemeinsam anzuschauen – als Freunde, aber leider Fans von zwei verschiedenen, konkurrierenden Fussballvereinen. (Jeder Bayer im ewigen Zwiespalt zwischen FC Bayern und TSV 1860 fühlt sich da sofort verstanden und erkannt). Dieses Spielen mit Erwartungshaltungen der Zuschauer und dem plötzlichen Kippen in eine andere Szenerie, in der plötzlich alles Gesehene eine völlig neue Bedeutung bekommt ist ureigenstes Markenzeichen von Scola. Keine grandiosen Pigschas, eher kleine hintersinnige Szenen eines genauen Beobachters des Lebens und seiner inhärenten und für den Könner leicht zu erkennenden und abzurufenden Komik. Darauf gleich noch einen Zweiten zum Wohle des Alten auf seiner Wolke am Himmel über der Cinecittà. Wo denn auch sonst?!

Arrivederci, Maestro und weiter gute Unterhaltung da oben mit Pasolini, Rossellini, Antonioni und Visconti und allen Vertretern des italienischen Neorealismus, die Dich gerne aus dem Olymp gestaubt hätten weil Du ihnen zu phantasievoll, verträumt und surreal und damit einfach nicht linientreu warst. Auch in der Kunst ist Gleichschritt erwünscht, nicht wahr? Gruss an alle cineastischen Betonköpfe und mach weiter Dein Ding!

 

 

The Quiet Girl (Irland, 2022) von Colm Bairéad

 

Ein zeitlich knapp gehaltener Film in dem schlechthin – zunächst – nichts passiert. Ein neunjähriges Mädchen einer verarmenden kinderreichen Familie in Irland wird zu Pflegeeltern geschickt, weil die Mutter wieder ein Kind erwartet. Der lieblos wirkende Vater bringt sie dorthin mit der Bemerkung, dass sie jetzt jemand anders „die Haare vom Kopf fressen“ könnte. Die wirkliche Motivation bleibt unklar, denn ein Mädchen dieses Alters wäre für die Mutter in dieser Situation eine wertvolle Haushaltshilfe. So erinnert das Entrée ein wenig an Hänsel und Gretel, die wegen häuslichem Nahrungsmangel in den Wald geschickt werden – oder auch aus ganz anderen Gründen. Die Szenerie wäre somit eine orale – selbst bedürftige Eltern möchten ihre Nahrung nicht teilen, wogegen die Hexe solche reichlich spendet um dann ihrerseits die Kinder aufzufressen. Von Menschen mit Suchtproblemen wird dies oft als Lieblingsmärchen der Kindheit benannt.

Die Pflegemutter nimmt sich liebevoll des Mädchens an – bis hin zu einem warmen Bad, hundert Bürstenstrichen am Abend, der Pflegevater wahrt zunächst Distanz, der Zuschauer erlebt Zustände leichter Paranoia und will – vermutlich ebenso wie die kleine Caít dem Frieden nicht trauen – gibt es etwas wirklich Nährendes oder ist man schon wieder im Hexenhaus? Eine idyllische, bergende – aber auch zuzeiten düstere – Natur unterstreicht diese Gefühlsambivalenz. Ist man in ihr wirklich aufgehoben?

Die Kamera umkreist das Mädchen, kommt ihm nahe und bleibt stets dabei wie ein wachsames Auge. Kamera und Natur fungieren hier als gewissermassen mütterliche Objekte, die das Kind begleiten, in seiner Desorientierung auffangen und ihm helfen, Leerräume mit schlimmen Geheimnissen zu ertragen. Sie fängt Lichtreflexe auf dem Wasser ein, als wollte sie dem Kind – und damit dem Zuschauer – die schöne Seite der Welt zeigen. Ein Aufgehobensein im Sehendürfen und Gesehenwerden. Auch in ihrer Düsterkeit hat die Umgebung etwas seltsam Tröstliches. Kleine Dinge und Gesten – nur angedeutet – schaffen zunehmend Geborgenheit.

Aber warum wurde das Kind wirklich weggeschickt, warum wurde es aufgenommen?Ersteres bleibt unklar, die Aufnahme in die Pflegefamilie wird erklärt durch eine geschwätzige Nachbarin – hier wirklich der Prototyp der bösen Hexe – die Pflegefamilie hat einen Sohn verloren, das Mädchen soll einen Leerraum füllen. Wird es in eine Funktionalisierung ausarten? Der Pflegevater behandelt sie zunehmend wie einen Sohn, sie hilft bei der Stallarbeit, gemeinsam hat man Kontakt zu Tieren, das verstummte Mädchen beginnt Fragen zu stellen.

 

„Warum dürfen Kälbchen nicht bei ihren Müttern bleiben und die Muttermilch trinken?“

„Die wird verkauft! Das Kälbchen bekommt Hafermilch.“

(Die wiederum gekauft werden muss.)

 

Die ganze Widersinnigkeit der Situation eines abgeschobenen Kindes artikuliert sich hier – es bekommt ein Surrogat und für die Muttermilch gibt es andere Verwendung, sie steht ihm nicht zu. Die Kamera steht hier im Dunkel des Stalls, hinter dem Kälbchen und beobachtet den Fütterungsvorgang aus der Position des Hungrigen, steht wieder auf der Seite von Caít. Nichts ist mehr an seinem richtigen Platz, aber in der spracharmen, aber wohlwollenden Gegenwart der Pflegeeltern kann das Mädchen gedeihen, Fragen stellen und neue Bindungen knüpfen, die am Ende wieder zerrissen werden als sie in die Familie zurück muss in der vermutlich häusliche Pflichten auf sie warten.

Der Film bricht ab in einem Moment, als die Weichen für die Zukunft gestellt werden – in der Schlusseinstellung fällt sie ihrem Pflegevater zum Abschied in die Arme, er erwidert die Umarmung, die Kamera kommt noch einmal ganz nahe, ist als verbündeter Dritter dabei. Ein bisschen Hoffnung, dass er sie wieder mitnimmt oder dass zumindest etwas bleibt – so empfindet es jedenfalls der Zuschauer.

Wer stille, handlungsarme, minimalistische Filme mit Tiefgang, subtiler Spannung und guter Kameraarbeit liebt ist hier gut bedient.

 

2024 13 Jul

R.I.P.

von | Kategorie: Blog | | 12 Comments

 

Ohne ihn hätte Robert Altman ziemlich alt ausgesehen …

 

 

 Impacts (visuell):

 

 

Impacts (verbal):

… und nennen Sie Major Houlihan nicht immer brünstige Henne!

Gut, dann nenn ich sie eben brünstiger Major!

 

Quelle: MASH (USA, 1970) von Robert Altman

(MASH = Mobile Army Surgery Hospital)

 
 

Welche Faszination übt das Theater aus, so dass ein junger Mensch sich dazu entschliesst, den Schauspielberuf zu erlernen? Die Theaterschauspielerin Brigitte Horn versucht es zu beantworten – es scheint manchen Menschen eingepflanzt, dieses „Ich wusste immer dass ich spielen wollte“ als inhärente Triebfeder eines Menschen, die es letztlich schafft, dass er alle Hindernisse auf diesem dornigen Weg überwindet. Die – wenigen – Schauspieler, die ich auf der Couch hatte, formulierten es ähnlich, eine Art Berufung, wie es auch Priester formulieren, wenn man sie nach Ihrer Berufswahl fragt. „Ich will spielen! Ich hatte nie einen anderen Wunsch! Ich wusste das von Anfang an!“ Etwas anderes kam für sie nicht in Frage – eine Haltung, die mir immer Respekt abnötigte, ich sah einen Menschen, der etwas liebte und dafür Opfer brachte, eine Obsession und eine geheimnisvolle Art von Berufung. Sicher auch ein Fressen für Psychoanalytiker, die ihrem Trüffelschweinmodus nachgehen wollen und sich weigern, den Dingen ihren Zauber zu lassen – so formulierte es dereinst Gandalf und auf dessen Meinung gebe ich viel.

Für diesen Beruf braucht man also eine starke Sprungfeder im Inneren – wie ich beim Lesen einsah. Brigitte Horn schildert ihren Werdegang als junges Mädchen mit einem zuerst naturwissenschaftlichen Beruf, den sie aber nicht ausüben wollte und ihren Weg auf die Theaterbretter – falls ich selbst diesen Weg hätte auch beschreiten wollen, würde mir dieses Buch den Angstschweiss auf die Stirn getrieben haben über die Kämpfe die ich zu bestehen hätte und die Unsicherheiten mit denen ich leben müsste.

Die Filmwelt schien für sie nie eine Option gewesen zu sein, stattdessen zog es sie zum Theater – eine für den Aussenstehenden geheimnisvolle Welt, bestehend aus Vorhängen, einem Schnürboden, Stunden in der Maske, aufwendigen Kostümen und Requisiten, einem Souffleur und vermutlich 1000 Tricks, die Schauspieler anwenden um Pannen verhindern oder überbrücken zu können – falls sie es einem verraten. Recht viel mehr weiss der Laie meistens nicht vom Theater, sicher sind auch Klischees dabei – und das ist schade. Und es stellt sich die Frage, wie lange es diese Welt noch geben wird in unserem digitalen Bilderreichtum und Überflutungswellensalat, bei dem man nie weiss, ob man jetzt mit einem Avatar, einem Bot, einer KI oder anderen blutleeren Zeitgenossen kommuniziert. Theater heisst auch, lebendigen Menschen bei der Arbeit zuzusehen, uns einen anderen Menschen und sein Schicksal nahezubringen. Und wenn sie sich mal verhaspeln oder stolpern – umso besser; Avatare stolpern nicht, lebendige Menschen tun das. Fand ich immer wohltuend – somit eine Welt, die nicht untergehen sollte.

 
 

 
 

Die Autorin vermittelt noch anderes über ihren dornigen Weg: Konfrontationen mit Menschen, von denen ihr Weiterkommen massgeblich abhängt und deren oft irrealen Wertungsmasstäben, narzisstischen Selbstinszenierungen und anderen intrusiven Kränkungen und Begehrlichkeiten, die junge Frauen so über sich ergehen lassen müssen. Und sich in einer Szene zu bewegen, in der keine exakten Wertmasstäbe existieren – was dem einem gefällt, findet der andere blöd – es scheint schwierig zu sein, hier ein konsistentes Bild von sich und seinen Fähigkeiten aufzubauen. Wie gut bin ich eigentlich? Werde ich das alles können was die Rolle mir abverlangt? Sehr verunsichernd für einen jungen Menschen, der altersentsprechend noch keinen festen Boden unter den Füssen hat. Vielleicht das Schwierigste an dem Ganzen … Selbstwert aufzubauen. Besonders auch noch für eine junge Frau die in der Nachkriegszeit aufwuchs.

Eine Patientin, die Schauspielerin werden wollte, wurde von zahlreichen Schauspielschulen wegen Talentfreiheit abgelehnt, bemühte sich trotzdem um ein Engagement, kam bei einer privaten Schule unter und über Jahrzehnte bis heute kann ich sie alle paar Wochen im Fernsehen beäugen und sie macht ihre Sache wirklich gut.

Dann dazu das Mobbing unter Kollegen, das Schleppentreten –  ein Terminus, von Brigitte Horn erfunden und inzwischen wohl in der Szene verankert –  so etwas wie Zickenkrieg unter Theaterdamen. Launische Regisseure und neidische Kollegen, aber auch unverhoffte Sympathien, Empathie und Hilfestellungen. Und das berauschende Erlebnis der Verschmelzung mit dem Publikum, wenn man bemerkt, dass es mitgeht und man darauf spielen kann wie auf einem Instrument, dem man die gewünschten Töne entlockt – was ein Moviestar vom Film nie erlebt, weil er nie einen Raum in Gleichzeitigkeit mit dem Publikum teilt und das Gefühl nicht kennt, dass Hunderte von Augen auf einem ruhen. Ein bisschen kenne ich das vom gefürchteten Vorträge halten – den magic moment, in dem man spürt „Ich hab sie! Jetzt geh’n sie mit!“ Ab jetzt könnte ich auch das Telefonbuch vorlesen. Das hat was, echt!

Dann die vielfältigen Möglichkeiten technischer Pannen, die Grenzen, die der eigene Körper setzt, die ständige Wohnungssuche, existenzielle Unsicherheit. Die Autorin geht durch alles hindurch ohne ihr Ziel aufzugeben – gewissermassen reinen Herzens – wie Simplizissimus, der das Schlimme der Welt an sich ablaufen liess und seinen ureigensten Wesenskern bewahrte.

Man hätte gern noch mehr erfahren: Wie erarbeitet man sich eine Rolle, wie fühlt man sich dabei, was bleibt von der dargestellten Person zurück, wenn der letzte Vorhang gefallen ist, besteht die Gefahr sich zu verlieren und nicht mehr zurückzufinden oder bereichern die Rollen die man spielt? Was bleibt? Welche Ängste hat ein Schauspieler? Wie erträgt man das ständige Beobachtet werden – bis in die tiefste Seele? Oder ist es möglich, die tiefste Seele doch zu verbergen und wie macht man das? Wie weiss man welche Rolle zu einem passt? Wie wirkt sich diese Tätigkeit in Partnerschaften aus – und anderes? Ich hätte da auch noch viel profanere Fragen: Wie schafft man es bei der ganzen Auswendiglernerei, nicht verrückt zu werden (deswegen habe ich das Medizinstudium geschmissen, ich wollte mein Hirnvolumen noch für anderes verwenden) und was macht man wenn man während der Vorstellung plötzlich ein menschliches Bedürfnis verspürt? Man mag mich jetzt profan schimpfen, aber ich denke, dass das Aussenstehende schon auch beschäftigt.

Aber vielleicht gibt es ja noch einen Folgeband, der uns noch tiefer ins Innenleben der Mimin / des Mimen führt. Auf jeden Fall: Ein anstrengender Weg, beschrieben mit leichter Feder, erfrischender Spontaneität und einer grossen Liebe für die Welt der darstellenden Kunst und ein Beitrag zur Erhaltung einer jahrtausendealten Kultur. Möge sie noch lange bestehen.

 

2024 3 Jul

Give Jazz a Chance!

von | Kategorie: Blog | | 3 Comments

Leipniz-Büste im Georgengarten - Foto © JS 5/24

 
 

Ganz dem Strom hingegeben hörte ich in den vergangenen Wochen fast täglich ein Musikalbum. Es hatte sich ein Ritual eingebürgert: abgedunkelter Raum, entspannte Rückenlage, konzentrierter Abflug. Hochauflösende Übertragungsraten machen einen Musikgenuss in Hifi-Qualität möglich, bieten zudem problemlosen und kostengünstigen Zugang zu aktuellen Neuveröffentlichungen, aber auch zu bislang Unentdecktem aus früheren Tagen. Dabei fiel die Wahl zumeist auf das, was im weitesten Sinne als „Jazz“ zu bezeichnen wäre und immer wieder kam dabei die Frage auf: „Warum höre ich überhaupt Jazz und nicht vielmehr Anderes?“ So wie Philosoph Leibniz einst fragte, warum überhaupt Etwas sei und nicht vielmehr Nichts. Man bemüht sich ja, authentisch zu sein und sich nichts vorzumachen. Grundsätzlich kann ich sagen, dass mein Erleben von Musik immer in Einflussnahme und im anregenden Austausch mit anderen stattfand, denn ich bin kein Autist. Ich erinnere mich an J in Studententagen: stolz präsentierte ich eine Doppel-CD der Kenny Wheeler Bigband als sensationelle Entdeckung, die seiner Meinung nach mit dem Globe Unity Orchestra und den Bands von Sun Ra, Gunter Hampel, Carla Bley und anderen Kalibern nicht ernsthaft konkurrieren konnte. Vernichtendes Urteil: „Du inszenierst ständig etwas, an das du selbst nicht glaubst“. Nun hatte Kenny Wheeler, um aufgeregten Entrüstungen gleich mal den Wind aus den Segeln zu nehmen, ganz gewiss seine eigene Qualität, doch darum geht es nicht. Nochmals: „Mag ich wirklich Jazz – und wenn ja: warum?“ Schliesslich ist unsereins ja nicht in New Orleans geboren. Die Spur führt, wie so oft, in Erinnerungen aus Kindheits- und Jugendtagen wie etwa diese: Völlig geflasht von Abbey Road ruft mich der vollbärtige Nachbar, eine Wiese mit der Sense mähend, zu sich herüber: „Was hörst du für Musik?“ Die Beatles! „Vergiss die Beatles, Charlie Parker musst du hören!“ Wie begrüssten wir doch, auf dem abgelegenen Lande aufgewachsen unter einem Bauernvolk, das jeden halbwegs Intellektuellen als spinnerten „Spökenkieker“ misstraute, stets die libertären Einflüsse von Lebenskünstlern aus familiärem Freundeskreis und Nachbarschaft. Auch der etwas ältere Schlagzeuger unserer Band brachte mich schnell auf den rechten Weg, schenkte mir zum vierzehnten Geburtstag neben einer umfangreichen Wichsvorlagen-Sammlung das Album Nefertiti von Miles Davis. „Damitte ma wat Richtiges hörst!“ Obwohl mir die Musik damals zu cool erschien, sprach mich das Cover an, zumal ich mich mit dem dort scheu blickenden schwarzen Trompeter gut identifizieren konnte. Da war die Radiomoderatorin Anne R, befreundet mit dem Charlie-Parker-Nachbarn, die neben John Coltrane, Soft Machine, dem Mahavishnu Orchestra und Flora Purim auch einen gewissen Paul „Mo-zi-en“ lobend früh ins Hörfeld rückte. Im Regal thront ein dickes Jazzbuch von Joachim-Ernst Behrendt, das zu meiner Eingangsfrage sicherlich Antworten parat hätte, eine habe ich aber selbst: man muss ihn hören, hören, hören. Zur Malerei und Bildenden Kunst sehe ich eine Gemeinsamkeit, die mich tief anspricht: es ist die stetige Grenzüberschreitung auf der Suche nach dem Neuen und Offenen, dabei immer in Verbindung bleibend mit geschichtlichen Ursprüngen. So kann man Musik, wie der Kritiker Alex Ross schrieb, auf vielfältige Weise rezipieren: rein sinnlich, intellektuell oder im (historischen) Kontext. Auf die Frage, warum es Menschen gäbe, die Jazz nicht mögen, meinte der Gitarrist Kurt Rosenwinkel: „Maybe they don’t give it a chance.“ Obama proklamierte dagegen vollen Herzens: Jazz, we can.

 


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