Was macht ein Geisteswissenschaftler auf dem Oktoberfest und wenn ja wieviel und wie lange?
… wenn er (oder sie) Vegetarier ist, der kein Bier mag, keine Zuckerwatte, keine kandierten Äpfel, keinen Lärm und keine Menschenaufläufe und kein nach Schuhsohle schmeckendes Lebkuchenherz um den Hals bammeln. Höchstens gebrannte Mandeln.
Frauentechnisch macht das Fest ja was her … der Dirndlwahnsinn ist durchaus etwas fürs Auge und die Flechtfrisuren der Mädels dürften soviel Zeit in Anspruch nehmen wie das Aufbrezeln früherer Rokoko-Perücken – und einfach mal was anderes als Nickis, Hoodies, Turnschuhe und tief unterm Arschgeweih sitzende Jeans sowie zu Stricken gedrehte Haare, deren Enden in die Luft stehen, sozusagen Gamsbart urban – aber hier jetzt ein Fest der schönen Mädchen. Aber dies soll hier ja keine Kolumne werden, sondern eine Abhandlung über Magie und Dämonisches.
Man könnte da erzählen über magic moments im Kindesalter, wenn man abends durchs Fenster gegen Osten blickte und der rot gefärbte Himmel zeigte – nein, nicht dass der Krieg wieder begonnen hatte – sondern das Oktoberfest, vulgo genannt „die Wiesn“, weil es auf einer selbigen stattfindet. Und man am Samstagmittag um 12.00 beim Anzapfen den Böllerwumms erst durchs Radio hörte und mit kurzer Verzögerung durchs offene Fenster dann den gleichen nochmal. Rätsel über Rätsel und Magie für Kinderohren, was nur schlichte Physik war – damals wurde der Doppelwumms erfunden. Hat heute alles etwas an Glanz verloren angesichts von Trommelfellgefährdung, horrender Preise und Bierleichen am Hügel zu Füssen der Bavaria, vulgo auch der Kotzhügel genannt.
Nein, anziehend für mich sind auf der Wiesn die Monster in ihrer aztekischen Buntheit und Grausigkeit und ihre mimischen und gestischen Bedrohungen, der grinsende Teufel, der zähnefletschende Tod und ihre ganzen Handlanger, Vasallen und Folterknechte, kurz: Das Zitieren des Mittelalters; das Dämonische, das erschreckt und in seiner Überspitzung gleichzeitig ins Lächerliche kippt. Gebilde sadistischer Phantasien – jetzt gezeigt als das, was sie sind – Pappkameraden zum Kindererschrecken, über die Maßen bedrohlich in Zeiten, als Teufel ausgetrieben wurden und Scheiterhaufen brannten, Menschen mit körperlichen Besonderheiten zur Schau gestellt und Hinrichtungen zur Abschreckung öffentlich durchgeführt wurden.
Alles nur noch ein Spiel … wie beruhigend. Das Kind jeglichen Alters des Zeitalters der Aufklärung, der Moderne und Postmoderne betrachtet das ganze Grauen mit leisem Nervenkitzel und grosser Erleichterung – endlich ist der Spiess umgedreht und Tod und Teufel sehen ganz schön lächerlich aus als Parodien und Zitate ihrer selbst. Wie gut, in der Neuzeit zu leben und die dunklen Zeiten der Menschheit unwiderruflich vorbei zu wissen.
Beim Perchtenlauf auf den Christkindlmärkten in Berchtesgaden werden allerdings durchaus noch Kinder von gehörnten und kettenrasselnden Geschöpfen geschockt, aber das sind Kollateralschäden, deshalb wird schönes altes bayrisches Brauchtum noch lange nicht aufgegeben. Und auch nicht auf 22.00 vertagt – nö, das gehört in die Dämmerstunde, wenn auch der Nikolaus kommt, den die Kinder natürlich sehen wollen – in Personalunion mit dem gruseligen Krampus, aber der tut nichts und will nur spielen, das müssen die Kinder nur erstmal kapieren. Brauchtumspflege halt … – nur Gegendämonen können die Dämonen der Rauhnächte austreiben, das ist quasi ein unverzichtbares Ritual hier in den Bergen. Wer weiss denn schon genau, was hier alles nächtens noch umgeht. Die Naturwissenschaftler können auch nicht alles wissen.
Nein, in einer säkularisierten Welt braucht man derlei Archaik nicht mehr zu fürchten. Wie schön, dass wir sicher sind.
Als ich klein war, gabs übrigens die Zuban-Schau auf dem Oktoberfest (eine Zigarettenmarke) – das Zurschaustellen von Fremd- und Andersartigem: Schwarze Menschen mit Speeren und Baströckchen zeigten traditionelle Tänze, Hulamädchen liessen die Hüften kreisen, holten dann einen Kerl aus dem Zuschauerraum, dass er es ihnen gleichtat, der dann geehrt, erfreut und etwas verschämt mithüpfte. Indianer zeigten Kriegsbemalung und Marterpfähle. Ein Menschenzoo in einem Land, an dessen Grenzen bereits das Untermenschentum begann, zumindest noch in vielen Köpfen.
Dann die Magie und das Glück des ersten Luftballons, vorsorglich von der Oma an meinem Handgelenk festgeknüpft und andächtig bestaunt, rot und mit Nase und einem freundlichen Grinsen. Und dann ein besoffener junger Mann, der ihm mit der brennenden Kippe das Lebenslicht ausblies – damals durchaus gebräuchlicher Sport von Angetrunkenen, Sadismus gegenüber Kindern.
… die Horde vor einer Schlägerei flüchtender Wiesenbesucher die mich von meiner Mutter losrissen …
…der junge Mann der hinterher am Strassenrand sass und aus einer Schnittwunde blutete und dem niemand half …
… Männergewalt …
… meine Panikattacken als Kleinkind als mein Vater mit mir in ein allzu wildes Fahrgeschäft stieg in dem ich mich nicht auf den Füssen halten konnte …
… der mühsame Heimweg zu Fuss nach dem Verzehr einer Hühnersuppe, in der offensichtlich Salmonellen um die Wette schwammen und eine Begleitung, die befürchtete ich würde in die Strassenbahn reiern … Kinder sollen keine Umstände machen, also ein einstündiger Fussmarsch immer am Rande des kaltschweissigen Kollabierens … aber wenigstens kein Ärger mit Mitmenschen …
… die Schaustellerjungs, die einen am Ende der Tobogganrutsche auffingen damit man sicher auf die Beine kam und einem dabei unter den Rock grabschten …
… irgendwelche Vorrichtungen in Fahrgeschäften, die einem plötzlich den Rock hochbliesen – beschämt vor einem wiehernden Publikum … gottlob gab es bald Blue Jeans und Frau lernte besser nicht mehr mit Rock herumzulaufen. Schade um den neuen Petticoat!
Heute gibt es einen Safe Space auf der Festwiese, eine Zuflucht für Frauen und Mädchen in Bedrängnis mit Mitarbeiterinnen, die notfalls auch die Frau nach Hause bringen oder Taxigeld vorstrecken – die haben reichlich zu tun. Ist das jetzt Fortschritt oder Rückschritt dergleichen zu brauchen? Der Kotzhügel, auf dem in warmen Nächten auch die Räusche ausgeschlafen werden wird von Kennern der Szene auch mountain of rape genannt. Ein bayrischer Comedian meditierte einmal über die Sitte, Kinder nach dem Ort ihrer Zeugung zu benamsen – Diego oder Paris oder Savannah – und meinte, ein grösserer Teil der Bayern müsste dann wohl „Hinterm Bierzelt“ heissen; der Prozentsatz einvernehmlicher Sexualität ist dabei leider nicht erfasst.
Auf dem Oktoberfest 2024 wurden insgesamt über 700 Straftaten angezeigt, überwiegend Körperverletzungen, ca die Hälfte davon Sexualdelikte, vor allem das immer beliebter werdende upskirting, Nachfolger der alten Sitte, in den Damentoiletten auf Augenhöhe ein Loch Richtung Nachbarkabine zu bohren. Und andere schöne alte Bräuche …
Wie gut in der Neuzeit zu leben …