Einen fünffachen Oscar-Abräumer zu besprechen ist jetzt natürlich ein Muss, dabei sollte einem aber bewusst sein, dass sich im Alter die Sehgewohnheiten gewaltig ändern … bzw beim Altgewohnten bleiben und so mancher New Style bei uns Mediendinosauriern schnell hinten runterfällt, ich werde dies dann demnächst beim ESC-Gucken wieder erleben können.
Anora ist zunächst vor allem eines: Laut! Ein fast permanentes Durcheinandergebrüll der Protagonisten in mehreren Sprachen und es ist den Tontechnikern und Synchronsprechern zu verdanken, wenn man trotzdem versteht, um was es geht, allerdings ist das auch nicht übertrieben differenziert: Russisches Oligarchenmuttersöhnchen heiratet Callgirl und die Eltern schicken die Bodyguards sowie einen Priester hinterher, um die Ehe annullieren zu lassen, worauf das Muttersöhnchen erstmal flüchtet und durch ganz New York gejagt werden muss – im entsprechenden Action-Schnelldurchlauf mit reichlich Reifenquietschen und Allesüberdenhaufenfahren. Bemerkenswert dabei, dass in einer US-Produktion hier die Russen die sympathischsten Figuren sind – abgesehen von der am Ende auftretenden Muttersöhnchenmutter vom Typ Gulag-Aufseherin mit dem Blick einer Speikobra. Nach deren Auftritt schwenkt das Söhnchen um und verliert sichtlich selbst das Interesse an dieser Ehe und dem zugehörigen Dauerschnackseln. Das wärs dann auch schon gewesen. Was vorher abläuft, ist überwiegend Slapstick in einer raschen Abfolge von Gags, die sich aber wiederholen bzw etwas zu sehr in die Länge ziehen, um wirklich zu erheitern. Der Wortwitz bleibt hier weitgehend auf der Strecke – auch bedingt durch die ständig eingeblendeten Untertitel, die die russisch gesprochenen Passagen übersetzen. Davon reichlich. Dabei befleissigt man sich in hoher Frequenz der Four-Letter-Words und anderer Schmeicheleien, vorzugsweise aus dem Bereich unterhalb der Gürtellinie. Klar, Anora ist eine Sexarbeiterin, da steht das Fucking im Mittelpunkt, da wäre diesem Klischee auch genüge getan. Reale Sexarbeiterinnen dürften von diesem Film und seiner Figurenzeichnung eher wenig begeistert sein, wobei Rezensenten lobend erwähnen,, dass der Film deren Realität darstellt – als ob das cineastisch etwas Neues wäre. Anrührend nur die Figur des jungen russischen Bodyguards, der sich zusehends in Anora verliebt, auf ihr Sexangebot zum Ende des Films nicht eingeht, sondern sie einfach in den Arm nimmt. Ein lautloser Donnerschlag für die enttäuschte junge Frau, die in diesem Moment bemerkt, was sie wirklich braucht.
Als Negativabbildung zu Pretty Woman funktioniert dieser Streifen durchaus, insbesondere das stille verhaltene Ende, welches das vorangegangene Getöse und Dauergezeter glaubhaft und sentimentfrei zumindest etwas neutralisiert. Damit wäre Pretty Woman zumindest am Ende doch in der Realität angekommen.
Rezensenten lobten den gelungenen Mix verschiedener Genres des Regisseurs (Billy-Wilder-Komik, Slapstick, schrille Comedy, Dramödie), wobei der Anschein eines gelungenen Gemisches auch dadurch entstehen kann dass der Regisseur die Genres nicht sauber auseinanderhalten und nicht wirklich einen eigenen Stil daraus entwickeln kann, so dass ich diese Stärke eher für eine Schwäche halte.
Nein, Billy Wilder ist nicht auferstanden, eher Shakespeare: Much ado about nothing mit Garantie für Kopfschmerz und Ohrenkrebs.