Manafonistas

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Das Ehepaar Oto und Yusuke Kafuku pflegt ein bemerkenswertes Sexritual. Während die Beiden noch matt und beglückt beieinander liegen, erzählt Oto ihrem Mann Bruchstücke skurriler Geschichten von mehr oder weniger subtil erotischer Art.  Yusuke hakt nach, fragt weiter, entwickelt mit Oto einen Handlungsstrang. Es ist kein Spiel, es ist Teil von Otos Beruf als Drehbuchautorin beim Fernsehen. Als Schauspieler und Regisseur ist auch Yusuke vom Fach. Es sind die erfüllten Stunden einer Beziehung, die schon fast ein Vierteljahrhundert währt. Doch es gibt eine geheime Gewohnheit von Oto, die Yusuke durch Zufall entdeckt, und es gelingt ihm nicht, mit ihr darüber zu sprechen. Ryūsuke Hamaguchis Film Drive my Car kam 2021 ins Kino, er basiert auf zwei Kurzgeschichten aus Haruki Murakamis Buch Von Männern, die keine Frauen haben (Drive my car und Scheherazade). Der Film entfernt sich deutlich von der literarischen Inspiration und transportiert mehr an japanischer Tradition: kleine religiöse Handlungen, die Kraft, die ein Schweigen hervorbringt, und nicht zuletzt die tranceartige, meditative Stimmung während langer Autofahrten, über komplizierte Autobahnkreuze von Metropolen, die Küste entlang, durch unbeleuchtete Landschaften Richtung Norden, durch endlos scheinende Tunnel, denen weitere Tunnel folgen, bis der Schnee in der Sonne glitzert. Das Unterwegssein in einem mattroten Saab 900 turbo hat hier geradezu therapeutische Qualität. Die Intimität, die darin liegt, jemandem den Ort zu zeigen, an der man aufgewachsen ist, setzt etwas in Bewegung und es entsteht ein Moment ikonischer Qualität. Zwei Menschen, die im Nichtraucherauto sitzen, haben ihre Zigaretten angezündet und halten sie aus dem geöffneten Schiebedach nach oben, wo die Glut sich einfügt in verschwommene Lichter der Nacht.

 

 

 

 

Erst nach 35 Minuten läuft in diesem dreistündigen Film der Vorspann, nach einem Zeitsprung bildet im zweiten Teil eine bemerkenswerte Inszenierung von Tschechows Onkel Wanja einen Schwerpunkt. Wenn ich mir auch manche erklärenden Dialoge etwas knapper gewünscht hätte (hier schien man sich an der russischen Tradition des Erzählens zu orientieren), hat mich die Glaubwürdigkeit der Charaktere in Drive my car vollkommen überzeugt. Die Performance der Figur der Sonja im Theaterstück bringt nochmal eine andere Nuance der Rezeption ein: Die Schauspielerin drückt sich durch koreanische Gebärdensprache aus. Und noch eine Geste, die ich in diesem Film zum ersten Mal sah: Eine brennende Zigarette in eine kleine Fläche Eiswasser hineinzustecken, als wäre es ein Räucherstäbchen. Ein Abschiedsritual.

09. Mai 2023

Buchhandlung Weltenleser, Oederweg 40, Frankfurt am Main
Beginn: 19:30 Uhr, Eintritt frei
Eine Veranstaltung der deutsch-ibero-amerikanischen Gesellschaft e.V.

Veranstaltungslink

 

Geraldine Gutiérrez-Wienken (Heidelberg) und Martina Weber (Frankfurt) geben einen Überblick über die venezolanische Lyrik des 20. und 21. Jahrhunderts. Die Politik prägt den Alltag so stark, dass sich viele Dichter:innen aus Venezuela damit auseinandersetzen. Aber sie tun es auf sehr verschiedene Art und Weise. Rafael Cadenas verbindet das Existenzielle mit dem Geheimnis des Lebens oder der Mystik. Jacqueline Goldberg betreibt Ahnenforschung und widmet sich mit einer vom Zen geprägten Haltung der Pflege eines Möbelstücks. Adalber Salas Hernández floh nach New York City und dokumentiert von dort aus die Zerstörung seines Landes. Néstor Mendoza hat ein Langgedicht als Countdown gestaltet. Anhand dieser und anderer Beispiele machen Geraldine Gutiérrez-Wienken und Martina Weber die Themen und Schreibweisen venezolanischer Lyrik erlebbar und anschaulich. Den Schmerz, aber immer auch die Lebenstrategien in finsteren Zeiten.

 

 
 

Die im Vortrag vorgestellten Gedichte finden sich in folgenden Publikationen:

 

Zehn Dichter aus Venezuela. Ausgewählt und übersetzt von Geraldine Gutiérrez-Wienken und Martina Weber, in: poet nr. 21, literaturmagazin, herausgegeben von Andreas Heidtmann, poetenladen verlag, Herbst 2016 (Bezug über https://www.poet-magazin.de/poet21.htm)

 

Noch bleibt uns das Haus | Aún nos queda la casa. Lyrik aus Venezuela. Aus dem venezolanischen Spanisch von Nico Bleutge, Carolin Callies, Geraldine Gutiérrez-Wienken, Rainer René Mueller und Hans Thill. hochroth Heidelberg, 2018 (Bezug über https://www.hochroth.de/5399/noch-bleibt-uns-das-haus-lyrik-aus-venezuela/)

 

Jacqueline Goldberg: Ich bin nicht, was ich sage | No soy lo que digo. Aus dem venezolanischen Spanisch von Geraldine Gutiérrez-Wienken und Martina Weber. hochroth Heidelberg, 2020 (Bezug über https://www.hochroth.de/6064/6064/)

 

Néstor Mendoza: Sprengkopf. Aus dem venezolanischen Spanisch von Michael Ebmeyer. hochroth Heidelberg, 2020 (Bezug über https://www.hochroth.de/6038/nestor-mendoza-sprengkopf/)

 

Rafael Cadenas: Klagelieder im Gepäck. Aus dem venezolanischen Spanisch von Geraldine Gutiérrez-Wienken und Marcus Roloff. Parasitenpresse, Köln 2019 (Bezug über https://parasitenpresse.wordpress.com/2018/06/17/rafael-cadenas-klagelieder-im-gepaeck/)

 

Adalber Salas Hernández: Auf dem Kopf durch die Nacht. Aus dem venezolanischen Spanisch von Geraldine Gutiérrez-Wienken und Marcus Roloff. Parasitenpresse, Köln 2021 (Bezug über: https://parasitenpresse.wordpress.com/2021/08/12/adalber-salas-hernandez-auf-dem-kopf-durch-die-nacht/)

 
 

Es ist ziemlich genau acht Jahre her, dass mir Geraldine Gutiérrez-Wienken über mein poetenladen-Profil eine Nachricht schickte und mich zu einer Lesung in ihrer Radiosendung POESIA beim Bermudafunk einlud.  Wir trafen uns in Mannheim, wir trafen uns in Frankfurt, in Heidelberg, in Darmstadt. Wir tauschten uns über unsere Gedichte aus, wir übersetzten gemeinsam aus dem Spanischen, Geraldine gründete einen Verlag, wir machten drei Bücher mit Übersetzungen, schrieben einen Beitrag für die österreichische Zeitschrift triedere über unsere Methode der Tandemübersetzung. Am Mittwoch stellen wir eine Auswahl von Gedichten in der Kunsthalle Darmstadt vor.

 

 

03. Mai 2023: Präsentation deutsch-spanischer Übersetzungen durch Martina Weber und Geraldine Gutiérrez-Wienken und Verlagsportrait hochroth Heidelberg. Eine Veranstaltung der Lesebühne Literaturhaus Darmstadt.Ort: Darmstädter Kunsthalle, Steubenplatz 1, Darmstadt Beginn: 19:30 UhrEintritt frei

Geraldine Gutiérrez-Wienken (Heidelberg) und Martina Weber (Frankfurt) stellen ihre Übersetzungen spanischsprachiger Gegenwartslyrik (Jacqueline Goldberg, Trinidad Gan und Ángeles Mora) sowie den Übersetzungsprozess vor. Im zweiten Teil des Abends präsentiert Geraldine Gutiérrez-Wienken im Gespräch mit Martina Weber ausgewählte Titel aus ihrem Verlagsprogramm (hochroth Heidelberg), das sich auf Lyrikübersetzungen aus dem Spanischen sowie deutschsprachige Poesie und Kurzprosa konzentriert.

 

Link zur Veranstaltung
Link zu hochroth Heidelberg
Link zu meinem Manafonistas-Beitrag über Jacqueline Goldberg
Link zu meinem Manafonistas-Beitrag über Trinidad Gan
Link zu meinem Manafonistas-Beitrag über Ángeles Mora

 

 

Foto der Lesebühne, bevor das Publikum eintraf. Die Akustik war beeindruckend, auch ohne Mikro.

 

Das malsehnkino im Frankfurter Nordend war gestern bis auf den letzten Sessel belegt, das Publikum größtenteils Ü65, darunter vermutlich einige jahrzehntelange Christian Petzold-Fans. Kein Spoiler hier, nur ein paar unzusammenhängende Impressionen. Mich selbst hat es gestört, dass ich die ersten fünf Minuten der Handlung durch den Trailer und Querlesen von Texten schon kannte, und einige Bilder, die später auftauchten, auch. Ich habe jetzt auch erstmal nichts gelesen, auch nicht den Flyer zum Film, und die Interpretation des youtube-Filmkritikers neben der grünen Lampe noch nicht angehört. ROTER HIMMEL ist ein ruhiger Film, sehr gute Schauspieler, sehr gute Dynamik, überraschende Wendungen bis zum Schluss. Die Spannungskurve liegt eher subkutan. Der Film hat etwas von einem Eisberg, der einen beträchtlichen Teil seiner Masse verbirgt. Das Unsichtbare, das Erahnte, ist seine Stärke. Wer sich nur ein bisschen informiert hat, kennt wenigstens die Ausgangssituation: zwei Männer, Mitte bis Ende 20, reisen in ein Ferienhaus an der Ostsee. Bis zum Ende blieb mir unklar, warum sie gemeinsam in dieses Haus gereist sind, denn sie wirken nicht wie Freunde. Die beiden und auch die wenigen anderen Hauptpersonen befinden sich – jede Person auf andere Art – in ihrem Leben in einer Art Zwischenphase, und sie gehen verschieden damit um. Der eine der Männer liest am Stand ein Buch, das es, soweit ich mich umgeschaut habe, nicht gibt: Schatten von Reiner Lorenz. Musik wird auch in diesem Film nur spärlich eingesetzt. Im Ferienhaus gibt es einen Plattenspieler, die Melodie erkannte ich aus den Klanghorizonten, ist lange her, dass Michael sie spielte. Im Abspann wurden Tarwater und Ryuichi Sakamoto genannt. Und wenn hier ein Tennisball an eine Hauswand geworfen wird, ist es eine wunderbare Reminiszenz an Stanley Kubricks Shining. Gepflegt wird in ROTER HIMMEL auch die Tradition, eine Geschichte zu erzählen, ein Gedicht aufzusagen und ein altes Fahrrad mit zu vielen Einkaufsnetzen zu behängen. Ein paar Kleinigkeiten empfand ich als nicht glaubhaft, daher nur viereinhalb Sterne.

2023 25 Apr

Mit erhobenen Händen

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Ursprünglich hatte Christian Petzold für seinen Film Die innere Sicherheit den Titel Gespenster vorgesehen. In einer der stärksten Szenen des Films, an einer Straßenkreuzung, werden diese Gespenster sichtbar. Im Audiokommentar spricht Petzold davon, dass in deutschen Filmen die Jeanshosen, Turnschuhe und T-Shirts schon nach einem Jahr so wirken wie die Mode von vor einem Jahr. In französischen Filmen sei das nicht so. Julia Hummer muss ein blassgelbes unförmiges Sweatshirt tragen, auf dem eine Biene auf einem Surfbrett balanciert. Besonders unauffällig ist das nicht. Die Musikauswahl ist grandios. Jeanne geht den Klängen nach, steigt die Treppe hoch, betritt zaghaft Paulines Zimmer und fängt dann auch damit an, sachte ihre Hüften zu wiegen, schon wieder eine Zigarette anzuzünden und ein paar Bemerkungen fallen zu lassen, die lässig wirken sollen. Der schönste Song aber umrahmt den Film. How can we hang on to a Dream, von Tim Hardin, aus dem Jahr 1966.

 

2023 17 Apr

Im Labyrinth des Unbewussten

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Er erinnert sich daran, dass sie in seinem Fotografiekurs war, im Rotlicht der Dunkelkammer. Fotografien der Freundin, die ihr Ex von ihr gemacht hat, und die sie nicht rausrücken will. Eine Serie von Polaroids, die die Freundin von ihm macht, während er schläft. Die Beiden als Künstlerpaar, sie schlendern über Flohmärkte, die Freundin blättert in japanischen Comics aus den 60ern. Die Kamera immer dabei. Fotografien, die die Handlung weiterentwickeln, gehören zu den Schaltstellen in der Graphic Novel-Trilogie „X“, „Die Kolonie“ und „Zuckerschädel“ von Charles Burns, die zwischen 2012 und 2015 in deutscher Übersetzung bei Reprodukt erschien. Im Unterschied zu Black Hole, das eine Gemeinschaftserfahrung beschrieb, konzentriert sich die Trilogie auf die Figur des jungen Dough, der durch Raum und Zeit stolpert und verschiedene Identitäten annimmt. Erinnerungen brechen immer wieder ab, gleiten über in Träume, Visionen – ein Horrortrip. Kalifornien in den 70er Jahren: Punkkonzerte, auf denen cut up-Texte à la W.S. Burroughs das Publikum begeisterten, vorgetragen von einem Mann, dessen Markenzeichen ein Schattenriss seines Haarschopfs auf dem T-Shirt war, und eine Maske. Die Geschichte zieht sich über Jahre hin. Dough hat etwas zugenommen. Was hat sein Leben mit dem seines Vaters zu tun? Der Vater sitzt im Sessel vor dem Fernseher, der junge Dough stellt einen Sender nach dem anderen ein, aber der Vater schüttelt immer wieder den Kopf. Alles scheint egal und keine Entscheidung macht mehr einen Unterschied oder Sinn. Da ist immer wieder sein Zimmer, ein ungeschützter Raum. Wassermassen spülen die Matratze durch dicke Rohre auf einen reißenden Strom. Die Matratze wird zum Floß, hinein in eine Welt, deren Zeichen er nicht deuten kann. Oder die Leiter rauf auf den spärlich beleuchteten Dachboden mit der seltsamen Frau auf der Hinterbühne. Die Magie der Zahl 23, und was sind das für kleine Lebewesen, die sich im Rührei bewegen? [Das Bild durch Anklicken vergrößern.] Auch eine Schallplatte von Brian Eno läuft: Before and after Science.

 
 

 
 

Die letzten Seiten lösen das Trauma auf, das der Anlass war für den Trip, der Dough ins Labyrinth seines Unbewussten geführt hat. Matthias Manthe hat Burns Graphic Novel-Trilogie in seiner TAZ-Besprechung als eine der präzisesten kulturellen Darstellungen männlicher Subjektivität und Verstrickung überhaupt bezeichnet. Das scheint mir überbewertet, da es eine männliche Subjektivität und Verstrickung in dieser Allgemeinheit nicht gibt. Dennoch, es wird Déjà-vu-Effekte geben.

 

Diesmal hätte es ein parallel Reading werden können. Olaf hat es schon im Herbst gelesen; über einen Kommentar von ihm zu meinem Annie Ernaux-Post bin ich auf das Buch aufmerksam geworden. Nach dem zweiten Lesedurchgang wirkt bei mir noch vieles nach und meine Beschäftigung ist noch nicht abgeschlossen. Yoga von Emmanuel Carrère erschien vor einem Jahr in der Übersetzung von Claudia Hamm bei Matthes & Seitz. Beim Querlesen über ein paar Rezensionen und Reaktionen wurde mir klar, dass es sich um ein streitbares Werk handeln muss: Jemand hatte sich enthusiastisch bei einem Rezensenten einer renommierten Tageszeitung für einen Verriss bedankt, denn fast hätte er das Buch, das in einer Buchhandlung auslag, gekauft und so war ihm eine unnötige Ausgabe und enttäuschende Lektüreerfahrung erspart geblieben. Mein eigener Ausgangspunkt zum Titelthema ist eher bescheiden, stellt sich aber als durchaus ideale Lesevoraussetzung heraus: Abgesehen von ein paar geführten Meditationen auf Jugendfreizeiten mit dem üblichen, imaginären beschwerlichen Weg durch eine wundersame Landschaft zu einem alten weisen Mann, der mir einen von mir selbst formulierten, tiefgründigen Rat gibt, war mein Einstieg um die Jahrtausendwende das schöne klassische Yogabuch von Anne Elisabeth Röcker, in dem zu jeder Übung die Heilwirkungen auf den Körper beschrieben werden. Eine Routine sind die Asanas damals aber nicht geworden. Gertrud Hirschi, deren Bücher ich erst vor einem Jahr entdeckt habe, bezieht die geistigen und seelischen Ebenen stärker mit ein, was mich fasziniert, zumal einige Wirkungen tatsächlich eingetreten sind. Unbeweglich in Meditationshaltung herumzusitzen ist allerdings gar nicht mein Ding. Und warum soll es richtig sein, etwas zu sehen, wie es angeblich ist, und es nicht zu bewerten? Führt das nicht zu Passivität? Hält es mich von Interessanterem ab? Ich schwanke, so bin ich eben. Ein Lieblingssatz aus Carrères Buch. Ein charakteristischer Satz.

Geplant hatte Emmanuel Carrère ein heiteres, feinsinniges Büchlein über Yoga, womit er sich seit 30 Jahren beschäftigte, ein Werk, dem er den Titel „Ausatmen“ geben wollte. Doch es kam anders. Im Januar 2015 war er Teilnehmer eines Vipassana-Meditations-Retreats im Morvan, einer gebirgigen Region eineinhalb Bahnstunden südöstlich von Paris, um abgeschnitten von der Außenwelt ohne Ablenkungen durch technische Geräte, Bücher und Schreibzeug zehn Tage lang täglich zehn Stunden zu meditieren, zu schweigen und Inspiration für sein Buch zu finden. Nach vier Tagen wurde Emmanuel Carrère jedoch aus der Abgeschiedenheit herausgerissen, weil er die Trauerrede für einen Freund halten sollte, der bei den islamistischen Anschlägen auf die Redaktion von Charlie Hebdo, die in Frankreich dem nine eleven entsprechen, ermordet wurde. Eine von zahlreichen drastischen Wendungen im Buch.

Emmanuelle Carrère schätzt Autoren, die so schreiben, wie sie denken, und auch sein Yogabuch entfaltet sofort einen Sog, der andauert und es, wie jedes gelungene Kunstwerk, in eine eigene Erfahrung verwandelt. Ich schreibe Yogabuch, aber der Titel weckt Erwartungen, die nicht erfüllt werden, jedenfalls auf den ersten Blick nicht. Ein wiederkehrendes Element des Buches besteht dann auch darin, einen passenden Titel für das Buch zu finden. Schreiben, wie man denkt, bedeutet keineswegs etwas herunterzuschreiben: Alles in diesem Buch ist fein aufeinander abgestimmt und komponiert. Wenn ich zum Beispiel in einem der kurzen Kapitel über Ragas lese, dass man bei ihnen einerseits nie weiß, wo man sich gerade befindet, und andererseits immer im Zentrum ist, so lässt sich dies auf die Lesesituation übertragen.

Was ist es nun geworden? Ein sinnliches, ehrliches, provokatives, zersetzendes und schonungsloses Buch über Yoga und Meditation, psychische Abgründe, Sex und Liebe, Freundschaft und – in diesem Teil weder provokativ noch zersetzend – über einen Schreibworkshop auf der griechischen Insel Leros. Und vieles mehr, sei es skizziert, angedeutet oder weggelassen.

Ein faszinierender roter Faden, der sich durch das Buch zieht, ist die Geschichte mit der Zwillingsfrau, mit der Carrère direkt nach einem Yogakurs am Genfer See eine bemerkenswerte Liebes- und Sexbeziehung beginnt. Die beiden treffen sich regelmäßig in einem Hotel einer Provinzstadt und verbringen einige Stunden zusammen, ohne auch nur ihre Nachnamen zu kennen und über das Leben, das sie außerhalb führen, zu sprechen. Ein geheimes Parallelleben, das für immer andauern sollte. Eine kleine Skulptur von Zwillingen, die ihm die Frau geschenkt hat, trägt Carrère wie ein Heiligtum mit sich. Er stellt die Figur während des Vipanassa-Retreats in seinem kleinen Bungalow auf. Schaut man nur eine Sache gründlich an, kann man darin alles entdecken: Die Unendlichkeit im Umriss einer kleinen Zwillingsskulptur.

Was Sie sonst noch im Buch erwartet: Eine überraschende Einsatzmöglichkeit für die Wolkenhände des Tai Chi. Gedanken zur twilight zone des tibetischen Bardo. Ein Hinweis auf die charismatische Schönheit des jungen Alain Delon in dem Film Rocco und seine Brüder von Visconti (der Film findet sich in voller Länge auf youtube). Mindestens ein halbes Dutzend Autorennamen und Buchtitel, die den typischen Geschmack eines gebildeten westeuropäischen Mannes, der in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre geboren ist, spiegeln.

War es korrekt von mir, den Autor des Buches mit dem erzählenden Ich gleichzusetzen? Um was für ein Genre handelt es sich? Fiktion, Essay, Autobiographie? Auf dem Schutzumschlag der deutschen Fassung steht „Roman“. Im Buch selbst findet sich keine Genrebezeichnung. Carrère betont mehrfach, dass er sich der Wahrheit verpflichtet fühlt. Gegen Ende des Buches offenbart er die wenigen fiktiven Elemente. Einiges an streitbarem Stoff hat der Autor ausgelassen.

Das Buch ist nicht nur eine völlig andere Einführung in Yoga und Meditation, es ist eine inspirierende, manchmal erschreckende, sicherlich auch streitbare und doch faszinierende Lebensreflexion eines Mannes, der weiß, was ihn bis zu seinem Tod begleiten wird: Yoga und Meditation, die Liebe und das Schreiben. Ich vermute, in umgekehrter Reihenfolge.

 

 

 

 

Dieses Pannel ist einer Graphic Novel entnommen, und es fällt nicht schwer zu erkennen, in welcher Zeit wir uns befinden. [Zur Vergrößerung die Bilder anklicken.] Die Frisuren, die Schlaghosen, der Hemdkragen. Die Lampe, die Bilder an der Wand. Und die Pilotenbrille. Alles deutet auf die 70er Jahre hin. Geht die Datierung genauer? Jugendliche trinken Bier auf einer Party und jemand erzählt, er hätte Karten für ein Konzert von Emerson, Lake and Palmer gekauft. Es klingt nach Geheimtipp. Chris, eine Ausreißerin, besucht ihre Freundin Marci. Die legt Harvest von Neil Young auf; sie hören es leise. Ein Lieblingsalbum der beiden, aus dem Jahr 1972. Chris nimmt eine Neuerscheinung in die Hand: Diamond Dogs von Bowie. Es erschien am 24. Mai 1974. It’s kind of weird stuff, sagt Marci. But I’m starting to get into it.

 

 

 

 

In der Graphic Novel Black Hole von Charles Burns erleben wir eine Apokalypse, einen Absturz in eine surreale Zwischenzone, in der die Systeme des Elternhauses und der Schule ihre Bedeutung verlieren. Die Körper erleben eine Revolution. Hierarchien und Grüppchen bilden sich aus; man grenzt sich voneinander ab. Auf Partys herumstehen, sich festhalten an der Bierdose in der Hand, fachsimpeln, rumkiffen im Wald, weiter hineingehen, auch wenn Knochen an Äste gebunden sind, ein zerrissenes Kostüm menschlicher Haut in den Zweigen hängt, und in einem Zelt auf einer Lichtung Playboyhefte und Snickers lagern. Was die Jugendlichen gravierend verändert, das ist das Virus, das sich durch ungeschützten Sex überträgt. Es wirkt sich unterschiedlich aus. Die Meisten entwickeln entstellte Gesichter, andere Symptome sind Schwimmhäute zwischen den Fingern, eine klaffende, offene Wunde entlang der Wirbelsäule, ein zweiter Mund am Halsansatz. Ein Mund, der die Wahrheit spricht. Angesiedelt ist die Geschichte im äußersten Nordwesten der USA, am Rande von Seattle, wo Charles Burns in den 70er Jahren seine Jugend erlebte. Seattle wird zwar nicht genannt, aber es gibt ein Pannel mit der Silhouette von Downtown Seattle, genannt wird auch Bremerton, eine Stadt im Bundesstaat Washington. Charles Burns hat Black Hole in den Jahren 1995 bis 2005 in zwölf Heften veröffentlicht. 2008 erschien die Graphic Novel als Buch, 2011 auch auf Deutsch (bei Reprodukt). In der Fassung des Buches ist der Schluss offener als in den Heften. Dafür hat es genügt, den letzten Absatz zu löschen, in dem eine Figur erzählt, dass die Symptome irgendwann verschwanden und sie „dann wieder mit den Scheiß-Normalos herumhing, so wie früher“. Das wirkte wie ein Plädoyer, die gewohnten Pfade lieber nicht zu verlassen, war unnötig und allzu moralisch. Warnungen vor dem Betreten fremder Sphären gibt es ohnehin. Gohwa heißt go away. Der Wald ist das Rückzugsgebiet der Infizierten. Die Natur bietet zwar kurzfristig, for a swim, Schönheit und Berauschung, aber keinen Schutz. Auch nicht die Häuser. Die Atmosphäre ist düster und intensiv. Schwarz ist der Farbton, an den man sich erinnert. Bedrohung das Grundgefühl. Nacht. Wie Paare aber dann zusammenfinden, am Rand einer Party. Das geht so leicht. Die Stimmung schwankt zwischen aufgeladener Lust, pathetischen Liebesschwüren, tiefer Einsamkeit und dem Glücksgefühl, das darin besteht, dass Erinnerungen verblassen. Es wäre zu kurz gegriffen, die Metapher des Virus einzig auf eine Aidserkrankung, die zur Zeit der Entstehung der Graphic Novel noch sehr gefährlich war, zu reduzieren. Black Hole ist auch die atmosphäre Schilderung einer inneren oder äußeren Transformation, einer Sinnsuche, einer Ohnmachtserfahrung.

 

 

 

In 2018, Steve Erickson is interviewed and asked to name a single theme that all of his books have in common. „Um …“ he says with a laugh, pauses. Then he continues: „Chaos. The chaos of the world, the chaos of time and place. The chaos of sex and the self, of nature and the quadrants. Of memory and what it means to remember.“ Steve Erickson’s third novel, Tours of the Black Clock, published in 1989, begins by quoting William L. Shirer’s The Rise and Fall of the Third Reich. It recounts a detail of Hitler’s private life. In the late 1920s, Hitler loved his niece, Geli. At the end of the summer of 1931, the arguments between the two of them became more and more violent. Geli committed suicide. Hitler was inconsolable for months. Like Erickson’s other books, Tours of the Black Clock borders on the disjointed. As one crosses the twentieth century, one is lost in time and space. Reference points have disappeared. Vienna is flooded. Critics have mentioned postmodernism, magic realism, science fiction, surrealism, and mythology, but no label fits. Erickson’s work builds a consciousness of its own. It is not part of our common logic thinking systems. Where in the universe am I? Some chapters are written by an omniscient narrator, but large parts are written in the first person. Then that person changes identity, so you have to rethink the perspective. Some characters die, but they reappear later. You feel a chill under your skin from the subtle color palette: Herds of silver buffalos are on the move, destroying everything in their path. A boy with natural white hair. A girl in a blue dress. Dancing. She danced and men died. A blueprint rolled up in an old saddlebag. The map of a family home, the map of the 20th century. Banning Jainlight is born in 1917 and turns out to be precocious and addicted to sex when he grows up. He destroys his home, travels to Europe, Paris, Vienna, Berlin. He writes extraordinarily successful pornographic stories, well paid. Some of his clients make special demands on the staff of the stories. One of his clients is Hitler. However, his name is never mentioned in the novel, so as not to confuse a fictional character with a historical one. Hitler ends up in an Italian prison and manages to escape as an old man. Toward the end of the book, the radio in the motel does not work. In all of Erickson’s novels, there are deep experiences of love. And there’s a fundamental, unbearable loss. Tours of the Black Clock is the darkest of Erickson’s novels that I have read so far. However, The Sea Came in at Midnight, Rubicon Beach, and Amnesiascope are also pretty dark stuff. Actually, I started reading Tours of the Black Clock around three years ago, I got stuck on it, and it took about half of the book to get to the point where I couldn’t put it down. In contrast to Amnesiascope, there is almost no dialogue, and I don’t remember any of those kinds of reflective sentences that you can think about in a general way beyond the lecture. Most of the novel is narration, which makes reading a bit monotonous. Still, you end up having experienced a unique kind of depth. From a daytime perspective, the novel makes no sense. But our nocturnal side understands it completely.

 

 

 

 

This is my first reading impression of Tours of the Black Clock, on April 29th 2020.
This is my review about Amnesiascope (04-20-2018).
For Michael’s radio show I translated a piece from Amnesiascope into German.
My reading process of „Das Meer kam um Mitternacht“ (The sea came in at Midnight) was paused even for 12 years. I wrote about the reasons here, more than 8 years ago.

In a  way, I’m addicted to Erickson’s world, because of the way he deals with time and space. The next book I’m going to read is Zeroville. Journalist Jim Knipfel summed it up this way: „God hides a secret movie in every movie ever made.“ (From: Conversations with Steve Erickson. Edited by Matthew Luter and Mike Miley)

 

2023 29 Jan

Wie die Großen am Pokertisch

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Wann verlieren Kinder ihre Milchzähne? Mit acht? Die ersten drei Minuten dieses Kurzfilms, der heute Nacht in der Sendung Kurzschluss auf ARTE lief, hatte ich zunächst verpasst. Wir befinden uns in Frankreich: Eine Frau betritt mit ihrer kleinen Tochter eine Villa in einer ländlichen Region. Sie wird von einer Bediensteten in engem schwarzem Kleid und weißer Schürze begrüßt. Die Dame des Hauses und zwei weitere Frauen plaudern im Salon. Eigentlich war vereinbart, dass die Tochter jetzt ihre Hausaufgaben macht; sie wird jedoch ins Spielzimmer geschickt, wo drei etwas ältere Mädchen um einen niedrigen Tisch sitzen und mit einem Brettspiel beschäftigt sind. Hier entwickelt sich die Dynamik und die Spannung des Films, dessen Qualität auf der schauspielerischen Leistung einer Zweitklässlerin und einer Elfjährigen basiert. Der Film ist mit einer Warnung versehen. Kinder, Jugendliche und empfindliche Personen sollten es sich überlegen, ob sie sich auf das Abenteuer einlassen. Als sich im Verlauf des Nachmittags die Wahl zwischen Schokoladen- und Kirschkuchen stellt, ist die Antwort klar. Joséphine Darcy Hopkins, die Regisseurin, erzählt in „Zoom“, dass sie Pokerfilme gesehen hat, um auf Ideen für eine dynamische Gestaltung der Schnitte zu kommen. Und als ich eben die ersten drei Minuten online gesehen habe, verstand ich, wie sie den Bezug zu Stanley Kubricks Shining in einer Einstellung von wenigen Sekunden Dauer in der dritten Minute allein dadurch herstellt, wie ein Koffer in einer Diele über Fischgrätparkett geschoben wird und wie es dabei holpert. Und dann wird die kleine Madeleine, verschreckt und widerwillig, die Treppe herunter geführt. Das Brettspiel hat Joséphine Darcy Hopkins selbst entworfen. Wenn sie bereit wäre, eine der Spielregeln zu ändern, könnte es sich ganz gut verkaufen.

 

Film (24:43 Minuten, online bis 27.03.2024)
Zoom (Gespräch mit der Joséphine Darcy Hopkins, 5 Minuten)


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