Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

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Das Wetter an der nordfranzösischen Küste in der Nähe des Pizzaautomaten ändert sich schnell. Heute, zur Zeit der Dämmerung, waren wieder Pferde am Strand, zuerst die Spuren ihrer Hufe. Am Horizont drei Tiere zu sehen, doch als sie sich wieder zurück zum Ufer bewegten, waren es fünf. Eine Frau in langem weißen Kleid starrt ins Weite. Filmaufnahmen. Handkamera. Die Unberechenbarkeit von Wind.

 

Diese Aufmerksamkeit hätte Jürgen Ploog gern noch erlebt: ein Foto von sich, wie er im Jahr 1974 als Enddreißiger lässig in Jeansjacke, mit vor der Brust verschränkten Armen und mit halb geschlossenen Augen gegen die Motorhaube eines Autos lehnt, hat es auf das Cover eines Essaybandes über die Beat- und Undergroundliteratur geschafft, und das Buch wurde am 17. Juni 2023 sogar in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung besprochen. Doch in dem Buch „Gegen die Fußgängermentalität“ von Simon Sahner beschränkt sich die deutsche Beat- und Undergroundliteratur mit den Protagonisten Carl Weissner, Jörg Fauser und Jürgen Ploog auf die Zeit der sechziger und siebziger Jahre – wieder einmal, denn es war geradezu ein Trauma von Jürgen Ploog, dass seine Bücher immer wieder in dieser zeitlich begrenzten Schublade landeten und dass seine Arbeit seit 1980 oder 1990 kaum mehr in größeren Kreisen rezipiert wurde. Dabei war Jürgen Ploog mit seinen Publikationen seit 1980 in eine neue Schaffensphase eingetreten und hatte seine Arbeitsmethode auch seither immer wieder verfeinert. „Nächte in Amnesien“, 1980 erschienen, erlebte im Jahr 2014 sogar eine Neuauflage bei MOLOKO PRINT mit einigen neuen Kapiteln. Im Nachwort zu dieser Neuauflage schreibt Jürgen Ploog ein paar Sätze, die sich wunderbar zu einer einführenden Charakterisierung seiner Arbeit eignen: „Wenn der Leser sich fragt, in welches chronotopische Umfeld ihn diese fragmentarischen Episoden entführen (an welche Orte & in welchen erzählerischen Zeitverlauf also), ist er auf dem richtigen Weg. Er hat es mit einem System von Schnittpunkten zu tun, das nur mit einer Umorientierung der Vorstellung zu erfassen ist.“ Was ist mit dieser Umorientierung der Vorstellung gemeint? Es ist das Zentrum von Jürgen Ploogs literarischem Universum. Hier scheiden sich die Lesenden, die Literatur als Konsumgut betrachten, indem sie eine lineare Handlung nachvollziehen, von denen, die dazu bereit sind, die gängigen westlichen Wahrnehmungsmuster rationaler Logik zu verlassen, den Begriff der Realität in Frage zu stellen, und der unberechenbaren Kraft des Zufalls einen wesentlichen Stellenwert einzuräumen. „Europäer wissen nicht, dass sie sich in einem Labyrinth bewegen, dass sie Gefangene eines vorgegebenen Musters sind“, schreibt Jürgen Ploog in „Der Raumagent“. Mit seiner Art, die Welt, das Leben und vor allem sich selbst zu betrachten, ist Jürgen Ploog auch nach seinem Tod am 19. Mai 2020 ein hochinteressanter Autor. Für mich zählt er zu meinen wichtigsten literarischen Einflüssen.

 

Es begann – mit einem Zufall. Ich fuhr mit dem Fahrrad auf der Bockenheimer Landstraße Richtung Alte Oper und entdeckte ein Plakat mit einem Portraitfoto von Jürgen Ploog, der Ankündigung einer Lesung für den 25. Juni 1998: „Schreiben ist eine grundsätzliche Demonstration. Katastrophenberichte eines semantischen Raumfahrers“. Jürgen Ploog stellte die zweite Auflage seines Buches über Burroughs vor („Strassen des Zufalls“). Ich hatte damals noch nichts von Burroughs gelesen, war mit der Lesung überfordert, Neonsplitter, ein viel zu großer Saal und im Publikum fast ausschließlich Männer mit einer Ausstrahlung von Underground, viel älter als ich, und sie wirkten wie Insider bedeutsamer Botschaften, die ich noch nicht begriffen hatte. Ich bestellte „Der Raumagent“ in der Deutschen Nationalbibliothek, ein Titel, der mir gefiel. Ich schlug das Buch im Lesesaal auf, las eine halbe Seite, schlug das Buch wieder zu und gab es zurück. Ich mochte die Stimmung nicht, die Begegnung, die Art, wie sich ein Mann gewaltsam Zutritt zur Wohnung einer Frau verschaffte, die Machtausübung, die aufgesetzte Coolness, der kurze Dialog. Jürgen Ploog war für mich erstmal abgehakt.

 

Fünfzehn Jahre später erschien mein erster Gedichtband. Im Feedback wurden immer wieder die Schnittstellen zwischen den Sätzen hervorgehoben. Ich beschloss, dem „Raumagenten“ eine zweite Chance zu geben. Diesmal sprang der Funke über und ich las mich in den folgenden Jahren durch das Ploog‘sche Universum. In „Facts of Fiction“, einer Zusammenstellung von Essays zu Literatur aus den Randzonen, formuliert Jürgen Ploog „die einzige & wichtigste Frage in der Auseinandersetzung mit jedem Schriftsteller (…): Wie sieht sein Universum aus, was geschieht, wenn man es betritt & wohin führt es mich?“ Im Fall von Jürgen Ploog ist es zunächst leichter zu sagen, was dieses Universum nicht ist: Die als „Stories“ („Nächte in Amnesien“) oder „Erzählungen“ („Raumagent“) betitelten Texte sind keine herkömmlich erzählten Geschichten. Andere Bücher wie „Pacific Boulevard“ oder „Ferne Routen“ sind schon nicht mehr mit literarischen Gattungsbezeichnungen versehen. Was üblicherweise in Kurzgeschichten oder Romanen im Vordergrund steht – das Erzählen einer Geschichte, eine genau austarierte Spannungskurve, faszinierende Charaktere, ein zentraler Konflikt –, das alles spielt in Jürgen Ploogs Prosa überhaupt keine Rolle. Die Storys brechen mit allen Regeln. Es gibt zwar meistens einen Icherzähler, die Erzählperspektive ist jedoch uneinheitlich und kann sich innerhalb eines Textes ändern. Personen werden eingeführt, die im weiteren Verlauf nicht mehr vorkommen. Bestimmte Namen tauchen seit Jahrzehnten in Jürgen Ploogs Büchern auf: Grips, Max, Kiki, Lorita, Maier, Johnnie, Luzi, aber ich wäre nicht in der Lage, besonders viel über sie zu sagen. Wurde Luzi nicht mit einem langen Schal gesehen? Die Figuren scheinen keine Geschichte zu haben, keine Persönlichkeit. Oder haben sie ihre Vergangenheit vergessen? Nur fragmentarische Erinnerungen, eine Begegnung von früher vielleicht. Ein Beziehungsding. Geschäfte. Oder beides zugleich. Jürgen Ploog über Grips, den Piloten: „Etwas hatte seine Erinnerung ausgelöscht, seitdem suchte er sie, er hastete von Ort zu Ort, dorthin, wo Orte miteinander verschmolzen.“ („Ferne Routen“). Das Unterwegssein ist eine Konstante. Verabredungen mit Personen, die einander nicht kennen. Reisen in einen imaginären Raum. Erinnerungen blitzen plötzlich auf. „Wenn ich vom Reisen spreche, dann meine ich eine meditative Übung.“ („Der Raumagent“).

 

Zentral in den Texten von Jürgen Ploog ist ein innerer Zustand, das Bewusstsein, ein Unterwegssein im Bewusstsein, besser noch: an den Rändern des Bewusstseins, an den Rändern dessen, was mit Worten ausgedrückt werden kann. Eine seltsame Art von Trance. Da sind sie wieder, die halb geschlossenen Augen. Drogen sind auch mit im Spiel. Ploogs Texte gehen über die Sprache hinaus, vor allem gehen sie über das westliche Denken hinaus, und sie beziehen das Schweigen mit ein. Bei all den manchmal etwas nervigen Piloten, Agentinnen, Replikantinnen, schrägen Typen und krummen Deals, überraschenden Wiederbegegnungen und unerwünschten Abenteuern ist es auch dies, was mich an Ploogs Prosa fasziniert: Man spürt, man erfährt, dass hier jemand schreibt, der sich schon in den sechziger Jahren an Orten aufgehalten hat, die gewöhnliche Bewohnerinnen und Bewohner Europas nicht erlebt haben: Indien, Nepal, Thailand, Malaysia, Marokko, Mexiko und Venezuela.

 

Reisen nicht nur durch den Raum, sondern auch durch die Zeit. „Wenn Zeit reißt, dann sind es die entfernten Bilder, die schlagartig näher rücken.“ („Der Raumagent)

 

Kennzeichen von Jürgen Ploogs Texten: Unberechenbarkeit, Widersprüche, Traumlogik, Magie, Poesie, ungesehene Bilder, etwas Wildes, Weisheit, ein filmischer Blick, ständige Brüche, kosmische Energie, keine „Greifbarkeit“, Genreübergreifend (meist wird Essay und Prosa gemixt), Mysteriöses, Bedrohliches, Unheimliches, Archaisches, Existenzielles, Flüchtiges, ein Freiheitsgefühl, Verunsicherung, Nebensächlichkeiten. Insgesamt eine Zersetzung des sogenannten Realen. An die Stelle des Ursache-Wirkungs-Prinzips tritt Synchronizität.

 

Jürgen Ploog hat seine Schreibmethode in fast allen seinen Prosaarbeiten reflektiert.  „Mein Ziel ist, jenseits von Sprache im schnellen Flacker der Bilder zu sehen. Dies ist im Film, die ist in der Schnitttechnik möglich.“ (Raumagent). Die Schnitttechnik oder Cut-up hat ihren Ursprung in einer zufälligen Entdeckung des Malers und Schriftstellers Brion Gysin in einem Pariser Hotel des Jahres 1959. Er hatte den Tisch, auf dem er malen wollte, mit Zeitungspapier bedeckt, zerschnitt die Zeitung, um den Tisch besser damit abdecken zu können, verschob also die Zeitungsspalten, und bemerkte das kreative Potential, das sich in den Schnittstellen verbarg. Es war dann zunächst W.S. Burroughs, der in seiner Literatur mit der Schnitttechnik arbeitete.

 

In seiner ersten Arbeitsphase hatte Jürgen Ploog Texte anderer auseinandergenommen und in harten Schnitten miteinander kombiniert. Im Lauf der Zeit hat er die Arbeit mit der Schnitttechnik stark verfeinert. Ein Beispiel dafür, wie aus einem längeren Text von Thomas Collmer ein typischer Ploog-Text entsteht, kann man in der #6 der Zeitschrift „Rollercoaster“ vom November 2009 bestaunen.

 

Das zentrale Anliegen von Jürgen Ploog besteht darin, mit Hilfe der Schnitttechnik Bilder, Gefühle und Zustände entstehen zu lassen, die bisher nicht artikuliert wurden, die vielleicht gar nicht artikulierbar sind.

 

„Sich niemals auf Sprache verlassen.“ (Unterwegssein ist alles).

 

Das ist der Durchbruch in den Grauen Raum. Das Reisen an imaginäre Orte. Es geht um die Fähigkeit, durch den inneren Raum zu navigieren und das Unmögliche zu denken. Dies ist auch von politischer Bedeutung.

 

Bereits im Jahr 1980 hat Jürgen Ploog seine Methode in dem Text „Showdown des Okzidents“ aus der von ihm herausgegebenen Anthologie „Amok Koma“ geschildert und seine Botschaft formuliert: „Max Lang, ein Pilot in meinen Texten, der selten Bodenberührung hat, kam mit der erstaunlichen Frage: Wohin führt Bewegung im Raum? Oft genug setze ich ihn an einen Ort mit unbekannten Koordinaten & verfolge dann so genau es geht, was passiert. Wenn es eine Botschaft seiner Erfahrung gibt, dann heisst sie wahrscheinlich: Schau dich genau um, wo du bist, sei dir klar, dass es keine Grenzen gibt, ausser dir … Raum ist keine Dimension, die ausserhalb existiert, Raum beginnt hier, um dich (…) Lass dich nicht festnageln, lass dir nicht vorschreiben, wohin die Strasse führt … (…)“

 

„Frage: Was ist das Ziel einer langen Reise?“

„Vergessen.“ (Ferne Routen)

 

Nur das Vergessen ermöglicht es, in den imaginären Raum vorzudringen.

Das ist der Grund, weshalb sich die Figuren im Ploog-Universum kaum an etwas erinnern.

Nächte in Amnesien.

 

Für die Lektüre von Jürgen Ploogs gilt das, was Burroughs über „Naked Lunch“ schrieb: Man kann sie an jeder Stelle aufschlagen und zu lesen beginnen.

2023 6 Aug

Breaking the Waves

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„Die Beseitigung des Egos in den Äußeren Hebriden“. – Rings a bell? Kleiner Tipp: Es ist mehr als acht Jahre her und hat mit dem Blog zu tun. Tatsächlich war es ein Arbeitstitel oder schon der Titel unseres einst geplanten Buches der Manafonisten. Ein Projekt, das die damalige Crew ein paar Wochen oder Monate begeistert hat, bis  es von der Tagesordnung verschwand. Über das Stichwort „Hebriden“ in der Suchfunktion habe ich Teil 2 und Teil 3 einer organisatorischen Mail vom Juni 2015 gefunden. Die Äußeren Hebriden liegen im Nordwesten Schottlands. Ein Gespür für diese Region vermittels Lars von Triers Film „Breaking the Waves“: Gras, Wind und Meer bilden die Koordinaten einer archaischen Landschaft und  eine ziemlich frische Brise kommt hinzu. Der Untergang der jungen, frisch verheirateten Bess Anfang der 70er Jahre wird in sieben Kapiteln und einem Epilog erzählt, die jeweils mit einem Kapitelbild eingeleitet und einem Rocksong der sechziger und siebziger Jahre untermalt werden. Das sind die Songs (im Film werden sie nur jeweils etwa eine Minute angespielt):

 

Mott The Hoople: All the Way to Memphis
Python Lee Jackson: In a Broken Dream
Jethro Tull: : Cross Eyed Mary
Procol Harum: A Whiter Shade of Pale
Leonard Cohen: Suzanne
Elton John: Goodbye, Yellow Brick Road
Deep Purple: Child in Time
David Bowie: Life on Mars

 

 

Anfang des Jahres hat Uschi hier etwas über den Film geschrieben. Nun läuft „Der Rausch“ von Thomas Vinterberg noch bis 1. August 22:49 Uhr in der ARD Mediathek. Hier ist der Link. Der Film (110 Minuten Länge) eignet sich sehr für einen Filmabend mit anschließender längerer Diskussion. Ursprünglich nur als kurzzeitiger Tipp geplant, bleibt dieser Eintrag wegen der vielen inspirierenden Kommentare dauerhaft stehen.

 

In Das große Rauschen ist der Hype um das Berlin der Nachwendezeit noch deutlich spürbar, auch wenn das Buch im Jahr 2012 erschienen ist. Vor allem die Twenty- und Thirtysomethings bevölkern die Kürzestgeschichten von Verena Postweiler, die durch jeweils vier Comiczeichungen von Dieter Jüdt illustriert werden. Fahrradkuriere, Drogenhändler, die ihre Ware bei der ahnungslosen Freundin verstecken, Jungs, die Besuch von ihrer kleinen Schwester bekommen, Schlaflosigkeit und wie die Stadt dabei spricht, der Moment vor dem Weggehen am Abend, die Erinnerung an ein Gesicht, „glänzend russisch irgendwie und helle Augen“. Ein intensiver Moment an der Ampel, die Betrachtung der Stadt und wie der Sommer immer mit dem Geräusch der Flipflops in die Wohnung kam. Meist sind es kleine Augenblicke, Episoden, die im besten Fall etwas anderes, eigenes beim Betrachtenden auslösen. Die Texte sind knapp und auf Pointe geschrieben, die Grundstimmung ist melancholisch. Die Zeichnungen wirken mit ihren fast holzschnittartigen Strichen kühl, auch wenn sie als einzige Farbe einen Orangeton verwenden. Wie die Zeichnungen dem Text eine weitere Ebene hinzufügen und ihn interpretieren, zeigt die short short Story „Frau aus Glas“: Über dem ersten Pannel heißt es lapidar: „Sie wurde durchsichtig, über Nacht.“ Passanten sind in der Stadt unterwegs und unter ihnen eine Frau, die innehält. Sie ist schwächer gezeichnet, also ist sie sichtbar und nicht sichtbar. Im zweiten Pannel wird die Präsenz dieser Frau für eine Gruppe von Freunden beschrieben. Und dies ist der dritte Pannel:

 
 

 
 

Bemerkenswert an dieser Zeichnung ist, dass die Frau zweifach zu sehen ist, einmal sichtbar-unsichtbar, wie sie ein Getränk hält, und dann im Hintergrund in einem Top, was bedeuten würde, dass die Frau eine Doppelexistenz führt. Oder sieht die Frau im Hintergrund der Frau, die über Nacht durchsichtig wurde, nur auffällig ähnlich? Im vierten Pannel heißt es: „Wenn sie durch die Küche lief, konnten wir ihre Schritte nicht hören, nur die Gläser im Schrank, die leise klirrten.“ Die unsichtbar gewordene Frau, die eine Metapher darstellt, für vieles, sie wirkt weiter.

 

Ab dem 29. Juni finden die diesjährigen Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt (und auf 3sat) statt. Es lesen zwölf Autorinnen und Autoren. Hier ist der Link zur Lesereihenfolge, und hier der Link zu den Filmportraits. Die Texte werden nach den jeweiligen Lesungen online gestellt.

 

2023 26 Jun

Postkarte aus Kassel

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Lyrika_Postkarte_Vorne

 

Lyrika_Postkarte_Rückseite

 

Am kommenden Wochenende findet im Kulturzentrum Kassel in der Mombachstraße 12 unter Kastanienbäumen ein Open Air Lyrikfestival statt, auf dem auch ich auftreten und aus meinen Gedichtbänden lesen werde, am 1. Juli um 14:30 Uhr. Bei der Einladung wurde ich gefragt, ob ich auch bereit wäre, an einem lyrischen Speed-Dating teilzunehmen. Ich fragte nach, was darunter zu verstehen sei. Ich hatte eine Veranstaltung erlebt, bei denen den AutorInnen „zum Warmwerden“ vor ihrer Lesung eine ganze Reihe an Fragen mit Alltagsbezug wie die nach der Lieblingsfarbe gestellt wurden. Nicht, dass das nichts aussagt, aber ich glaube, man lernt AutorInnen doch eher über ihre Texte und die Art, wie sie damit umgehen, kennen. Im Internet fand ich eine Erklärung, die mich noch weniger beruhigte: Es hieß, beim lyrischen Speed-Dating ginge es darum, spontan in poetischer Weise auf Gedichte anderer zu reagieren. Glücklicherweise wird das in Kassel anders ablaufen. Die Gedichte für den ersten Leseblock, ca. 20 Minuten, habe ich inzwischen zusammengestellt. Das Zauberwort ist ein Begriff von Michael: Sequencing. Ich könnte auch sagen: Innere Dramaturgie, Abwechslung, ein Bezug von Motiven aufeinander. Einen Boden für die Wahrnehmung bereiten (sich an andere Orte transportieren lassen) und ihn wieder entziehen, so wie man Sicherheiten entzieht, die Kontrolle verliert und Stimmungen erzeugt. Ich steige ein mit einem Gedicht, das ich ohne Manafonistas nicht geschrieben hätte: Nur eine Straßenecke. Es begann mit einem Blogbeitrag, einer Skizze vom 11. September 2014, die sich auf einen einseitigen Comic von Bill Brag aus der Le monde diplomatique vom Dezember 2010 bezieht. Die Skizze zum Comic hatte ich noch sehr verändert, rhythmisch gestaltet, cut-ups eingefügt, keine zufälligen Schnitte, sondern gewählte, Filmtechniken wie Zoom und Rückwärtsspulen eingebracht, einen Bezug zu Kafka, und, nur für mich erkennbar, eine Kindheitserinnerung an den Hund, mit dem ich damals gern unterwegs gewesen wäre: Lassie. Die Zeitungsseite mit dem Comic habe ich noch, ich bringe sie mit nach Kassel, fürs Speeddating, das ist nämlich – wie jedes aufregende Date – frei in seiner Gestaltung. Hier der Link zur Veranstaltung.

 

2023 29 Mai

This Bonfire

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Als ich gestern Michaels Posting „Ein doppeltes Farewell“ las, ahnte ich beim zweiten Satz, worauf es hinauslaufen würde. Michael hat diesen Blog nicht nur mitbegründet, er hat ihn auch maßgeblich gestaltet: Er hat die Seiten für den Blogroll ausgewählt, fast alle Texte für die Kategorien für das Album des Monats etc. verfasst, er hat für eine stetige Erweiterung des Autorenkreises gesorgt und vor allem hat er mit Abstand die meisten Beiträge gepostet, mit der größten inhaltlichen und formalen Vielfalt. Wie oft staunte ich darüber, mit welcher Leichtigkeit Michael wieder einen seiner Texte geschrieben hatte. Michael ist derjenige, der am meisten von sich selbst hier eingebracht hat, auch in seinen klugen Kommentaren. Ich selbst bin nun auch fast schon seit zehn Jahren in diesem Kreis. Ich habe mir die Art und Weise, wie unser Blog funktioniert, immer wie ein Lagerfeuer vorgestellt, um das herum wir uns aufhalten. Einige kommen nur gelegentlich vorbei, andere hören lieber unbemerkt zu und wieder andere diskutieren immer wieder mit. Michael saß immer am Feuer, und er hat dafür gesorgt, dass es weiter brannte, mit seinen Ideen, Recherchen und all seiner Begeisterung. Jeden Tag. Ich habe so vieles durch Michaels Blogbeiträge kennengelernt, was mir wichtig geworden ist, ganz abgesehen von seinen wundervollen Sendungen, die Seelennahrung sind und waren. Dass Michael nun aufsteht und seinen Platz am Lagerfeuer verlässt, kann ich nicht fassen. Das Feuer wird nicht mehr dasselbe sein. Danke, Michael, danke.

 

 

The videotape ended up here from a filmmaker’s household. Never heard of „Elling“, by Christian Ellefsen, Norwegian original version with English subtitles. I watched it for a few minutes just to get an impression and I planned to give it one or two stars out of five, referring to the movie-rating game Michael suggested a few days ago. For me, it had a comedic feel to it at first as these two traumatized middle-aged men tried to find their own lives; the characters were not believable to me, but the authenticity of the characters is one of the most important characteristics of a successful movie. One day in the hallway, Elling mumbles a sentence to himself and discovers poetry in it. That’s the storyline that grabs me. Everything passes on to something else. In the end, it’s just me and that anonymous voice from the quiet streets of the night. And four stars at least.

 

2023 19 Mai

Just for a coffee

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