In seiner neuen Arbeit enthüllt Daniel Clowes wieder eine Welt hinter unserer geteilten Realität. „Monica“ erschien Anfang Oktober 2023 und ist Daniel Clowes‘ vielschichtigste Graphic Novel und die mit dem weitesten Interpretationsspielraum.
Vordergründig, auf der am leichtesten zu erzählenden Ebene, erzählt „Monica“, wie man es bei diesem Titel auch erwarten würde, die Lebensgeschichte einer Person namens Monica, oder jedenfalls einen Teil davon, denn was am Ende passiert und ob und wie es weitergeht, bleibt in der Schwebe. Die Lebensdaten lassen sich anhand äußerer Ereignisse festlegen. Da Monicas Mutter Penny in der Flower Power Zeit sexuell sehr aktiv war und Monica bei der Rückkehr eines Vietnamsoldaten etwa fünf Jahre alt, liegt es nah, dass Monicas Geburt so um das Jahr 1970 liegt. Im letzten Kapitel arbeitet Monica ihre Familiengeschichte und wie sich diese auf ihre Lebenshaltung ausgewirkt hat, über Skype mit einer Psychotherapeutin auf. Zeitlich befinden wir uns hier einige Jahre nach der ersten Pandemie. Wahrscheinlich ist Monica in dieser Zeit Mitte 50. Nach den frühen Kindheitsjahren im Hippie-Umfeld erfährt Monica das größte Trauma ihres Lebens. Der Versuch, mit diesem Trauma umzugehen, führt im Erwachsenenleben zu unvernünftigen Entscheidungen, die Monica auf gefährliches Terrain führen. Ich halte mich hier bewusst auf einer abstrakten Ebene, um nicht zu viel zu verraten.
Das zentrale Thema, das die Graphic Novel auf verschiedenen Ebenen durchspielt, ist die Suche nach den eigenen Wurzeln. Die Suche nach der Mutter, dem Vater, die Suche nach dem Heimatort, dem Elternhaus, die Suche nach Identität. Der Weg ist – wie von erfahrenen Daniel Clowes Lesern gewohnt – auch ein Trip durch Träume und Alpträume, wir durchqueren verlassene Orte und Flughafenhallen, wir erleben kultische Handlungen, Stimmen aus dem Jenseits und grausame Verbrechen. Spiritualität ist Verlockung und Bedrohung zugleich. Tagelang sind wir mit einem Toyota unterwegs. Wir verlieren die Orientierung über Zeit, Raum und Identität. Auch das Glück hat hier seinen Platz, und auch, ganz zaghaft, die Liebe.
Durch das gesamte Buch ziehen sich Irritationen. Diese entstehen auf der einfachsten Ebene durch Platzieren von Pannels an einer Stelle, an der sie eigentlich nicht hingehören. So findet sich auf S. 61 unvermittelt ein Wal, übersät mit zahlreichen Verletzungen wie von Harpunen, und zehn Seiten später erzählt jemand Monica die Geschichte einer Region, wobei auch der Walfang erwähnt wird. Die Einblendung des ersten Wals bekommt dadurch etwas von einer Vorahnung oder einer Intuition. Unbewusstes oder halb Bewusstes dringt immer wieder ins sichtbare, gewöhnliche Leben ein. Die Welt und Monicas Biographie werden präsentiert als ein Netz feiner, leicht zu übersehender Bezüge. Diese Technik, die auch dazu beiträgt, der Graphic Novel einen Zusammenhalt zu geben, ist charakteristisch für das Buch. Dass die weniger offensichtlichen Verknüpfungen von Leuten, denen sie ihre eigene Lebensgeschichte erzählt, leicht übersehen werden, sagt Monica selbst: „They always seemed to glaze over at the intricacies of the narrative.“ (S. 100) Daniel Clowes reflektiert in Monicas Gedanken also seine eigene Methode.
Ein weiteres Beispiele für Bezüge, die man erst beim zweiten Lesen entdeckt: Die Vision „Would I come upon an airtight room filled with dead bodies?“ (S. 72) erfüllt sich (S. 34). Auch die Form eines „Cone“ kehrt wieder, einmal in den Worten eines Unbekannten, der die kleine Monica zu etwas locken will („How would you like to go on a celestial journey inside an enchanted ice cream cone?“, S. 23), und viele Jahre später in einem fremden Gebäudekomplex als Tunnel zwischen Gebäuden, ein Tunnel, der sich einfach zuspitzt und endet. Und auch dies sind die, die süchtig sind nach den tiefen Welten des Daniel Clowes, gewohnt: Personen tauchen im Buch in völlig verschiedenen Lebensaltern und Zusammenhängen auf. Auch aus diesem Grund ist ein mindestens zweimaliges Lesen – und sorgsames Anschauen der Bilder, auch des Namens auf einem Grabstein – für ein vertieftes Verständnis des Buches sehr zu empfehlen.
Nicht immer lösen sich irritierende Bilder oder Szenerien auf. Mehrere Kapitel, die nicht direkt Monicas Geschichte erzählen, stehen scheinbar ohne Zusammenhang da. Im fünften Kapitel („The Incident“) hat einer der (Ex?)Freunde von Monicas Mutter Penny den Auftrag, einen Jugendlichen zu seiner Mutter zurückzubringen. Wahrscheinlich ist dies derselbe junge Mann, der im dritten Kapitel nach vier Jahren Abwesenheit (vermutlich wegen des Vietnamkriegs) in sein Heimatdorf zurückkehrt. Das verbindende Element mit Monica ist die Suche nach den Wurzeln.
Das Papier der Buchseiten selbst ist kapitelweise unterschiedlich gefärbt. Manche Kapitel sind auf weißem Papier, andere weisen einen leichten Beigeton auf, wieder andere einen stärkeren Beigeton. Möglicherweise hat dies etwas zu bedeuten. Es kann aber auch genausogut sein, dass es nichts bedeutet.
Widersprüche und nicht miteinander Vereinbares sind weitere Mittel im Spiel der Verwirrung. Als Monica aus dem Koma erwacht, erklärt ihr der Arzt, dass sie auf Stück Glatteis ins Schleudern geraten ist. Es war aber doch Sommer, als Monica im Auto die Rückreise vom Sommerhaus ihrer Großeltern antrat?
Mit „Monica“ präsentiert Daniel Clowes ein Land (die USA), das außer Kontrolle geraten ist. Schon die bloße Existenz Monicas ist ein Beweis für eine nicht geglückte Kontrolle, versuchte Penny doch stets eine Schwangerschaft sowohl durch die Einnahme der Pille als auch durch ein spermientötendes Gel zu verhindern.
Dass Daniel Clowes in größeren zeitlichen Zusammenhängen denkt, zeigen auch die ersten und letzten Doppelseiten des Buches. Vorne präsentiert er eine Urwelt, lange bevor der Mensch sie betrat, mit roten Meeren, Felsen, undefinierbarem Urformen von pflanzlichem oder tierischen Leben und düsteren Wolken. Die hinteren Doppelseiten zeigen die Spuren, die Menschen hinterlassen: Die Twin Towers stürzen zusammen, Menschen sind deformiert und in zerfetzter Kleidung, sie schlagen aufeinander ein, gleichzeitig bedroht von Atombombe, Tsunami und einer erbarmungslos glühenden Sonne.
„And the world opens, like a wound in the soil“. So beschreibt ein Soldat im ersten Kapitel, das zwei Kameraden im vietnamesischen Dschungel im Gespräch zeigt, während um sie herum der Krieg tobt, einen Horrortraum. Versehentlich las ich das letzte Wort anders: „And the world opens, like a wound in the soul.“ Auch so fügt es sich ein, und auch dieser Satz ist wie eine Vorhersehung zu einem anderen Pannel, in dem Monica den Anweisungen einer Stimme aus einem Lautsprecher folgt.
Mit „Monica“ zeigt sich Daniel Clowes auf dem Höhepunkt seiner Kunst. Das Buch hält uns den Spiegel vor. Es ist ein Juwel, ein Meisterwerk.
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Seit Mitte 2013 schreibe ich auf Einladung von Michael auf diesem Blog. Nach zehneinhalb Jahren und mehr als 400 Beiträgen verabschiede ich mich mit diesem Text.
Hier ist der Link zu meinem Autorenprofil im Autorenlexikon auf Literaturport.de. Wer ganz herunterscrollt, findet eine thematisch sortierte Liste meiner Blogbeiträge auf Manafonistas (über Filme, Bücher, Graphic Novels sowie von mir geführte Interviews etc.) [Die Liste wird noch ergänzt.]