Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

Author Archive:

In seiner neuen Arbeit enthüllt Daniel Clowes wieder eine Welt hinter unserer geteilten Realität. „Monica“ erschien Anfang Oktober 2023 und ist Daniel Clowes‘  vielschichtigste Graphic Novel und die mit dem weitesten Interpretationsspielraum.

Vordergründig, auf der am leichtesten zu erzählenden Ebene, erzählt „Monica“, wie man es bei diesem Titel auch erwarten würde, die Lebensgeschichte einer Person namens Monica, oder jedenfalls einen Teil davon, denn was am Ende passiert und ob und wie es weitergeht, bleibt in der Schwebe. Die Lebensdaten lassen sich anhand äußerer Ereignisse festlegen. Da Monicas Mutter Penny in der Flower Power Zeit sexuell sehr aktiv war und Monica bei der Rückkehr eines Vietnamsoldaten etwa fünf Jahre alt, liegt es nah, dass Monicas Geburt so um das Jahr 1970 liegt. Im letzten Kapitel arbeitet Monica ihre Familiengeschichte und wie sich diese auf ihre Lebenshaltung ausgewirkt hat, über Skype mit einer Psychotherapeutin auf. Zeitlich befinden wir uns hier einige Jahre nach der ersten Pandemie. Wahrscheinlich ist Monica in dieser Zeit Mitte 50. Nach den frühen Kindheitsjahren im Hippie-Umfeld erfährt Monica das größte Trauma ihres Lebens. Der Versuch, mit diesem Trauma umzugehen, führt im Erwachsenenleben zu unvernünftigen Entscheidungen, die Monica auf gefährliches Terrain führen. Ich halte mich hier bewusst auf einer abstrakten Ebene, um nicht zu viel zu verraten.

Das zentrale Thema, das die Graphic Novel auf verschiedenen Ebenen durchspielt, ist die Suche nach den eigenen Wurzeln. Die Suche nach der Mutter, dem Vater, die Suche nach dem Heimatort, dem Elternhaus, die Suche nach Identität. Der Weg ist – wie von erfahrenen Daniel Clowes Lesern gewohnt – auch ein Trip durch Träume und Alpträume, wir durchqueren verlassene Orte und Flughafenhallen, wir erleben kultische Handlungen, Stimmen aus dem Jenseits und grausame Verbrechen. Spiritualität ist Verlockung und Bedrohung zugleich. Tagelang sind wir mit einem Toyota unterwegs. Wir verlieren die Orientierung über Zeit, Raum und Identität. Auch das Glück hat hier seinen Platz, und auch, ganz zaghaft, die Liebe.

 
 

 
 

Durch das gesamte Buch ziehen sich Irritationen. Diese entstehen auf der einfachsten Ebene durch Platzieren von Pannels an einer Stelle, an der sie eigentlich nicht hingehören. So findet sich auf S. 61 unvermittelt ein Wal, übersät mit zahlreichen Verletzungen wie von Harpunen, und zehn Seiten später erzählt jemand Monica die Geschichte einer Region, wobei auch der Walfang erwähnt wird. Die Einblendung des ersten Wals bekommt dadurch etwas von einer Vorahnung oder einer Intuition. Unbewusstes oder halb Bewusstes dringt immer wieder ins sichtbare, gewöhnliche Leben ein. Die Welt und Monicas Biographie werden präsentiert als ein Netz feiner, leicht zu übersehender Bezüge. Diese Technik, die auch dazu beiträgt, der Graphic Novel einen Zusammenhalt zu geben, ist charakteristisch für das Buch. Dass die weniger offensichtlichen Verknüpfungen von Leuten, denen sie ihre eigene Lebensgeschichte erzählt, leicht übersehen werden, sagt Monica selbst: „They always seemed to glaze over at the intricacies of the narrative.“ (S. 100) Daniel Clowes reflektiert in Monicas Gedanken also seine eigene Methode.

Ein weiteres Beispiele für Bezüge, die man erst beim zweiten Lesen entdeckt: Die Vision „Would I come upon an airtight room filled with dead bodies?“ (S. 72) erfüllt sich (S. 34). Auch die Form eines „Cone“ kehrt wieder, einmal in den Worten eines Unbekannten, der die kleine Monica zu etwas locken will („How would you like to go on a celestial journey inside an enchanted ice cream cone?“, S. 23), und viele Jahre später in einem fremden Gebäudekomplex als Tunnel zwischen Gebäuden, ein Tunnel, der sich einfach zuspitzt und endet. Und auch dies sind die, die süchtig sind nach den tiefen Welten des Daniel Clowes, gewohnt: Personen tauchen im Buch in völlig verschiedenen Lebensaltern und Zusammenhängen auf. Auch aus diesem Grund ist ein mindestens zweimaliges Lesen – und sorgsames Anschauen der Bilder, auch des Namens auf einem Grabstein – für ein vertieftes Verständnis des Buches sehr zu empfehlen.

Nicht immer lösen sich irritierende Bilder oder Szenerien auf. Mehrere Kapitel, die nicht direkt Monicas Geschichte erzählen, stehen scheinbar ohne Zusammenhang da. Im fünften Kapitel („The Incident“) hat einer der (Ex?)Freunde von Monicas Mutter Penny den Auftrag, einen Jugendlichen zu seiner Mutter zurückzubringen. Wahrscheinlich ist dies derselbe junge Mann, der im dritten Kapitel nach vier Jahren Abwesenheit (vermutlich wegen des Vietnamkriegs) in sein Heimatdorf zurückkehrt. Das verbindende Element mit Monica ist die Suche nach den Wurzeln.

 
 

 
 

Das Papier der Buchseiten selbst ist kapitelweise unterschiedlich gefärbt. Manche Kapitel sind auf weißem Papier, andere weisen einen leichten Beigeton auf, wieder andere einen stärkeren Beigeton. Möglicherweise hat dies etwas zu bedeuten. Es kann aber auch genausogut sein, dass es nichts bedeutet.

Widersprüche und nicht miteinander Vereinbares sind weitere Mittel im Spiel der Verwirrung. Als Monica aus dem Koma erwacht, erklärt ihr der Arzt, dass sie auf Stück Glatteis ins Schleudern geraten ist. Es war aber doch Sommer, als Monica im Auto die Rückreise vom Sommerhaus ihrer Großeltern antrat?

Mit „Monica“ präsentiert Daniel Clowes ein Land (die USA), das außer Kontrolle geraten ist. Schon die bloße Existenz Monicas ist ein Beweis für eine nicht geglückte Kontrolle, versuchte Penny doch stets eine Schwangerschaft sowohl durch die Einnahme der Pille als auch durch ein spermientötendes Gel zu verhindern.

Dass Daniel Clowes in größeren zeitlichen Zusammenhängen denkt, zeigen auch die ersten und letzten Doppelseiten des Buches. Vorne präsentiert er eine Urwelt, lange bevor der Mensch sie betrat, mit roten Meeren, Felsen, undefinierbarem Urformen von pflanzlichem oder tierischen Leben und düsteren Wolken. Die hinteren Doppelseiten zeigen die Spuren, die Menschen hinterlassen: Die Twin Towers stürzen zusammen, Menschen sind deformiert und in zerfetzter Kleidung, sie schlagen aufeinander ein, gleichzeitig bedroht von Atombombe, Tsunami und einer erbarmungslos glühenden Sonne.

„And the world opens, like a wound in the soil“. So beschreibt ein Soldat im ersten Kapitel, das zwei Kameraden im vietnamesischen Dschungel im Gespräch zeigt, während um sie herum der Krieg tobt, einen Horrortraum. Versehentlich las ich das letzte Wort anders: „And the world opens, like a wound in the soul.“ Auch so fügt es sich ein, und auch dieser Satz ist wie eine Vorhersehung zu einem anderen Pannel, in dem Monica den Anweisungen einer Stimme aus einem Lautsprecher folgt.

Mit „Monica“ zeigt sich Daniel Clowes auf dem Höhepunkt seiner Kunst. Das Buch hält uns den Spiegel vor. Es ist ein Juwel, ein Meisterwerk.

 
______________________________________________________
 

Seit Mitte 2013 schreibe ich auf Einladung von Michael auf diesem Blog. Nach zehneinhalb Jahren und mehr als 400 Beiträgen verabschiede ich mich mit diesem Text.

Hier ist der Link zu meinem Autorenprofil im Autorenlexikon auf Literaturport.de. Wer ganz herunterscrollt, findet eine thematisch sortierte Liste meiner Blogbeiträge auf Manafonistas (über Filme, Bücher, Graphic Novels sowie von mir geführte Interviews etc.) [Die Liste wird noch ergänzt.]

 
 

 

2023 24 Dez

By this River

| Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | 6 Comments

 

Die berührendsten musikalischen Überraschungen kommen doch am wahrscheinlichsten aus meiner eigenen Sammlung an Audiokassetten, vor allem den Klanghorizonte-Tapes. Die A-Seite einer Kassette, beschriftet mit „8-2010: Highlights der Krautrock-Ära“ und dann den detaillierten Einzeltiteln Cluster (3 mal), Roedelius, Neu!, Harmonia, Cluster & Eno, Eno Moebius Roedelius, Neu! endet ganz unvermittelt in dieser stillen Nacht (!) mit einem Song von Brian Eno. By this River, aus „Before and After Science“.

 

2023 18 Dez

M3gan

| Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags:  | 23 Comments

Womit kann man einem 8-jährigen vereinsamten und traumatisierten Mädchen die größte Freude machen? Welches Spielzeug würde dieses Kind so sehr begeistert, dass sie auflebt, lacht und getröstet wird? Dass sie wieder am Leben teilnimmt? Das Spielzeug müsste eine bisher ungeahnte Sensibilität gegenüber dem Kind aufbringen können, idealer sein als die beste Freundin und als verständnisvolle, liebende, geduldige Eltern zusammen. Das kann nur KI. „M3gan“ ist die Abkürzung für „Model 3 Generative Android“. M3gan ist 1,20 Meter groß, sophisticated gekleidet und ihre Aufgabe besteht darin, die kleine Cady vor körperlichem und psychischem Schaden zu bewahren. Das ist die Grundkonstellation in dem Film „M3gan“, der allerdings erst ab 16 Jahren freigegeben ist. Das klassische Genre des Kampfes Mensch gegen Maschine, wie wir es kennen aus Filmen wie „The Thing“ von Carpenter, „her“ von Spike Jonze und „It Follows“ von David Robert Mitchell, ist hier zeitgemäß umgesetzt. Eine Anfangsszene setzt eine Reminiszenz an Stanley Kubricks „Shining“ und damit zum Horror-Genre: Die Eltern sind mit ihrem Kind im Auto unterwegs zu einem abgelegenen Hotel in den Bergen, nur dass der Schnee bereits gefallen ist und dass nicht ein echter Junge Hunger hat, sondern ein kleines technisch gesteuertes Kunstfellwesen mal pinkeln muss. Wenn auch der Plot in seinem Gesamtbogen vorhersehbar ist, gibt es in der Freundschaft von Cady und M3gan überraschende, berührende und ergreifende Begegnungen. Es sind diese Szenen, die den Mainstream-Unterhaltungsfilm „M3gan“ zu einem besonderen Erlebnis machen.

 
 

 

2023 30 Okt

Die Farbe Gelb

| Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Tags:  | 2 Comments

 

Ein Tag im Jahr 2100, mitten in Deutschland, wie könnte das sein? Von uns wird es niemand mehr erleben. WDR 5 und das Literaturbüro NRW haben einen Wettbewerb ausgerufen, an dem 367 Autorinnen und Autoren teilgenommen haben. Das Thema lautete: „Ein Tag irgendwo in NRW im Jahr 2100“. Die drei Gewinnertexte wurden von zwei Sprecherinnen und einem Sprecher gelesen und finden sich unter diesem Link. Vor jeder Lesung steht ein Statement der jeweiligen Autorin bzw. Person. Tief beeindruckt hat mich die Erzählung „Die Farbe Gelb“ von Iris Antonia Kogler. Die Lesung beginnt bei Minute 24:18 und endet bei 37:03, dauert also etwa 13 Minuten. Der Link ist verfügbar bis 31.10.2024. Der Sprecher des Textes hat eine ausgezeichnete Performance hingelegt.

 

2023 15 Okt

I once was lost

| Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | 2 Comments

 

Ist es noch ein Fall von Synchronizität, dass ich in meinem Blogbeitrag über The Analog Sea Review vor knapp zwei Wochen über die Kulturtechnik des Umherschweifens schrieb und gerade einen Kurzfilm sah, in dem jemand davon erzählt, wie er sich mit dem Auto verirrte? Im Anschluss spricht die Regisseurin Emma Limon unter anderem darüber,  inwieweit sie von der Ästhetik aus David Lynchs Twin Peaks beeinflusst war, besonders von Szenen im Diner. „I once was lost“ changiert zwischen Arthouse, Dokumentation und Spielfilm, dauert knapp elf Minuten, lief in der Sendung Kurzschluss auf ARTE und ist bis 5.12.2024 in der Mediathek verfügbar.

 

 

Aus einem Feldweg kommt ein Mädchen
mit Fahrrad und Schimmel. Leichthändig

schiebt sie den Griff, hält sie die Zügel
hinter ihr das tänzelnde Pferd. Das flache
Licht aus den Niederungen, die weißen Wolken.
Ein Sekundenbild und mir fällt die Skulptur
Cloud Gate in Chicago ein, der gespiegelte Himmel,
unter dem ich mir beim Fotografieren
zuschaue, gleichzeitig oben und unten bin,
mich aber nicht wirklich sehe.
Dies alles hat nichts mit dem Mädchen zu tun,
nicht die Gedanken an Vermeer. Nur der Wunsch,
den Tag auf den Kopf zu stellen, ist real.
Pferd und Mädchen werden kleiner,
nach der Kurve habe ich sie verloren.
Bleibt der Moment. Splitter unter der Haut.
Der Gedanke, vieles wäre heute möglich, wäre leicht.

 

Aus: Barbara Zeizinger – Schon morgen wird alles gewesen sein. Gedichte. Pop Verlag Ludwigsburg 2023

 
 
 

 
 
 

Martina Weber: Dein Gedicht „Aus einem Feldweg kommt ein Mädchen“ ist mein Lieblingsgedicht aus deinem neuen Gedichtband. Schon das erste Bild mit dem Mädchen, die auf einem Feldweg unterwegs ist und mit einer Hand ihr Rad schiebt und mit dem anderen ein Pferd führt, löst viel bei mir aus. Ich finde es gar nicht so einfach, ein Rad mit einer Hand zu schieben, ich denke sofort an einen Freund von mir, der sein rotes Rennrad mit der linken Hand, die er in der Mitte des Lenkers hielt, durch Freiburg schob. Dann skizzierst du knapp die Umgebung und gelangst zur Cloud Gate Skulptur in Chicago, führst das etwas aus und bemerkst, dass es nichts mit dem Mädchen zu tun hat. Dass du dabei auch Vermeer erwähnst, lässt mich sofort an die Dienstmagd mit dem Milchkrug am Fenster denken und ich übertrage die Stimmung und das Licht aus diesem Bild in das Bild vom Mädchen mit Fahrrad und Pferd, obwohl es im Gedicht heißt, es gäbe keinen Zusammenhang mit Vermeer. Das ist ja der Trick der Verneinung: Etwas, was verneint wird, wird benannt und ist daher präsent. Im restlichen Teil des Gedichts folgen weitere Gedanken, die vom Eingangsbild gelöst sind, dann wird das Bild des Mädchens wieder aufgenommen, wie es verschwindet. Ein starkes Bild sind die Splitter unter der Haut. Die Wirkung der Begegnung ist geradezu körperlich. Ein Handlungsdruck. Der Schlusssatz setzt fort, dass Möglichkeiten spürbar sind. Das Mädchen mit dem Rad und dem Pferd hat Energie ausgelöst und etwas in Bewegung gebracht.

Barbara Zeizinger: Ich finde sehr schön, wie du das Gedicht analysierst. Ich kann jetzt nachträglich gar nicht sagen, wie ich auf diese ganzen Zusammenhänge gekommen bin. Jedenfalls nicht bewusst. Ich weiß nur noch, dass ich ähnlich wie du die Geschicklichkeit des Mädchens, es war ein eher zierliches Mädchen und ein großes Pferd, bewundert habe.

Martina Weber: Ausgangspunkt für deine Gedichte sind meist äußere Eindrücke oder Erfahrungen, die du dann mit Überlegungen, Gedanken oder Erinnerungen kombinierst, die nur teilweise mit den äußeren Eindrücken zu tun haben und wodurch die Gedichte ihre Tiefe entfalten und im Lesenden weiterwirken. In deinem Gedichtband „Morgen wird alles gewesen sein“ sind Anlässe deiner Gedichte beispielsweise eine Landstraße, auf der du sehr oft unterwegs bist, die L 3111), Ausstellungsstücke im Hessischen Landesmuseum und eine Reise in die USA. Für mich sieht es so aus, als ob dir die Themen geradezu zufallen und nie ausgehen.

Barbara Zeizinger: Das ist sehr schmeichelhaft, aber nicht ganz zutreffend. Manchmal habe ich den Eindruck, mir fällt überhaupt nichts ein. In Bezug auf viele Gedicht in dem neuen Lyrikband hast du allerdings recht. Bei den Gedichten über die Straße L 3111 habe ich geradezu Ausschau nach Ereignissen, Landschaften usw. gehalten, nach einer Werbetafel, einem Krötenzaun, einem Kreuz an der Böschung usw. Bei diesen Gedichten fiel es mir leicht, sie assoziativ weiterzuspinnen.

Martina Weber: Am 4. Oktober hast du in der Kunsthalle Darmstadt aus deinem Gedichtband gelesen und im Gespräch mit Kurt Drawert gesagt, dass du einen Ort veränderst, indem du darüber schreibst. Von Autorinnen und Autoren ist man eher die Aussage gewohnt, dass sie sich selbst durch das Schreiben verändern, aber einen Ort …? Wie meinst du das?

Barbara Zeizinger: Das bezog sich auf die Frage von Kurt Drawert, ob ich durch mein Schreiben einen Ort „töte“. Der Ort ist ja objektiv da. Aber wie ich oder jemand anders ihn wahrnimmt, kann sehr unterschiedlich sein. Das meinte ich mit verändern. Aber das muss keine feste Wahrnehmung sein, man kann Orte, je nach eigener Verfassung unterschiedlich empfinden. Jedenfalls ist es sehr subjektiv. Bin ich glücklich, kann mir ein objektiv hässlicher Ort gefallen und umgekehrt. Und natürlich verändere auch ich mich durch diese Begegnungen und Wahrnehmungen. Das schreibe ich in dem einen Gedicht: „Wenn der Mais geerntet sein wird, / die Dunkelheit wieder früher einsetzt, / werde auch ich mich verändert haben.“

Martina Weber: In einem Gedicht, das du einer verstorbenen Freundin gewidmet hast, zählst du prägende Lektüreerfahrungen auf: Marx, Erich Fromm und „Der Tod des Märchenprinzen“, einen autobiographischer Roman, der 1980 erschien. (Ich kenne das Buch, habe es aber später gelesen.) In diesem Gedicht erwähnst du auch die Leichtigkeit jener Jahre. Würdest du sagen, dass es die 70er Jahre waren, in der auch deine Studienzeit lag, die dich am meisten geprägt haben, was deine Lebenshaltung betrifft?

Barbara Zeizinger: Das ist ein sehr komplexes Thema. Von der englischen Schriftstellerin Hilary Mantel gibt es das Zitat „jede Generation hat ihre eigenen Leidenschaften“ und ja, natürlich haben mich die 70er Jahre geprägt, ich war jung, habe studiert, viel Neues entdeckt. Das war eine Zeit, in der wir optimistisch waren, dachten, wir könnten die Welt verändern. Heute denke ich darüber viel differenzierter. Das Gedicht ist in erster Linie eine Hommage an meine Freundin, mit der ich damals alle diese Gedanken geteilt hatte. Aber auf einer anderen Ebene erzählt es auch davon, dass wir in gewisser Weise typisch für die 70er Jahre waren, also nicht so einmalig, wofür wir uns hielten. Alle in unserer Umgebung lasen Marx, Erich Fromm, Mitscherlich, alle hatten Enzensbergers „Kursbuch“ abonniert. Wobei der „Tod eines Märchenprinzen“ eher mit Augenzwinkern erwähnt wird.

Martina Weber: Ich könnte mir auch vorstellen, dass du in den 70ern Gedichtbände gelesen hast, die für dich – jedenfalls zunächst – prägend waren, und zwar auch US-amerikanische Lyrik und vielleicht auch die Übersetzungen ins Deutsche, die damals auf den Markt kamen, beispielsweise Rolf Dieter Brinkmanns Herausgabeband „Silverscreen“ von 1969. Ein Gedicht aus einem anderen deiner Gedichtbände ist im Café der berühmten City Lights Buchhandlung in San Francisco angesiedelt.

Barbara Zeizinger: Brinkmann war ein Muss. Dazu kamen viele Lyriker und Lyrikerinnen, da würde ich vor allem Hans Magnus Enzensberger erwähnen, Erich Fried, Wolf Wondratschek, aber auch Hilde Domin und Rose Ausländer. Außerdem amerikanische Autoren der Beat Generation wie Allen Ginsberg mit seinem „Howl“. Jahre später habe ich bei einer USA Reise mit meiner Tochter „City Lights Books“ besucht und daneben das Lokal „Vesuvio“, in dem viele Fotos an die damalige Zeit erinnern. Da ist das von dir erwähnte Gedicht entstanden. Zuletzt habe ich übrigens die gesammelten Gedichte von Wisława Szymborska gelesen. Wunderbar!

Martina Weber: Du hast auch einige Romane veröffentlicht. Es würde mich nicht wundern, wenn du bereits an einem neuen Schreibprojekt arbeiten würdest.

Barbara Zeizinger: Das stimmt. Ich schreibe an einem Roman, der zur Hälfte fertig ist. Wie alle meine Romane erzählt er eine Familiengeschichte, diesmal über mehrere Generationen. Wie ich schon in der von dir erwähnten Lesung gesagt habe, beschäftigt mich in letzter Zeit (wahrscheinlich, weil ich inzwischen älter bin) die Frage, wie frühere Generationen gelebt haben, ob und inwiefern sie eine Wahl hatten, wie sie ihr Leben gestalten konnten. Gleichzeitig frage ich mich, inwiefern unser Leben durch gesellschaftliche Gegebenheiten geprägt und beeinflusst ist. Also die fast philosophische Frage nach Möglichkeiten und Einschränkungen der Selbstbestimmung. Das wollte ich auch oben bei den Ausführungen zu dem Gedicht über meine verstorbene Freundin ausdrücken.

 

Martina Weber: Vielen Dank, liebe Barbara, für die Einblicke in dein Schreiben und Leben!

Website von Barbara Zeizinger:
http://www.barbarazeizinger.de/

Anlässlich ihres Gedichtbands „Wenn ich geblieben wäre“ (2017) habe ich mit Barbara hier auf Manafonistas bereits ein Interview geführt.

 

Vor mehr als drei Jahren erhielt ich zum Geburtstag ein Päckchen mit einem ganz besonderen Magazin, das schon auf den ersten Blick aus einer anderen Epoche zu stammen schien. Eher ein Buch als eine Zeitschrift, Hardcover, im Postkartenformat, mehr als 200 Seiten, edles, haptisch angenehmes Papier, Fadenbindung. Auf der Vorderseite ein Gemälde in sanften Ocker- und Pastelltönen, eine weite, fast menschenleere Landschaft, als käme sie aus dem 19. Jahrhundert. Analog Sea Review wurde 2018 von Jonathan Simons und Janos Tedeschi gegründet und hat zwei Redaktionssitze, einen in Freiburg im Breisgau und einen in Austin/Texas. Das Journal, von dem bisher drei oder vier Ausgaben erschienen sind, wird ausschließlich durch rund 200 Buchhandlungen in den USA und in Europa vertrieben, nicht online. Es gibt zwar eine Website; diese enthält jedoch ausschließlich die Postadressen der Redaktionen. Zur Kontaktaufnahme – beispielsweise um den aktuellen, kostenfreien Newsletter mit Auszügen aus der kommenden Ausgabe zu bestellen – bleibt nichts anderes übrig, als einen Brief oder eine Postkarte zu schreiben. Die Zeitschrift selbst enthält Gedichte, Interviews, Essays und Prosa, teilweise in Auszügen, dazwischen Abbildungen von Gemälden. Das inhaltliche Zentrum ist das analoge, das echte Leben als Kontrast zum Digitalen mit seinen Surrogaten, grellen Oberflächen und Social Media- Überbietungswettbewerben. Analog Sea geht es um unmittelbare Erfahrungen, Begegnungen face to face, das Sonntag-Nachmittags-Gefühl der Leere, wie man es vor dem Internetzeitalter erleben konnte, Innerlichkeit, Selbstreflexion, (Tag)Träume, Einsamkeit und was daraus entstehen kann: Erfahrung und Kreativität. In zwei ausführlichen Interviews, einem auf Deutsch, einem auf Englisch, erläutert Jonathan Simons seine Anliegen, die sich nicht nur auf den individuellen, sondern auch auf den gesellschaftlichen Bereich beziehen.

Ausgabe zwei von Analog Sea Review las ich während der Pandemie, ebenso wie Walter Benjamins kleine Schrift Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Das stärkte meinen Widerstandsgeist, ich verweigerte einiges, in der Überzeugung, dass das Digitale keine echten Erfahrungen bringt, und ich nahm gravierende Nachteile in Kauf.

Um ein paar bekannte Namen aus Analog Sea Review zu nennen: Ausgabe zwei enthält Texte von Henry David Thoreau, Ray Bradbury, Robert Bly und Albert Einstein; in Ausgabe drei finden sich Texte von Virginia Woolf, Rainer Maria Rilke, Jorge Luis Borges, Wim Wenders, Susan Sontag, C. G. Jung, Robert Macfarlane und Ralph Waldo Emerson. Der Frauenanteil ist verschwindend gering. Ein Werk, auf das sich der Verleger Jonathan Simons gern bezieht, ist Guy Debords Die Gesellschaft des Spektakels aus dem Jahr 1967. Ausgabe zwei von Analog Sea Review veröffentlicht einen anderen Text von Guy Debord: La Dérive. Der Text wurde 1956 auf Französisch veröffentlicht, voilà. Es handelt sich um den Schlüsseltext einer Bewegung, die die Kulturtechnik des Umherschweifens in einem räumlichen Gelände, beispielsweise einer Stadt, beschreibt (hier ein Wikipediaeintrag dazu). In den ersten Zeilen von La Dérive gibt es einen Satz, der mir ein Aha-Erlebnis beschert hat: „The concept of dérive is inextricably linked to the effects of psychogeography (…)“ Ich bin sicher, dass Jon Hassell mit dem Konzept von La Dérive vertraut war, hatte er doch eines seiner Alben Psychogeography benannt. Die Titel einiger Tracks fügen sich ins Konzept des Drifting ein: Aerial View, Neon Night (Rain), Freeway, Midnight, Waterfront District, Favela, Emerald City, Cloud-Shaped Time.

2023 8 Sep

Turn your radio on (2)

| Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Comments off

 

Popsongs in der Gegenwartsliteratur gibt es eine ganze Menge. Und man sollte die Songs kennen, weil sie eine weitere Interpretationsebene bieten können. Gerade habe ich die Besprechung eines Prosatextes vorbereitet, der mit einem Song beginnt, der im Radio läuft: Sommer of ’69 von Bryan Adams.

 

Auch wenn der Drogenfahnder Ray Nicolette die Eigenschaften, die ihren Status als Benachteiligte ausmachen, klar benennt – sie ist eine Frau, ihre Hautfarbe ist schwarz, sie ist schon 44 Jahre alt und sie verdient als Stewardess einer kleinen mexikanischen Fluggesellschaft nur 16.000 Dollar im Jahr – Jackie Brown lässt sich nicht beirren. Im Jahr 1997 war es noch nicht üblich, dass das Flugpersonal in den USA sein Gepäck beim Sicherheitscheck durchleuchten lassen musste. Noch vor dem 9/11 wird Jackie Brown von Quentin Tarantino diese Praxis geändert haben.

Die Songs spielen hier eine große Rolle. Across 110th Street von Bobby Womack steht für den Wunsch, das Ghetto hinter sich zu lassen. Das bildet den Rahmen eines Films, in dem mehrmals Handfeuerwaffen zum Einsatz kommen, das Töten aber nicht so abstoßend dargestellt wird wie beispielsweise in Pulp Fiction.

Die schönste Szene spielt in Jackie Browns Wohnung, nachdem sie aus der U-Haft entlassen wurde, gegen eine Kaution, für die der Kautionsmakler Max Cherry verantwortlich ist, der sie am Vortag abgeholt und nach Hause gebracht hat. Wir befinden uns im Jahr 1997. Es geht hier nicht um den Austausch über Musik. Es geht darum, einen Bezug zueinander aufzubauen, einander zu vertrauen. Die Worte sind nur das eine. Die Gesten, die Stimmen, die Haltung der Körper sind es, die erzählen. Und die Gesichter. Entscheidungen werden in diesem Film binnen Bruchteilen von Sekunden getroffen, vor allem weichenstellende Entscheidungen. Wird etwas bereut, am Ende des Film? Sehen Sie in die Gesichter. Jackie Brown ist ein Kultfilm.

 
 

 
 
Der Film funktioniert nur im englischen Original. Hier ein Auszug aus einem Dialog:

Ordell: That shit works my nerves, you and that motherfucker being so buddy-buddy.

Jackie: Hey, if I wasn’t so buddy-buddy with that motherfucker, this wouldn’t work.

Ein Haus voller Gäste bringt Risiken, vor allem, wenn jemand dabei ist, der eigentlich auf der No-Go-Liste landen sollte. Am Ende wirbeln Schaumstückchen wie riesige Schneeflocken durch eine verwüstete Villa eines Hollywood-Studiochefs in Beverly Hills. Slapstick und komische Überraschungen, rasendes Tempo und Langatmigkeit, aber auch die melancholische Stimmung eines einsamen, ausgestoßenen Statisten, der in der Filmbranche Anschluss sucht, treffen in Blake Edwards Film The Party (auf deutsch: Der Partyschreck) zusammen. Bemerkenswert ist, wie hier der Zeitgeist der späten 60er Jahre eingefangen wird, inklusive der Gepflogenheit in der Filmbranche, Rollen an Frauen nur als Gegenleistung zu vergeben. Die Villa wirkt luxuriös, riesig und unüberschaubar, so wie die Flure in immer weitere Zimmer führen. Die technische Ausstattung ist exklusiv auf dem allerneuesten Stand und wird von einem Schaltbord im Wohnzimmer bedient, wodurch die Tretflächen über den geräumigen Wasserbecken im Wohnraum verschoben und ein Stimmungsfeuer in einer Schale entfacht werden können. An den Wänden hängen zahlreiche abstrakte Gemälde. Auch die Gastgeberfamilie selbst erscheint für die upper class repräsentativ: Der Sohn liegt bäuchlings im Schlafanzug auf seinem Bett, schießt – jederzeit einsatzbereit – Darts mit Gummipfeilen und trägt einen Soldatenhelm mit Camouflage-Gebüsch. Die Tagesdecke hat ein Ford-Design, neben dem Bett steht ein Telefon und auf einer Kommode lehnt ein Spielzeuggewehr. Die Tochter war unterwegs und kehrt mit einer Gruppe von Freunden zurück, mit dabei ein indischer Elefant, auf dessen Haut Hippiesprüche aufgemalt sind: „Go naked.“ „The World is flat.“ Gegen diese politisch nicht korrekte Verwendung nationaler Symbole seines Landes protestiert der Partyschreck Hrundy Bakshi. Um Peter Sellers einen indischen Touch zu geben, hat man seine Haut getönt und seine Augen mit Kajalstift umrandet. Außerdem spricht er so, wie man annimmt, dass ein Inder Englisch spricht. Im Jahr 1968 fand man das witzig. Heute würde es mit dem Label „kulturelle Aneignung“ versehen werden und die Sensitive-Reading-Abteilung würde das Filmprojekt stoppen. In der Schlussszene gibt es noch einen kleinen Trick, wie man nach einer Party eine weitere Verabredung arrangieren kann – und der seit Jahrzehnten erfolgreich angewandt wird.


Manafonistas | Impressum | Kontakt | Datenschutz