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2023 24 Dez

Such Ferocious Beauty

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Auch wenn ich in letzter Zeit eher sporadisch hier als Schreibender in Erscheinung getreten bin und bei so manchen Entwicklungen und Verwerfungen in diesem Blog außen vor blieb, so hoffe ich doch, dass es vielleicht den einen oder anderen gibt, der sich für meinem Jahresrückblick interessiert. Ich selbst war (bzw. bin noch) über die letzten paar Monate in meinem Hauptberuf als Regisseur in einem Spielfilmprojekt [mit starken dokumentarischen Anteilen, im Opernumfeld verankert] in München involviert, für mich eine überaus wertvolle Phase, da ich in den letzten zehn Jahren ausschließlich dokumentarische Filme im Bereich Musik, Kunst, Theater, Schauspiel gemacht habe und mein letztes Spielfilmprojekt (ebenfalls mit dokumentarischen Anteilen) bereits rund zehn Jahre zurückliegt. Ich wollte hier in diesem Blog gerne etwas mehr Einblick in diese Arbeitsprozesse geben, aber meine Zeit hat das leider nicht erlaubt (zumal ich immer parallel an einigen verschiedenen Projekten arbeite und auch noch als Übersetzer berufstätig bin).

Die Produktion an der Bayerischen Staatsoper, die den Rahmen für unsere Filmproduktion gibt, hatte gestern Abend Premiere (mehr Interessantes dazu hier); wir sind noch eine Weile mit der Filmproduktion beschäftigt – das Ergebnis wird voraussichtlich im Juni in den ARD-Mediatheken veröffentlicht. Ich würde gerne bis dahin in Form von Blogbeiträgen etwas mehr Einblick in die Arbeit bieten.

 
 


 
 

Mit Film-Jahresbestenlisten halte ich mich aktuell zurück, da ich gemerkt habe, dass meine Maßstäbe für die qualitative Einordnung hier nicht immer auf Gegenliebe stoßen (teils anscheinend sogar als Affront aufgenommen wurden). Wahrscheinlich ist dies ein wenig damit vergleichbar, wie jemand, dem an einer gewissen sprachlichen Qualität gelegen ist (als Autor/in, Literat/in, Texter/in oder auch „nur“ als versierte/r Leser/in), auch bei interessanten Themen nicht darüber hinwegsehen kann, wenn der Text sprachlich schlecht oder auch nur uninspiriert geschrieben ist (an dieser Stelle direkt „sorry“ für meine Texte). Dies gesagt, habe ich in der Tat nur sehr wenige wirklich langweilige Filme in diesem Jahr gesehen, dafür aber viele sehr empfehlenswerte. Der filmkünstlerisch vielleicht herausragendste unter vielen sehr sehenswerten ist wohl Martin Scorseses Killers of the Flower Moon — für jemanden wie mich, der ich mich seit den frühen Tagen meiner Kinoleidenschaft in das Werk Scorseses immer wieder intensiv vertieft habe und dabei sowohl große Meisterschaft als auch manierierte und unfreiwillig komische Filme fand, zählt dieser neue zum Besten, was die Kinokunst zu bieten hat. Und dass Scorsese in einem Alter von 80 Jahren noch einmal ein derart inspiriertes, souveränes Werk hinlegt, das zudem keineswegs altbacken oder altherrenmäßig daherkommt, hätte ich nicht für möglich gehalten.

Einen interessanten Roman möchte ich auch noch empfehlen: The Guest von Emma Cline. (Hier eine Rezension aus der SZ.) Wie ich beim Film immer besonders danach suche, dass wirklich filmisch (d.h. nicht literarisch oder dialoglastig) erzählt wird, so sprechen mich Romane immer dann besonders an, wenn sie auf Weisen erzählen, die ureigen literarische Mittel nutzen, wie sie etwa im Film nicht zum Einsatz kommen können. Dazu zählen oftmals (inspirierte) unzuverlässige Erzähler/innen, auch wenn das auf so subtile und irritierende Weise geschieht wie in The Guest. Ich bin etwas unentschlossen, wie ich den Schluss des Buches finde (reizvoll oder vielmehr unschlüssig?), vielleicht sollte ich das letzte Kapitel noch einmal lesen, aber wie Emma Cline häufig mit dem nicht Naheliegenden und mit dem Nebensächlichen, Flüchtigen, Leerstellenhaften auf Augenhöhe mit ihrer Hauptfigur erzählt, hat mich sehr angesprochen. Passenderweise fand ich in diesem Beitrag/Gespräch zum Buch eben folgendes Zitat dazu: „I was thinking that Emma Cline’s writing reminded me of Cat Power’s cover of Satisfaction, where she removed the parts that at first glance would seem like the important ones.“

 
 


 
 

Nicht ganz so herausragend, aber reizvoll, auch in der Hinsicht, wie eine Protagonistin (in diesem Fall eine junge Fotografin) als nicht immer glaubwürdige Ich-Erzählerin ihre Biografie darlegt, empfand ich Eliza Clarks Buch Boy Parts … wobei es mich erst recht neugierig auf Clarks zweiten Roman Penance (Guardian review) machte, dessen Prämisse und literarische Form ich enorm vielversprechend finde: „How true can ‚true crime‘ really be, she asks us, with every page of this original, provocative novel.“ (review: Confirms the novelist as one of our most exciting new voices) Heute plane ich, mit dem Roman zu beginnen.

Doch nun zur Musik. Ich muss gestehen, dass ich in den letzten zwölf Monaten, speziell in der zweiten Jahreshälfte, so unglaublich viele tolle Alben hören konnte, dass es mir extrem schwer fällt, mich auf eine „Bestenliste“ festzulegen; vor allem kann ich nur schwer eine Auswahl treffen. Dazu kommt, dass ich einige Alben, die ich sicher hervorragend finde, noch gar nicht gehört habe (die Rolling Stones etwa), und ich gerade vorgestern erst eine Ladung 2023er ECM-Alben gekauft habe, die ich entsprechend noch nicht kennenlernen konnte (Strands, Zartir, Scofield, Danish String Quartet, Pärt und einige mehr). Dafür habe ich diesmal endlich eine gute Handvoll aktueller Intakt-Alben erworben, die ich auch sehr schätze. Ein grandioses Album aus dem Vorjahr, das ich verspätet entdeckte und das nachträglich einen Platz in meinen damaligen Top 3 bekommen müsste, muss ich noch erwähnen: Songs of the Recollection von den Cowboy Junkies — eine Kollektion überaus inspirierter, nicht naheliegender Covers von Songs von David Bowie, Gram Parsons, den Rolling Stones, Neil Young, Bob Dylan, The Cure u.a. Grandios schon die Arrangements. 

 
 


 
 

Meine diesjährige Nummer 1 ist immerhin eine klare Sache, eine australische Band um die Sängerin/Songwriterin Romy Vager (RVG steht für Romy Vager Group), auf die ich nur durch einen beiläufigen Hinweis eines anderen Musikfreundes gestoßen wurde. Ich schaute mir auf seine Empfehlung das – in einer coolen Plansequenz gedrehte! –  Musikvideo ihrer Single Midnight Sun an und bestellte mir sofort das Album. Und hörte es in diesem Jahr häufiger als jedes andere. Musikalisch ist das sicher keine große Innovation, aber die Energie und der Witz in Romy Vagers Songs sind einfach famos.

 

  1. RVG: Brain Worms

    Melbourne’s post-punk quartet RVG boldly expands their sound with synths on their third album, Brain Worms, while staying true to their roots. Filled with catchy melodies, driving rhythms, and Romy Vager’s sharp, insightful lyrics, the album evokes the 80s college post-punk era rather than embracing contemporary genre edges. This new direction, characterized by lush orchestration, haunting melodies, and poetic lyrics, demonstrates the band’s growing maturity, solidifying their status as innovators. Brain Worms rewards repeated listens, unveiling depth and complexity over time, inviting introspection and reflection. It’s a sonic journey that transports the listener to a different post-punk era, showcasing RVG’s influence and innovation today. – The Fire Note Blazing Top 50 Albums of 2023

  2. Cowboy Junkies: Such Ferocious Beauty  – ranks among the best of the Cowboy Junkies’ work — you can feel the band challenging itself, thriving in the tumult it generates. (Scott McLennan)
  3. Meshell Ndegeocello: The Omnichord Real Book  –  „The premiere jazz label, Blue Note, is her new home (…) but (…) like Ndegeocello’s best music, it is an exhilarating blend of modern R&B, hip-hop, and the soul/singer-songwriter tradition that includes Stevie Wonder and Bill Withers. (…) the best set of Ndegeocello originals since her early run of albums between 1993 and 2003.“ (Will Layman)
  4. Depeche Mode: Memento Mori
  5. Sebastian Rochford / Kit Downes: A Short Diary  –  „a perfect mood piece that will resonate deeply with a broad array of listeners.“
  6. Jorja Smith: Flying or Falling  –  „quite an accomplishment and an excellent vehicle for the singer’s estimable talents. It’s a low-key yet unequivocal triumph.“ (Peter Piatkowski)
  7. Vril: Animist –  „Vril hones in on a dub techno styling that fuses old school Echospace/ Basic Channel minimalism and progressive house to great effect (…) few can match the soul that dwells beneath those sounds (…) fervently bearing the torch of dub techno, whilst also incorporating elements of ambient and experimental house music. (…) an immersive album that blankets the listener with blistering, recurring patterns and tones.“
  8. Irreversible Entanglements: Protect your Light  –  „By turns angry, celebratory, mournful, hopeful, here’s an album for complex times.“ (The Guardian)
  9. Jamila Woods: Water Made Us  – „The music takes on many forms, just like the water referred to in the album’s title. The songs are not just liquid, solid, and gas; they are blood, wine, and soul.“ (Steve Horowitz) 
  10. Nils Økland & Sigbjørn Apeland: Glimmer
  11. Anohni and the Johnsons: My Back was a Bridge for you to Cross
  12. Sofia Kourtesis: Madres  –  The Peruvian producer’s debut album is a shimmery collection of protest chants, club rhythms, and sunlit synths that testifies to dance music’s spiritual nourishment.“ (Steven Arroyo)
  13. Volker Bertelmann: Im Westen Nichts Neues / All Quiet on the Western Front
  14. Blur: The Ballad of Darren  –  What you can immediately say is that The Ballad of Darren feels like it was from their peak years.“
  15. Corinne Bailey Rae: Black Rainbows  –  „An album full of vigorous extremes (her most beautiful, most aggressive and most educational work) that showcases the multi-faceted talents of the reinvented 44-year-old artist.“
  16. Sylvie Courvoisier with Christian Fennesz, Wadada Leo Smith & Nate Wooley: Chimaera
  17. Lankum: False Lankum  –  „Ancient yet trailblazing, it will take you on a Shamanic journey so intense that you will come out the other side feeling like your soul has been washed.“
  18. Peter Gabriel: i/o
  19. PJ Harvey: I inside the old year dying
  20. Lakecia Benjamin: Phoenix   –  [L.B.] returns with a provocative, insightful, musically adventurous album centering on feminism and spirituality.“

 


 
 
 

Schnell die Gelegenheit ergriffen und den dritten und letzten Teil meines ausführlichen Interviews mit Carla Bley und Steve Swallow hochgeladen. Nachdem es im ersten Teil um die älteste ECM-Aufnahme und die erste Studioaufnahme von Swallow und Bley ging, quasi den „Urknall“ der ECM-Ästhetik und gewissermaßen den Ursprung von ECM, im zweiten Teil der Fokus auf den 1970ern und den ersten Aufnahmen von Carla Bleys Kompositionen für ECM lag, auf dem Album „Dreams so real“ von 1975, geht es nun in diesem dritten Teil, ausgehend vom Album Looking for America (2002), um Carla Bley als Komponistin, als „American composer“, wie sie sagt – und um die letzten drei Alben, die für ECM entstanden. Sie berichtet, wie sich für sie die Herangehensweise bei dieser späten Trilogie änderte und wie sich die Zusammenarbeit mit Manfred Eicher als Produzent in diesen letzten Jahren gestaltete.

 
 
 

 

2023 6 Okt

Musik aus dem hohen Norden

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Es ist (schon wieder) Oktober, die Tage werden merklich dunkler, der Herbst lässt sich nicht länger verdrängen. Hoch im Norden Europas vollzieht sich dieser Umschwung von den hellen Sommermonaten zur langen, dunklen Winterzeit in noch spürbar kürzerer Zeitspanne und auf eine meist erbarmungslosere Weise. Ab Anfang Oktober werden die Tage dort zusehends und enorm schnell kürzer, bis – je nachdem, wie weit nördlich vom Polarkreis man sich befindet – viele Wochen die Sonne kaum bis gar nicht mehr über dem Horizont zu sehen ist.

Ob es damit zu tun hat, dass Sverre Gjørvad seine letzten Alben mit Motiven von Helligkeit, Offenheit und Weite betitelte? Man müsste eigentlich erwarten, dass Odd Gjelsnes‘ im wesentlichen in Oslo beheimatetes Label Losen Records jetzt ein neues Album des Schlagzeugers parat hätte, denn seit Voi River im Herbst 2019 war dies jedes Jahr um diese Zeit der Fall. Gjørvad stammt zwar von der norwegischen Südküste, zog aber vor über 15 Jahren nach Hammerfest, in Europas nördlichste Stadt, wo die Polarnacht volle zwei Monate dauert. Aufgenommen hatte er die vier Alben allerdings jeweils im Sommer, ebenfalls in Nordnorwegen, in Tromsøs Kysten Studio; wenn das nordische Licht 24 Stunden lang das Land erhellt. Die vier Alben (nachdem Gjørvad nach dem Studium in Trondheim zuvor ein paar Alben bei anderen Labels und u.a. mit der Band Dingobats herausgebracht hatte) entstanden jeweils im Quartett mit Pianistin Herborg Rundberg, Bassist Dag Okstad und Gitarrist Kristian Olstad, hier und da erweitert um einen Gast mit einem Holzblasinstrument. Drei der Coverfotos stammen von Mats Eilertsen (der in der Vergangenheit in Gjørvads Band spielte).

Speziell Olstad ist mir in unterschiedlichen (nord-)norwegischen Alben schon mehrfach begegnet, und diese waren – auch im Sound – teils sehr unterschiedlich, wenngleich sein spezifischer Tonfall auf der Gitarre zuverlässig für spannende und einprägsame Hörerlebnisse sorgte. In dieser Band fügt er sich immer wieder elegant in ein sensibel austariertes, atmosphärisches Klangbild ein – das Album Elegy of Skies (2020) bietet da gute Beispiele, bei dem man sich streckenweise an ECM-Veröffentlichungen erinnert fühlt, zumal Gjørvad hier gelegentlich in der Tradition von Paul Motian zu stehen scheint, Olstad sich mal von Rypdal, mal von Aarset, mal von Frisell beeinflusst zeigt und gegen Ende Saxofonist Joakim Milder für einen Song vorbeischaut. Manchmal nimmt die Gitarre aber auch eine dominante, elektrisch effektvolle ein, man höre nur das weitaus kontrastreichere, ja rockigere Fast-Pop-Album Time To Illuminate Earth (2021), das offensichtlicheren Witz und deutlichere Kanten zeigt, ein Titel wie Massively Uncomfortable Rock (c’est la vie) lässt es erahnen. Überraschend auch, wie sich hier die vier Bandmitglieder mit ihren Stimmen ergänzen.

Apropos Pop: Gerne wirft Gjørvad ein einzelnes, eigenwilliges Cover zwischen seine ansonsten komplett eigenen Kompositionen ein, und man muss schon das Kleingedruckte lesen, um dies zu bemerken. Gut, ob es eine weitere, eher höfliche Einspielung von George Harrisons Here Comes The Sun (auf Voi River) gebraucht hätte …? Vermisst hätte sie sicher niemand. Ein Jahr später Mercy von Paddy McAloon (Prefab Sprout) ist dann schon reizvoller. Das nächste Album eröffnet die Band mit einer charmanten Version von XTC’s All of a Sudden (It’s too late) aus dem Jahr 1982, wobei Andy Partridges Gesangsmelodie vom Fagott übernommen wird. Unerwartet in der Tat. Und 2022 heißt die Platte dann zwar Here Comes The Sun, der eingestreute bekannte Songwriter ist hier jedoch Paul Simon (Dazzling Blue).

Auf Gjørvads bislang letzte CD, im Juni 2022 eingespielt und heute vor einem Jahr erschienen, scheint – nach vier Alben mit insgesamt 30 Eigenkompositionen – nun eine Zäsur zu folgen. Here Comes The Sun endet auch mit dem Titel Voi River (mit Saxofonist Eirik Hegdal als Gast wirkt der Song fast wie ein Frühlingstanz) und ist insgesamt sicherlich das sonnigste sowie auch das unaufgeregteste und „rundeste“ der vier. Mir scheint, dass hier dem Piano Herborg Rundbergs eine Art Hauptrolle zukommt. Und wie mir erst beim Nachlesen bewusst wurde, beziehen sich die vier Albumtitel natürlich auf die vier Elemente, auf das Wasser-Motiv, folgt mit den Skies die Luft, dann die (illuminated) Erde und zuletzt das Feuer. Sverre Gjørvad selbst schreibt, die vier CDs repräsentieren in seinen Augen auch die vier Jahreszeiten. Zwar konnte mich Voi River damals wenig begeistern (freundlich fomuliert), doch über die gemeinsame Zeit hin schien der Eigenanspruch der Band merklich gewachsen zu sein, und zusammengenommen sind die letzten drei Scheiben dann doch eine starke Trilogie mit durchaus unterschiedlichen Facetten.

 
 
 


 

Ja, weil alle Regisseure Manipulatoren sind. Sie versuchen uns Zuschauer durch ihre handwerklichen und künstlerischen Fähigkeiten dazu zu bringen, in ihren Filmen die Welt so zu sehen, wie sie wollen. Das misslingt schlechten Regisseuren und in schlechten Filmen. In mittelmäßigen Filmen kann es funktionieren, wenn sich Zuschauer und Kritiker mit Wohlwollen auf die Manipulation einlassen, obwohl sie sie durchschauen. Und es kann auf so ungewöhnliche Weise gelingen wie in „Breaking the Waves“, bei dem Kritiker (mehr als das Publikum) die Manipulation erkennen, benennen, sich zum Teil dagegen wehren und ihr am Ende trotzdem nicht entziehen können.

aus Achim Forst: „Breaking The Dreams – Das Kino des Lars von Trier“, Schüren 1998, ISBN: 3-89472-309-2

 

 

 

 

Früher, als ich anfing, den Weg des Film-Studierens zu beschreiten, durch etliche Kinobesuche und exzessives Studium von Filmkunst in den eigenen vier Wänden sowie dann auch mit Hilfe von Seminaren im Stuttgarter Filmhaus (wofür ich oftmals den nachmittäglichen Sportunterricht auf dem Weg zum Abitur schwänzte), war Lars von Trier einer der prägendsten Regisseure für mich, nicht zuletzt aufgrund seiner „Europa-Trilogie“, deren erster Teil, „Element of Crime“ aus dem Jahr 1984 einer bekannten deutschen Band zu ihrem Namen verhalf und deren dritter Teil, „Europa“ (1991), viele Jahre lang „Lieblingsfilm“ meiner persönlichen Bestenliste war. Mein erstes Praktikum nach dem Abitur machte ich dann auch am Stuttgarter Filmhaus, als einer der Mitarbeitenden am baden-württembergischen Filmfestival „Filmschau Stuttgart“. Als Abschlussgeschenk bekam ich vom Festivalleiter, damals ein junger Mann von stolzen 27 Jahren, das oben zitierte Buch, da er wie ich damals „Fan“ von Lars von Triers Schaffen war.

Mit „Breaking the Waves“ (auch angeregt durch Erfahrungen bei der Produktion der Serie „Riget“/ „Geister“) begann in Triers Schaffen eine neue Phase, die sich u.a. darin äußerte, dass er den Schauspielern mehr Raum geben und weniger exzessiv die technische Perfektion ausstellen wollte, für die er damals bekannt war. Für „Europa“ hatte er im Cannes-Wettbewerb drei Preise bekommen – den Sonderpreis der Jury, den „Technik Grand Prix“ und einen Preis für den besten künstlerischen Beitrag – und hatte den Ruf eines sehr technischen, verkopften Kunst-Filmemachers, dessen Filme zwar Bewunderung ernteten und Eindruck hinterließen, doch wollte er daraufhin auch als Autorenfilmer eines emotionalen, einnehmenden Publikumskinos eine größere Zuschauerschar erreichen und als Schauspieler-Regisseur respektiert werden. Lange hatte er wohl eher großen Respekt bis fast Angst vor Schauspieler/innen, vermutlich weil sie ihm nicht so kontrollierbar schienen wie der ganze Technikapparat, das Zitieren der Filmgeschichte und die Filmsprache, deren Anwendung er sich damals bereits bis zur Perfektion angeeignet hatte – wie man anhand von „Europa“ deutlich sehen kann: Der Film ist gleichermaßen Hitchock-Hommage (sowohl was den perfekten Einsatz von Thrillerelementen in manipulativer Hitchcock-Tradition betrifft, als auch im Hinblick auf die extrem komplexe, teils bis in Experimentalfilm-Aspekte hineinreichende Filmsprache) wie intellektuell-distanzierende Befragung dieser ganzen Referenzen, Erzählmittel und Geschichte (der Filmgeschichte wie auch der mitteleuropäischen Geschichte am Ende des Zweiten Weltkriegs). Zur Erinnerung: Hitchcock hat ja mit Truffaut ein ganzes Buch lang über die Manipulationsarbeit des Filmregisseurs gesprochen.

 

 

 

(links „Europa“, rechts „Element of Crime“ )

 

Natürlich – darf man hier einwerfen – stand Lars von Trier an diesem Punkt seiner Laufbahn keinesfalls der Sinn, zu einem typischen Illusionskino überzugehen, welches auf einmal all die intellektuellen und selbstreflexiven Aspekte seiner künstlerischen Position in die Tonne treten oder verraten würde, nur um sich einer mainstreamigen Traumfabrikation oder Märchenerzählerei (etwa in Form der klassischen Filmgenres) zu Unterhaltungszwecken zuzuwenden. Er musste also einen raffinierten Mittelweg finden, der ihm beides zugleich ermöglichte.

Mit „Breaking the Waves“, das gleichermaßen Melodram wie Melodram-Sezierung ist, gelang Lars von Trier der angestrebte Sprung zum großen Publikum, und der Film war zugleich ein weiterer heißer Kandidat für die Goldene Palme, musste sich dann aber (noch einmal) mit dem „zweiten Preis“, dem Großen Preis der Jury zufriedengeben. Bekommen hat Trier die Palme dann erst mit seinem übernächsten Film, „Dancer in the Dark“, dem man eigentlich vor allem ankreiden kann, dass er das Erfolgsrezept von „Breaking the Waves“ noch einmal, mit etwas anderen Gewürzen (etwa mit miniDV statt mit 35mm und mit Musicalszenen als Verfremdungseffekt), gekonnt aufkocht – und kaum mehr als eine geschickte Variation darstellt, zumal eine letztlich weniger zwingende.

Als ich „Breaking the Waves“ damals beim Kinostart im Kino in Stuttgart sah, war ich gleichermaßen begeistert wie irritiert, ebenso emotional mitgenommen wie auch verärgert – und so scheint es wirklich dem größten Teil der Besucher aller Trier-Filme zu gehen. Ich erinnere mich, welche unglaubliche Wirkung der Film damals in der Filmwelt hatte und wie er sehr viel diskutiert wurde. Und die Musik, die in diesen sehr artifiziellen, Brecht’schen Kapitelbildern zum Einsatz kommt und den Zuschauer ebenso brüsk aus der emotionalen Handlung herausreißt wie ihm direkt ankündigt, was nun als nächstes geschehen wird, hat mich (wahrscheinlich auch, weil ich die durch die Generation meiner Eltern von Kind auf kannte) nachhaltig berührt und ist mir immer stark in Erinnerung geblieben. Ein weiteres, deutliches Element zum Durchbrechen der Vierten Wand sind die regelmäßigen Blicke der Hauptfigur Bess bzw. der Hauptdarstellerin Emily Watson direkt in die Kamera. Als Filmstudent oder Schauspieler/in lernt man früh, dass man dies in jedem Fall vermeiden soll es sei denn, man will die Illusion und Identifikation (unter-)brechen und den Zuschauer in seinem Sitz gewahr werden lassen, dass er hier ja nur ein Schauspiel zu sehen bekommt, eine eigens für ihn mühsam aufgebaute Illusion einer anderen Welt oder Realität. Die Zuschauereffekte des erzählerischen Mittels des Blicks direkt in die Kamera sind, für den Erzähler, schwer kontrollierbar; zumeist wird der sich in seiner Außenposition sicher wähnende Zuschauende sich dieser Position bewusst, vielleicht sogar frustriert darüber, möglicherweise erleichtert, eventuell aber auch verärgert über das Ärgerliche, Anstrengende, Alberne oder hanebüchen Ausgedachte, was ihm gerade dargeboten wird; in gewisser Weise demonstriert der Erzähler – hier: der Regisseur – seinem Publikum, dass es ihm auf den Leim gegangen ist, und er macht diese Manipulation deutlich.

In einem Essay (Seminararbeit) über die Kapitelbilder in „Breaking the Waves“ greift Kathi Hofmann diesen V-Effekt auch auf:

 

Außerdem schreibt [Manfred Pfister] dieser „Form der Episierung eine anti-illusionistische Funktion“ zu, die eine Identifikation oder Einfühlung des Rezipienten in die Figuren erschwert und somit eine distanzierte, kritische Haltung begünstigt. Das vermittelnde Kommunikationssystem erlaubt überdies eine „direktere Steuerung des Rezipienten, die der kritisch-didaktischen Intention entgegenkommt.“

 

Ich erinnere mich gut, wie wir an der Filmakademie in einem Kameraseminar bei Reinhold Vorschneider die extrem konstruierte Kameraarbeit von Lars von Triers Filmen jener Zeit auseinander genommen haben – um uns zu vergegenwärtigen, dass dieser Stil keineswegs Ergebnis einer dokumentarischen, spontanen Herangehensweise ist, sondern auch diese „Effekte des Dokumentarischen“ [Ich glaube sogar, das dreiwöchige Seminar trug diesen Titel, zumal wir alle im Praxisteil, dem Drehen von Kurzfilmen auf Zelluloid verschiedenste solcherlei Erzählmittel austesteten.], des Zufälligen sehr überlegt als raffinierte Mittel geplant und eingesetzt werden. Trier bemühte sich in diesen Filmen in allerlei Hinsicht, die Illusion eines vermeintlich nicht geplanten, nicht beherrschten Geschehens aufzubauen (siehe auch: „Idioten“, „Dogville“ usw.), um so den Zuschauer zu suggerieren, dass dies alles „echt emotional“ wäre – nur um diese Illusion dann immer wieder zuverlässig zu zerstören. Letztlich hat er genau dies seit damals immer wieder recht ähnlich weitergeführt, mal stark variiert („Nymphomaniac“, „The Boss of it all“), oftmals eben aber auch unmittelbar an das anknüpfend, was er mit „Breaking the Waves“ erstmals so geschickt erarbeitet hatte. Bspw. findet man in „Melancholia“ und auch „Antichrist“ wiederum die gleiche Handkamera-Ästhetik, verbunden mit einer scheinbar emotional in Auflösung befindlichen Hauptfigur und Lebenssituation – und dann bricht er immer wieder die vierte Wand, um uns zu zeigen: Lasst euch nicht hinters Licht führen, denkt nach, ob ihr glauben wollt, was ich euch hier an Haarsträubendem auftische! Alle Trier-Filme haben neben der extrem konstruierten, pseudo-realistischen Handlung immer diese formale Ebene, in der das Erzählte am laufenden Band reflektiert, hinterfragt, in Frage gestellt, gebrochen, oftmals sogar komplett aufgelöst wird.

Das Verrückte ist, dass, selbst wenn diese Films noch so unfassbar offensichtlich konstruiert sind, streng genommen nicht einmal mehr glaubwürdige, realistische Figuren haben, sondern sogar ausgestellte Figuren-Typen vorführen, ein frappierend großer Teil des Publikums dennoch emotional mitgeht, also mit den Figuren leidet (meist sind es bekanntlich Frauenfiguren). Der ganze Gag ist ja schließlich, dass die Filme genau deswegen erfolgreich sind – obwohl jedem mitdenkenden Zuschauer ja sowas von klar ist, dass uns eine total konstruierte bis hanebüchne Geschichte aufgetischt wird. Ich bin mittlerweile sicher, dass genau das der Punkt ist, an dem sich Triers Publikum in die Bewunderer und die Verärgerten scheidet; er führt uns immer wieder vor, wie einfach wir doch manipulierbar sind.

Trier ist freilich nicht der einzige Autorenfilmer, der Wert auf eine solche selbstreflexive Haltung legt; der Normalfall ist das Sichtbarmachen der Manipulation im Kino und in Serien keineswegs. Michael Haneke etwa betonte häufig, dass er es wichtig findet, dass sein Publikum in jedem seiner Filme die Gelegenheit bekommt, sich bewusst zu werden, dass ihm eine Fiktion präsentiert wird; man findet solche Elemente in allen seinen Filmen, markantestes Beispiel sind sicherlich die Momente in „Funny Games“, wenn die quälenden und mordenden jungen Männer den weiteren Handlungsverlauf besprechen, sich verschwörerisch ans Publikum wenden und in einer Szene sogar mit Hilfe einer Fernbedienung die Filmhandlung zurückspulen, um sich beim zweiten Mal anders verhalten können. RW Fassbinder stellte die Brechtsche Distanz unter anderem durch artifizielle, offensichtlich gestelzte, nicht naturalistische Theatersprache her, in Christian Petzolds und Atom Egoyans Filmen kommen beispielsweise Bilder von Überwachungs- bzw. Videokameras zum Einsatz, auch sprechen die Figuren ihr Spielen oder die Rollen, die sie verkörpern, oft selbst an. Besonders raffiniert ist das Deutlichmachen des Manipulierens von audiovisuellen Erzählungen aktuell in Christopher Nolans „Oppenheimer“ zu sehen. Letztlich würde ich sogar so weit gehen zu sagen, dass genau dies zentrales Thema des Films ist: Aufzuzeigen, dass jede Meinung, jedes Urteil, jede Geschichte, jede Nacherzählung oder Bebilderung geschichtlicher Ereignisse, die uns die audiovisuellen Medien (bzw. die dahinter steckenden Erzählenden) glauben machen wollen, nichts anderes als eine von bestimmten Interessen manipulierte ist.

2023 21 Jun

Solstice (Last Two Inches Of Sky)

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As I am just now finding out the most affordable travel options for my trip to Kristiansand for this year’s „Punkt Festival“, I am also working on some photos and videos for the new duo album Eivind Aarset and Jan Bang are going to present on the festival’s final night. The new album, „Last Two Inches Of Sky“, is quite a departure from their previous work, and the two invited a number of diverse international guests into the studio to contribute to this new album. And they are going to welcome most of these guests (and more) at Punkt this year. It is going to be an exceptionally rich three days for the festival with musicians from many different countries, generations, and musical backgrounds. So I am looking forward to travel to Kristiansand – by train and ferry again, this time taking along my bike as well – with one of my oldest friends, who I am sure will be invigorated by the music and by his first actual trip to Norway (even if it’s only the southermost tip of the multifarious country).

I met  with Eivind and Jan a few of weeks ago to take some photos and ask them about their new album; here’s a shortened and condensed version of our talk.

 

 

 

 

ijb: You did two duo records together before, as well as many other collaborations and concerts throughout the years. What was your starting point this time to reach these very different results? 

 

JB: We had done „Dream Logic“ that I produced, Eivind’s record on ECM. And after that, „Snow Catches on her Eyelashes“ came out as a duo record. We had been exploring different atmospheres on that album, mostly improvised, but also composed in the studio. This time we wanted to come from a different angle. We wanted to make something very rhythmical. I had just bought an album of new electronic music from Congo. And the very high tempos were something that both of us really enjoyed. So that was kind of the starting point. 

 

On your previous records, rhythm is never that much in the center of the music. So it was a different process this time? How did you work on these rhythms?

 

EA: Absolutely different. With „Dream Logic“, the starting point was finding new ways to use the guitar. Through the live gigs we found ways of playing together, which we developed further on „Snow Catches“. The starting point [on this new record] was like an experiment. Three or four pieces came out really quickly. But then we spent lots of time [on developing more music] afterwards. The inspiration came not only from African music, but our common work with Jon Hassell has also been an inspiration on this new album to go into a much more rhythmical direction, not necessarily in a metrical way, also parallel rhythms, sometimes different tempos at the same time.

 

From working with Jon Hassell what could you take up during the making of this record?

 

JB: Patterns. Jon was really focused on patterns, but in different tempos. He would have one pattern going in a certain way and another pattern going in another way, which is very close to nature. If you listen to birds singing [for example], you can hear that this is very much part of Jon’s idea – you have one bird singing, then another bird singing [something else] – a call and response thing, not in the jazz sense where you play something and mimic it, but a very natural way of using rhythm. That is basically what his his work with tape loops is based on. He worked closely with Terry Riley and LaMonte Young and of course Brian Eno. And the way that they developed this loop thing, coming out of minimalism, has proven very interesting for us.

EA: We didn’t have drummers on our previous duo albums. Now Adam Rudolph is playing percussion on most of the tracks, Anders Engen is playing drums. That also added a totally different vibe than before.

JB: Audun Erlien did some overdubs on bass, and we played some of the recordings live together in the studio. And we traveled to New York to record Nona Hendryx [former singer] of Labelle. And that has become a very fruitful collaboration. Then there is also Tim Elsenburg of Sweet Billy Pilgrim.

EA: And Gianluca Petrella from Italy playing trombone on one track.

 

 

 

 

When I was listening to the album, I instantly thought of „Remain in Light“, and Jon Hassell was also influential on Talking Heads‘ music back then. I don’t remember if he actually played on „Remain in Light“, but I think he was asked to?

 

EA: He played on at least one track.

JB: „Houses in Motion“.

EA: And Nona Hendryx is on „Remain in Light“ as well.

JB: Yes, Jon Hassell was very influential, both for Eno and for David Byrne. So they decided to do „My Life in the Bush of Ghosts“ together, which was very much based on Jon’s ideas. And then things happened, and for different reasons they decided to do it as a duo. But Jon’s ideas and philosophy is something that is part of both Eivind’s and my DNA. We come from that way of thinking and we really respect his philosophy. And I think he has brought so much to the table – as a musician, but also as a music philosopher, not in words necessarily, but with his actions in music. „Remain in Light“ is of course a result of that. Jon, David Byrne, and Brian Eno, they were hanging out for two or three years in New York around that time, exploring ideas. And at least Jon was presenting a lot of music to the others, sort of global music.

EA: Yeah. These three albums they made within one year – „Remain in Light“, „My Life in the Bush of Ghosts“ and „Possible Musics“ under Jon’s name, which was also with Brian Eno – all of those are really influential for me.

JB: And they use tape loops. The tape, depending on how big the loop was, would go out of the control room into the studio, and they would use forks, mic stands and whatever to hold these tapes in order to make the tape go round and round. And of course with tape, most of the time it’s not in sync. So you would create these types of rhythm that you could not necessarily count as one piece or one rhythm, but multiple rhythms or multiple tempos. These are some of the of the ideas from the starting point for this new record, „Last Two Inches of Sky“. There’s so still so much to explore. Things that are outside of these type of systems. It belongs more to our imagination, to our way of breathing and talking and walking and listening to things that surround us.

 

Hearing you play live yesterday, it’s fascinating to see and hear how much of the music you actually develop in the moment. I have a feeling that you are building on ideas that you have explored before, but then things come up there and then and it might end up very differently in every performance. Last night’s concert worked so impressively as a long piece, even though those are not actually pieces that you thought out before. 

 

JB: Right. That kind of being in the moment is is so important, for us both, not to to present an idea of something. You could present a composition, but then you could immediately leave that and go into a more open forum, a more open improvisation. And that happened a lot yesterday. The things that for the audience may have seemed composed were not pre-composed at all. They were composed in the moment. And that is also how we work in the studio. We compose in the moment through our improvisations. So the improvisation, to me at least, is composition. And being in that moment is something that has to do with preciseness to try to be as precise as possible and not to project our inner emotions towards the audience, because the music in itself is can be so powerful that you don’t really need that.

 

That type of freedom that you experience in improvisation, with the two of you playing together, trying to be in the moment and finding out what to do next, can be great in a concert. But how is it possible to achieve that same quality on a record in a process that involves a lot of people, even in different studios. You invite them individually, you do overdubs, or you travel to New York to record them. That’s more like putting many things together, like an assembly, isn’t it?

 

EA: The starting point might be very quick, but then we add stuff. That’s the difference. I don’t criticize myself when I’m playing [a concert]. When I’m improvising, I’m in the moment, not asking ‚is this good taste or bad taste?‘ But in the studio we have the possibility to decide, [if something]  ‚is maybe too far in that direction‘. And we add  different improvised layers and then make choices, also the choices of bringing in other people, like, ‚Let’s check out how this would work.‘

JB: In a way that’s a very natural way of working for us. It’s like the blood flow flowing through your body in a natural way. And if you capture something that is of some kind of value, at least to ourselves, the blood runs a little bit faster.

EA: Yeah.

 

 

 

2023 23 Apr

Schaffnerdeutsche Gründlichkeit

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„Karl stand von seinem Platz auf und ging zur Zugtür. Während die anderen Mitfahrenden beim Halt des Zugs ausstiegen, rüttelte er hilf- und ratlos an der Zugtür, schaffte es nicht, sie zu öffnen. Erst als alle anderen Passagiere auf der anderen Seite des Zuges ausgestiegen waren und die Zugbegleiterin bereits zum letzten Mal zum Einsteigen aufforderte, verstand er: Bei der Durchsage war vergessen worden, darauf hinzuweisen, dass der Ausstieg nicht rechts gegen die Fahrtrichtung war, sondern in Fahrtrichtung! Eilig packte er sein Gepäck zusammen und hastete auf die andere Seite des Zuges, und gerade so gelang es ihm, noch rechtzeitig den Bahnsteig zu erreichen, bevor der Zug die Türen hinter ihm schloss und weiterfuhr. Natürlich schrieb er eine Beschwerde an die Deutsche Bahn, die ihn so lange im Unklaren gelassen und versäumt hatte, die Passagiere darauf hinzuweisen, dass der Ausstieg natürlich rechts »in Fahrtrichtung« war!“

Fun Fact: Lange Zeit standen immer rund 40% der Zugpassagiere auf der falschen Seite zum Ausstieg und rüttelten erfolglos an der Tür. Erst als die übrigen Fahrgäste auf der anderen Seite ausgestiegen waren, verstanden sie verärgert, dass mit „Ausstieg rechts“ nicht „gegen die Fahrtrichtung“ gemeint war; sie mussten ihr Gepäck zusammensuchen und konnten es gerade so noch rechtzeitig auf den Bahnsteig schaffen, bevor sich die Türen wieder schlossen. Die vielen Beschwerdebriefe veranlassten die Deutsche Bahn dazu, dass seither „in Fahrtrichtung“ dazugesagt werden muss. Deutschland nimmt hier eine Vorreiterrolle ein; in den meisten Ländern der Welt besteht dieses Problem bis heute.

Um den Aufwand bei jeder Durchsage wieder reinzuholen, wurde den Zugbegleiter/innen stattdessen die Verwendung von Verben bei den Durchsagen untersagt. Deshalb ist jede/r Durchsagende jetzt strikt dazu angehalten „Sehr geehrte Damen und Herren, unser nächster Halt dann in wenigen Minuten [Frankfurt Hauptbahnhof]. Die Ankunft dann voraussichtlich 13 Uhr 44.“ / „Werte Fahrgäste, der Ausstieg hier in Fahrtrichtung rechts.“ / „Die Abfahrt 12 Uhr 37 von Gleis 7.“ zu sagen. Durch die somit eingesparte Zeit kann sichergestellt werden, dass die Durchsage noch rechtzeitig bis zum Stillstand der Züge abgeschlossen wird.

Witzig wär’s ja schon mal, wenn mal einer die Durchsage „Ausstieg heute ausnahmsweise mal nicht in Fahrtrichtung rechts, sondern gegen die Fahrtrichtung rechts“ machen würde (oder für die nicht deutsch sprechenden Touristen im Zug: „Exit not on the right in direction of travel, but on the right counter to the direction of travel“). Interessant, dass beim Auto- oder Fahrradfahren auch niemand dazu sagt „in Fahrtrichtung rechts abbiegen/einsteigen“. Könnte man ja mal machen, so im Navigationssystem z.B.: „An der nächsten Kreuzung gegen die Fahrtrichtung rechts abbiegen.“ – Oder beim Gehen: „Gehen Sie bis zur nächsten Kreuzung, und dann in Laufrichtung links.“ Oder beim Menschsein allgemein: „Gib mir deine rechte Hand in Blickrichtung.“ Beim Arzt: „Guten Tag, ich habe Schmerzen im rechten Fuß.“ – „Meinen Sie den rechten Fuß in Laufrichtung oder gegen die Laufrichtung?“

2023 17 Apr

This Floating World

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Roger Eno spielte im „Silent Green“, einem ehemaligen Krematorium, das seit ein paar Jahren als Ort für viele, teils sehr unterschiedliche Veranstaltungen genutzt wird. Das JazzFest fand in einem Jahr  (einem Umbaujahr des Hauses der Berliner Festspiele) hier statt, das Avantgarde-Elektronik-Label Raster nutzte die große Betonhalle für ein Wochenende überaus eindrücklicher Konzerte zum 25. Labeljubiläum (spektakulär Franck Vigroux‘ Atotal-Perfomance), eine Jubiläumsveranstaltung mit Michael Rother und Gästen, die Transmediale mit Ausstellungen und einer Irmin-Schmidt-Filmpremiere oder auch eine Wiederaufführung von Béla Tarrs siebeneinhalbstündigem Filmklassiker Sátántango mit neuer Musik von verschiedenen zeitgenössischen experimentierfreudigen Musiker/innen … und viele weitere nationale und internationale Musikprojekte zwischen den Stühlen und mit speziellen Programmen und Projekten kann dort regelmäßig erleben – Irreversible Entanglements, Blixa Bargeld und Teho Teardo mit Streichern, Michael Gira mit Gästen, Lankum, Xiu Xiu und einiges mehr.

 

 

Die Konzertankündigung von Enos Programm mit Stücken seiner Deutsche-Grammophon-Alben hatte ich als Darbietung mit Klavier und Streichern gelesen; geboten wurde allerdings ein Solo-Piano-Abend. Roger spielte ineinander übergehend zahlreiche Stücke aus seiner langen Karriere, von ganz alten Stücken aus dem Jahr 1983 bis zu noch unveröffentlichten, die er nächste Woche im Studio in Berlin (wieder für DG) einspielen wird. Dabei saß er fast im Dunkeln, begleitet von einer Videoprojektion. Oder vielleicht darf man auch sagen: Er begleitete den über ihm projizierten „Film“. So erläuterte er es immerhin selbst. Und beim Spielen schaute er durchweg auf die Leinwand. Zusätzlich hat er sich beim Soundcheck einen Spiegel auf die andere Seite der geschlossenen Flügels stellen lassen, um eine Nackenverspannung beim stetigen Hoch- und Nach-Hinten-Schauen zu vermeiden, wie er nicht ohne Humor sagte. Letztlich schaute er während des Auftritts dann doch immer nach oben.

Als er die Bühne zum Konzert betritt, eine Flasche Bier in der Hand, erläutert er erst einmal, dass sich bitte niemand mit Husten zurückhalten solle. Er höre nämlich viele klassische Aufnahmen, auf denen Leute im Publikum ewig zur Hustenvermeidung röcheln würden (wie er eindrucksvoll imitierte). Bitte also ordentlich husten. Gerne auch direkt aufspringen und „Here I come!“ ausrufen. Und falls man zwischendurch zur Toilette wolle, es seien mit Sicherheit Angestellte im Saal, die wüssten, wo man hinzugehen habe. Ob sich die Gäste vielleicht doch noch schnell auch ein Bier holen wollten, fragt er, denn er werde nun für eine Weile sehr ruhige Klaviermusik spielen. Er habe Aufnahmen in der Gegend, in der er lebt, gesammelt und zu einem Film montiert, damit man was für Auge habe. Als „Film“ gehen die teils sehr stimmungsvollen Naturaufnahmen, alltäglichen Miniaturen und Fotos, sehr langsam ineinander überblendet, vielleicht dann doch nicht ganz durch, aber um die präsentierte Musik persönlich zu unterstreichen und dem Konzertbesucher in der Tat eine gute Blickrichtung fürs Auge und fürs Treibenlassen in oder vielmehr mit den Melodien zu bieten, ist die gut einstündige Projektion dennoch sehr wirkungsvoll.

 

 

Roger lässt es sich auch nicht nehmen, beim Spielen der Stücke mit durchweg abendlicher, wenn nicht gar nächtlicher Stimmung über einen Verspieler zu lachen, mit einer Hand sein Bier zu trinken und zwischendurch auch mal innezuhalten, um dem Publikum ein paar Erläuterungen zu den Bildern mitzugeben, sei es zu einer nebelverhangenen Landschaftsaufnahme nahe der englischen Küste oder zu einem wiederholt zu sehenden brennenden Klavier; dieses hatte er, seit er 15 war, also fast 50 Jahre lang, doch als es beim besten Willen nicht mehr zu stimmen war, musste er es vor einigen Wochen umbringen, und so verewigte er es in Form dieses Films beim Abbrennen und kann es nun weiter bei seinen Konzerten dabei haben.

Die vielen Stücke gingen fließend ineinander über und ergaben so eine durchgehende, lange Stimmung statt vieler kleiner Miniaturen. Nur selten konnte man Übergänge oder gar gesetzte Brüche ausmachen. Die Jahrzehnte verschwimmen in dieser langen musikalischen Lebensreise. Erst als zweite Zugabe gab er dann überraschender Weise einen alten, heiteren Jazzschlager – Accentuate the Positive (Arlen/Mercer, 1944) – zum Besten, den er, weiter klavierspielend, durchaus überzeugend sang (nicht ohne das Publikum vorher darauf einzustimmen, wir dürften uns glücklich schätzen, dass er kein Gesangsmikro auf der Bühne habe), bevor er sich mit „Let’s hope for a better world“ von der Bühne verabschiedete.

Vor dem Konzert habe ich mich ein wenig mit ihm unterhalten und versucht, ein paar gute Fotos zu machen (was nicht ganz einfach war, da er wirklich fast im Dunkeln spielte). Auf die ihm eigene, englisch humorvolle Weise erzählte er, dass er gerne mehr Konzerte mit seinem Bruder  geben würde, doch der würde bekanntlich lieber ewig in seinem Studio basteln, er selbst hingegen habe mittlerweile große Freude am Spielen vor Publikum, nicht zuletzt auch durch den Erfolg, der ihm durch die Ehre, bei Deutsche Grammophon zu veröffentlichen, zuteil wurde. Das gemeinsame Album Mixing Colours – das erste, das gleichberechtigt mit seinem Bruder entstanden sei – halte er für einen künftigen(?) Klassiker, auf den man noch in ferner Zukunft als ganz besondere, nachhaltige Momentaufnahme der Corona-Zeit blicken werde.

Schade nur, dass die Konzerte mit Streichern nur in London stattfinden. Roger meinte zwar, er sei wenig glücklich über das, was in seinem Heimatland in den letzten Jahren so geschehe, es sei im Wesentlichen die küstennahe Landschaft seiner Heimatgegend, die ihn noch dort halte.

 

 

2023 16 Apr

Im Exil

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Im März 2022 floh Silvestrov mit seiner Tochter und seiner Enkelin aus seinem Zuhause in Kiew, wo er seit seiner Geburt 1937 lebte, nach Berlin. Dies stellt Tatjana Frumkis ihrer Einführung im Beiheft der zuletzt bei ECM erschienenen CD Maidan voran, einem Zyklus von Chorwerken, die ab 2014 als Reaktion auf den aktuellen Konflikt zwischen der Ukraine und Russland entstanden. Er habe nichts als einen Koffer mit noch unveröffentlichten Manuskripten seiner Kompositionen aus seiner Wohnung mitgenommen. Ohne deutsche oder englische Sprachkenntnisse hält er sich seitdem in Berlin auf und wartet auf das Ende des Krieges.

Erstmals gehört habe ich Silvestrovs Musik vermutlich auf dem Album Der Bote, das im Dezember 2000 aufgenommen wurde. Es ist eines meiner allerliebsten Klavieralben, sicherlich auch, weil Alexei Lubimov darauf eine sehr eigene Zusammenstellung von Klavierstücken aus mehreren Jahrhunderten gleichwertig nebeneinander stellt, Werke aus den Jahren 1787 bis 1997, darunter zwei Silvestrov-Stücke, neben dem Titelstück Der Bote (Vestnik) noch Elegie – dessen Jahresangabe in dem CD-Beiheft falsch ist. Ich wurde stutzig, weil in der wenige Jahre zuvor bei ECM veröffentlichten Piano-CD Variations von Ingrid Karlen – dem ersten Mal, dass eine Silvestrov-Komposition auf einer ECM-Produktion zu finden war – die Jahresangabe 1967 lautet.

Tatsächlich befand sich Silvestrov 1976 bereits in einer sehr anderen künstlerischen Phase und hätte das Stück in den Siebzigern wohl nicht mehr so geschrieben.  Karlen muss eine frühe handschriftliche Fassung der Notation gehabt haben, so dass ihr viele der Detailinformationen fehlten, die Silvestrov bei seinen Kompositionen wichtig findet, um seine häufig sehr simpel scheinenden Kompositionen richtig zu erarbeiten. Silvestrov war damals auch nicht in der CD-Aufnahme involviert; Manfred Eicher lernte er erst später kennen.

 
 
 


 
 
 

Lubimov hat als langjähriger Freund des Komponisten (er hat Lubimov mehrere, teils ihm sehr wichtige Werke gewidmet) entsprechend ein tieferes Verständnis dieser Noten. Großartig, wie er eines der letzten Stücke CPE Bachs neben John Cages Frühwerk In a landscape stellt, gefolgt von Nostalgia des Armeniers Tigran Mansurian, ebenfalls einer der durch ECM-Veröffentlichungen populär(er) gewordenen Komponisten des einstigen weiteren Sowjetraums. Die Musik auf diesem Album wirkt frappierend zeitlos, besonders das älteste Stück gegenwärtiger als manch später entstandenes.

Silvestrovs Klavierstück Der Bote (Vestnik) wurde in der Musikkritik [ich habe unlängst mehrere Besprechungen aus den letzten gut zwanzig Jahren gelesen] sehr häufig als Mozart-Zitat aufgefasst und beschrieben. Silvestrov widerspricht diesem Verständnis. Mit der Lesart, diese Musik ließe sich als Dialog mit einer anderen Welt, vielleicht auch mit dem Jenseits, der Vergangenheit verstehen, kann er hingegen gut leben, wenn ich ihn richtig verstanden habe. Der Bote wurde in den zwei Jahrzehnten seit Lubimovs Ersteinspielung bereits vielfach von anderen bekannten Pianist/innen interpretiert und eingespielt, darunter ein zweites Mal, diesmal mit der fragilen Orchesterbegleitung, von Lubimov auf der exzellenten ECM-CD Bagatellen und Serenaden (2007), auf der auch Silvestrov selbst am Flügel sitzt, seine Bagatellen spielend. Hélène Grimaud hat – neben Silvestrovs Zwei Dialoge mit Nachwort – ab 2017 sowohl die Soloversion als auch das Arrangement für Klavier und  Streichorchester gespielt, und im Januar 2020, kombiniert mit Mozart-Werken, für die Deutsche Grammophon als Album eingespielt. Das Album trägt – Überraschung – den gleichen Titel wie Lubimovs exakt 20 Jahre zuvor eingespielte CD-Produktion: The Messenger.

Leider wurde Silvestrov an den Grimaud-Einspielungen nicht persönlich mit einbezogen (zuletzt veröffentlichte DG eine Grimaud-CD mit 12 seiner „Stillen Lieder“). In der Gesamtheit ist es ein schönes Album, so äußert sich der Komponist selbst. Allerdings merkt er häufiger an, dass Veröffentlichungen bzw. Interpretationen seiner Werke nicht immer die nötige Aufmerksamkeit für all die wesentlichen Details zukommt – scheinen die Stücke auf dem Papier für viele Musiker/innen (und auch Hörer/innen, wie man liest) doch allzu simpel. Selbst einzelne ECM-Alben kann man kritisch sehen: Die Sechste Sinfonie (2007 veröffentlicht) etwa kommt eine Spur zu langsam (Silvestrov war bei der Aufnahme nicht anwesend), und zu dem Album Hieroglyphen der Nacht (da wirkte er an der Aufnahme im Jahr 2013 intensiv mit) äußert er sich kritisch darüber, wie die beiden Einzelinstrumente in der Mischung ins Verhältnis gesetzt werden. Ich kann mir gut vorstellen, dass einen Komponisten solche Dinge beschäftigen, vielleicht sogar frustriere; schließlich  bleiben solche Ersteinspielungen quasi für die Ewigkeit. Das absolut genaue Hören und das sehr aufmerksame Achten auf alle noch so kleinen Details sind für Silvestrovs Musik essenziell.

Sehr glücklich dürfte er mit der zuletzt bei ECM zu seinem 85. Geburtstag veröffentlichten CD mit Chorwerken aus den Jahren 2014 bis 2016 sein, darunter seiner unmittelbaren Reaktion auf den Maidan 2014.

 
 
 


 
 

2023 30 Mrz

50+1st Anniversary Edition

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Gerade erschien [wie zuletzt lustigerweise wieder ein Jahr verspätet] die 50th Anniversary Edition von Honky Château, Elton Johns 1972er „Jump to the top“-Album. Beim Wiederhören (nicht, dass ich es besonders lange nicht gehört hätte…) begleiten mich die Details im neuen Beiheft – Fotos und Berichte von den Aufnahmen im Januar 1972. Gerade wenn man die Platte schon lange kennt, sind diese unveröffentlichten Fotos und Berichte sehr bereichernd und auch erhellend – und machen sehr lebendig, welchen Sprung dieser Moment in Elton Johns Biografie und Karriere bedeutete.

Auch nach über 50 Jahren ist Honky Château ein von vorne bis hinten ein famoses 5 star album. Und die „Session Demos“ der einzelnen Songs sowie die Berichte von den Sessions unterstreichen, wie rasant John und Texter Bernie Taupin diese zehn hervorragenden Songs in wenigen Tagen aus dem Ärmel schüttelten. Das als Aufnahmeort genutzte französische Château d’Hérouville (das den heiteren Albumtitel inspirierte) hatte da übrigens schon eine lange, interessante Geschichte hinter sich, von Balzac und Frederic Chopin bis zu Canned Heat und Grateful Dead.

Bekannt ist seither vor allem natürlich Rocket Man, und gerade auch die 50 Jahre lange Mainstream-Radiokarriere dieses Hits führt durchaus ein wenig in die Irre, wie vielseitig, rock’n’roll-lastig und humorvoll die Platte ist, weitgehend eingespielt von einem Quartett mit Piano, Bass, Gitarre und Schlagzeug – das erste Album von Eltons classic band, die im Wesentlichen bis heute so besteht.

Im Beiheft erfahre ich, dass Gitarrist Davey Johnstone, der hier neu zur Band kam (das restliche Piano-Bass-Schlagzeug-Trio hatte zuvor viel gemeinsam getourt; das rockige Livealbum 17-11-70 beispielsweise legt davon eindrucksvoll Zeugnis ab), vorher gar nicht elektrisch gespielt hatte, sondern in Folkbands seine Sporen verdient hatte. Das erklärt ein wenig den markanten Sound zwischen Rock’n’Roll, Blues, American Roots und Folknoten, etwa das Banjo in „Slave“ (ohne Piano!) und „Honky Cat“, Mandoline in „Mona Lisas and Mad Hatters“ (ohne Schlagzeug). Vereinzelt wurde geschickt ein ARP Synthesizer, die elektrische Violine von Jean-Luc Ponty (später Mahavishnu Orchestra, Mothers of Invention, Return to Forever) oder auch mal Ray Coopers Congas ergänzt, auch mal eine kleine energische Bläsertruppe. In anderen Songs, wie einem meiner Favoriten, „Susie (Dramas)“, spielt das nur das Kernquartett hart rockend und prägt damit den Sound des „neuen“ Hipster-Singer-Songwriters auf den Punkt.

 
 


 
 

Faszinierend scheint mir gerade der Blick in Dekadenschritten von damals bis heute; ein Querschnitt durch die typischen Elton-John-Facetten, die beim breiteren Publikum zweifelsfrei mancherlei Vorbehalte bekräftigten.

1982, mitten in seiner Kokain-Hochphase, veröffentlichte Elton John Jump Up, ein austauschbares Album unter vielen, weder so interessant wie ein Jahr zuvor das hit-freie The Fox noch ansatzweise so erfolgreich wie ein Jahr später das erste Comeback („I’m still standing“) mit Too Low for Zero. Wieder aufgenommen in Frankreich, die Songs jedoch kaum ein Schatten früherer Qualität, das Cover ein Quatsch von 80er-Design, Titel und Besetzung (Jeff Porcaro!) austauschbar, Songs und Texte teils peinlicher Nonsens. Immerhin: Pete Townshend gastiert auf einer netten Akustikgitarren-Nummer, und es gibt eine heartfelt Hommage für John Lennon.

Auch das nach dem Entzug und persönlichen Neuanfang 1992 erschienene Album The One dürfte abseits der Fans heute niemanden mehr interessieren, zu synthetisch der Sound, der noch aus dem Mainstream-Pop der 1980er herübergerettet wurde (kein Wunder, Chris Thomas, in den Siebzigern noch an  stilbildenden Alben von Roxy Music, Eno, Wings, Procul Herum, Bryan Ferry, John Cale oder Badfinger beteiligt, war seit 1982 häufiger mal Eltons Produzent, selten zum Vorteil des Endprodukts), zu austauschbar viele Songs, zu lang ohnehin die ganze CD, erstmals voll die Zeitspielraum der Silberlinge auskostend. Obendrein gab’s ein unfreiwillig(?) komisches Cover von Busenfreund Versace, auf dem Elton seine neuen Haare präsentierte. Immerhin: Eric Clapton singt und spielt auf einem netten MOR-Rocksong mit, und Dave Gilmore spielt ein schönes Gilmore-Solo auf einem dunklen, recht guten Elektropop-Stück. In dem Jahr war ich dann, in der Münchner Olympiahalle, auch erstmals Gast auf der Tournee; es war ein nachhaltig prägender Tagestrip mit meinem Vater.

Weitere zehn Jahre später war gerade das im September 2001 veröffentlichte Songs from the West Coast (wo Elton seither lebt) herausgekommen; ich habe es zufälligerweise damals tatsächlich selbst dort, bei Tower Records in L.A., gekauft. Es ist das erste künstlerische Comeback-Album, das den Sound der ersten Hälfte der 1970er wieder aufleben lässt. Die Songs sind durchweg stark und prägnant, und auch wenn die Kollektion vielleicht eine Spur zu lang erscheint, ist sie reich an Höhepunkten wie dem charmanten „Dark Diamond“ mit Gast Stevie Wonder, dem heiteren „Birds“ oder der Gospel-Rocknummer „The Wasteland“ mit einem starken Orgelauftritt von Billy Preston.

 
 


 
 

2012 befinden wir uns zwischen zwei nostalgisch-frischen, von T Bone Burnett produzierten Spätwerken: The Union (2010) ist ein vielleicht wieder etwas zu langes, aber ausgesprochen gelungenes Duoalbum mit Leon Russell, an dem auch Marc Ribot und Neil Young mitwirkten; mit seiner Mixtur aus Southern Rock, Rhythm & Blues und Gospel knüpft das Werk souverän an die früheren Jahre an, fügt zugleich aber auch eine markant eigene Note hinzu. Und 2013 eines von Elton Johns überhaupt besten Werken: The Diving Board, dem man allein ankreiden kann, dass es den Piano-(Impro-)Fokus nicht mutig genug ausschöpft  und einfach wahnsinnig schlecht abgemischt und/oder gemastert ist. Noch einmal zehn Jahre später liegt wieder ein albernes Cover vor – und eine Platte, die bewusst heterogen einen geradezu wahnwitzigen Querschnitt durch alle möglichen Pop-Aspekte der Gegenwart und Vergangenheit hinlegt, mit Kollaborationen all over the place. Super: die Zusammenarbeit mit Gorillaz und 6LACK. Gelegenheitshörer werden die 16 Songs umfassende Liedersammlung kaum durchstehen, zu viel Kram wird geboten. Gut aber sind Duos mit Lil Nas X, Eddie Vedder und dem 2017 verstorbenen Glen Campbell.

Ob man 2032 (der gute Mann wäre dann 85) noch ein letztes und vielleicht wirklich altersweises Spätwerk zu hören bekommt? Ich hoffe jedenfalls, dass er sich nach dem Ende seiner ewigen Abschiedstour doch wieder dem Schreiben und Aufnehmen von Songs widmen wird. Wäre toll, wenn doch noch einmal etwas kommt, das die Richtung von The Diving Board weiter vertieft, ein fragiles Spätwerk wie bei Cash oder Faithfull…

2023 5 Feb

A visceral search for identity

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Früher habe ich eine Zeitlang jeden Film des koreanischen Starregisseurs Park Chan-Wook (hier bei EPD Film aktuell ein Portrait seines Schaffens und Überblick über sein Œuvre) im Kino angesehen. Spätestens ab seinem Durchbruch Joint Security Area waren die alle sehenswert, trotz oder vielleicht auch gerade wegen ihrer gewissen sterilen Regiekunst, die eine gewisse philosophische Note nicht scheute. Irgendwann allerdings überwiegte dann die leere, artifizielle Seite (I’m a Cyborg, but that’s okay), die Langeweile zog ein, und mich zogen die Filme nicht mehr an. Irgendwann muss ich da wohl mal etwas nachholen.

Aktuell in deutschen Kinos gestartet: seine unverhohlene Film-Noir- / Neo-Noir-Hommage-Lovestory Die Frau im Nebel, und mir fällt auf, wie unglaublich viel Zeit vergangen ist, seit Park ein angesagter Regisseur unter Filmliebhaber(inn)en war. Da dieser neue Film als recht intelligente und schillernde Krimi-Unterhaltung vermarktet wird, begaben wir uns am Wochenende in Berlins schönstes und wohl größtes Kino, unweit unserer Wohnung gelegen, und schauten Die Frau im Nebel – seltenerweise in deutscher Synchronfassung; ein bisschen eigenartig finde ich es immer, wenn asiatischen Menschen in fernen Kleinstädten und Dörfern astreines Theaterhochdeutsch sprechen, und skurril auch, wenn immer wieder die Originalstimmen der Schauspieler/innen auftauchen, wenn die Figuren dann nicht mehr koreanisch, sondern chinesisch sprechen. Es ist wie gesagt eine halbe Ewigkeit her, seit ich einen Film von Park Chan-Wook gesehen habe; dieser war ein wenig anders als erwartet – doch nicht ganz so eingängiges Unterhaltungskino, auch wenn man in der ersten Viertelstunde noch meinen könnte, dass die Handlung, auch so ähnlich in einem „Tatort“ stattfinden könnte … aber dann erinnerte ich mich, dass die Filme von Park sich ja schon immer durch diese gewisse artifizielle Unnahbarkeit ausgezeichnet haben und konnte mich da gut mit anfreunden, und so störte auch das Theaterdeutsch kaum mehr.

Hat mir alles in allem sehr gut gefallen, ich muss aber auch zugeben, dass es wohl ein Film für intellektuelle Film-Nerds (bevorzugt Ü40, bevorzugt männlich) ist, was an der jüngeren Frau neben uns (ca. Mitte 20) deutlich zu merken war, die während des Film ständig durch lautes Aufstöhnen ihr Missfallen zum Ausdruck brachte. Inszenierung, Kamera, Schauspiel (soweit eingedeutscht beurteilbar) und Montage allesamt top. Zu empfehlen mit den den genannten Einschränkungen (not everyone’s cup of tea) – kein realistischer Krimi, sondern eher etwas überhöhtes Erzählen in Vertigo-Tradition. Man konnte unschwer den alten Hitchcock jeder zweiten Ecke dem Regisseur über die Schulter blicken sehen …

 

 

 

 

Dann, einen Tag später gleich noch einmal einen Kinobesuch in einem anderen in Korea spielenden Film, der ebenfalls 2022 im Programm in Cannes hochgelobt wurde: Return to Seoul – großartiger Film. Sehr berührend und keine Minute langatmig, immer wieder reizvolle, authentische Wendungen. Toll, wie der über zwei Stunden die Spannung hält, bei diesen Stimmungswechseln. Chapeau an Drehbuch und Regie. Und natürlich an die Hauptdarstellerin. Souverän, ohne die Warnung „Achtung Große Kunst“ wie bei Park Chan-Wook, und doch eigentlich viel kunstvoller, da nicht ausgestellt., sondern mit feiner (Regie-)Hand geführt. Ein Film, bei dem es vielleicht besonders schön ist, wenn man vorab so wenig wie möglich darüber weiß. Auch „Trailer“ finde ich oft problematisch, weil die so oft viele der schönen Wendungen oder gar Entwicklungen der Charaktere und der Handlungswege verraten.

Auf kluge Weise setzt der Film seine Irritationsmomente ein — visuell wie dramaturgisch. Ein Film auch, der, anders als Die Frau im Nebel seine gewisse Distanziertheit nicht zum Auf-Distanz-Halten des Publikums nutzt, sondern dies produktiv immer wieder auflöst, geschickt bricht und in Frage stellt. Überhaupt: Dass Retour à Seoul, eine koreanisch-französische Co-Produktion (und auch deutsches Geld war irgendwo dabei) Fragen aufwirft, diese aber nicht – oder sagen wir besser: nicht konventionell – auflöst, ist ein nicht unwichtiger Aspekt seiner faszinierenden Kunst. Ich war von Anfang bis Ende gefesselt und hätte auch noch eine Stunde weiter schauen können. Fast war ich traurig, dass wir diese Hauptfigur nach zwei Stunden und dieser schillernden Zeit im Saal verlassen mussten.

 

 


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