Ich trete nicht gern als Touristin auf und ich mag es, im Ausland so zu tun, als gehörte ich dazu. Bloß keinen Stadtplan ausbreiten. Möglichst nicht deutsch reden, wenn jemand zuhört. Zum Beispiel beim Einkaufen. Als ich vor einigen Jahren in Prag war, habe ich die Formeln für „Guten Tag“, „Danke“ und „Tschüss“ gelernt und als ich in einer Selbstbedienungsbäckerei ein Stückchen Kuchen in eine braune Papiertüte beförderte, prägte ich mir die Bezeichnung ein und erwähnte das Wort möglichst lässig an der Kasse. Die Kassiererin sagte dann etwas, was ich nicht verstand, aber es klang nicht wie eine Frage. Es hatte also funktioniert. In Paris wurde ich schon mehrfach nach dem Weg gefragt, worauf ich natürlich nicht „je regrette, je ne suis pas d´ici“ sage, sondern vielleicht eher ein straßenlangtaugliches achselzuckendes „je pas“. Umgekehrt ist auch interessant. Die Fremde in der Stadt, in der ich lebe, zu sein. Ich fand es immer super, wenn mich jemand damals in meinem sehr internationalen Studentenwohnheim fragte, welche Nationalität ich denn sei. Neulich fragte mich ein Friseur, nachdem er mir sein halbes Leben erzählt hatte, ob ich eigentlich Deutsche sei. Dazuzugehören, das kann schützen, wenn es gefährlich wird, – oder davor. In Kapstadt wechselte ich die Straßenseite, als ich merkte, dass eine Jugendgang unterwegs in meine Richtung war. Tatsächlich rissen sie jemandem die Tasche weg und es gab eine Rauferei. Es schien also sinnvoll, zu anderen Mitteln zu greifen, um Dazugehörigkeit zu demonstrieren. Andy hatte sich darauf vorbereitet und eine dieser neongelben Warnwesten mitgenommen, wie sie seit einiger Zeit im Auto mitgeführt werden müssen. Ich wollte diesem Modetrend nicht folgen. Andy ging aber noch weiter. Er hatte ein Namensschild dabei, auf dem das Markenzeichen für Audi und ein kleines Foto eines Audi TT abgebildet war. Außerdem stand da ein Name: „Andy Snyder“ (was natürlich nicht sein wahrer Name war) und „Service“. Andy brachte das Namensschild auf der Warnweste an und zog sie über. Er hängte ein Schlüsselband um den Hals, auf dem ein Plastikschild mit der Aufschrift „Visitor“ angebracht war, und um die Verkleidung abzuschließen und die Bedeutung seiner Person für die südafrikanische Volkswirtschaft zu vervollkommnen, trug er einen braunen Pappkarton mit sich, der praktischerweise leer war. Möglicherweise fragt sich nun der ein oder andere Leser, ob so ein Aufwand wirklich erforderlich ist, um friedlich durch die City von Capetown zu schlendern. Die Wirkung war jedenfalls erstaunlich. Andy Snyder wurde mit großem Respekt behandelt. Welchen Weg er auch einschlug: alle wichen ihm aus. Und was war meine Rolle? Die Kollegin aus der Abteilung Kommunikation? Nein, nicht Kommunikation! Und auch nicht die Werkszeitung. Schon eher Geräuschdesign. Ich bin dafür zuständig, das Geräusch zu entwickeln, das eine Autotür macht, wenn sie schließt. Das interessiert mich. Ich schaute Andy an und seine Warnweste und stellte fest, dass er sein Namensschild verloren hatte. Seine Identität war dahin. Die Legende. Plötzlich begann ich, mich irgendwie mulmig zu fühlen. Es wurde schon dämmerig und alle Reiseführer predigten, in der Dunkelheit die Unterkunft nicht zu verlassen. Da hinten saßen drei junge Männer in einem Hauseingang. Und um die Ecke, war da nicht diese seltsame Frau, von der ich merkte, dass sie irgend etwas wollte? Wir gingen den ganzen Weg zurück und suchten das Plastikschildchen. Wir fanden es nicht. Andy Snyder ist in Capetown verloren gegangen.
2015 14 Juli
The Rise and Loss of Andy Snyder in Capetown
von: Martina Weber Filed under: Blog | TB | Tags: Sicherheit, Südafrika | 1 Comment
1 Comment
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a.h.:
In die Rolle eines Anderen schlüpfen, mal jemand anderes sein. Dazu muss man nicht ins Ausland fahren, aber es erleichtert diesen Schritt. Deswegen fahren auch viele weg. Machen diesen Schritt aus dem Alltag. Diesen Schritt, den man öfter wagen sollte, um sich selbst mal von außen zu betrachten, oder um sich anders im Raum zu bewegen, den man doch sonst so kennt.
Den Supermarkt, zum Beispiel: Es macht einen erheblichen Unterschied, ob man da mit Sakko und weißem Hemd reingeht, oder mit zerrissenen Jeans. Man wird anders behandelt, so wie es „Andy“ passiert ist.
Eine schöne Geschichte, die einläd dieses Experiment zumindest in Gedanken zu spielen. Wer wäre man gerne mal?
Warum nicht so tun, als wäre man …