Ich habe dieses Buch nicht gekauft, weil ich einen Kalender für das laufende Jahr bräuchte. Es ist ein einzigartiges Projekt, eines, das ich so noch nirgendwo gesehen habe. Michael Braun ist einer der renommiertesten Lyrikkritiker und der Lyrik-Taschenkalender, den er seit dem Jahr 2013 herausgibt, ist sein Herzensprojekt. Für jede Ausgabe lädt er 17 deutschsprachige Lyrikerinnen und Lyriker ein, zwei Lieblingsgedichte in deutscher Sprache zu kommentieren, ein zeitgenössisches und einen Klassiker. Außerdem kommentiert Michael Braun jeweils ein Gedicht der eingeladenen Dichter. Auf diese Weise lernt der Leser die Lyriker von verschiedenen Seiten kennen, durch ihre Werke und ihre Kommentare. Ich setzte mich gleich nach dem Kauf in einen Park, in die Sonne, weil ich wissen wollte, welche Gedichte Nadja Küchenmeister ausgewählt hatte. „Allein, den Denkvorgang zerlegt, allen Verstand zurück-/ gelassen am Ort des Aufbruchs, …“ (Ernest Wichner). Ein Gedicht mit einem nachdenklichen lyrischen Ich im Zentrum. Es gibt aber auch die Gegenposition. Carolin Callies schreibt zu einem Gedicht von Hans Arp: „… seit das Subjekt tot ist, ist „ich bin“ keine Option mehr.“ Und freut sich über die Beliebigkeit und totale Freiheit des Ich.
„Mein eigentum und mir unendlich fern.“ (Stefan George)
Die Konzepte sind vielfältig. Da gibt es ein „Erkunden ohne große Ambitionen“ (Jürgen Theobaldy über Hugo Dittberner), eine „Ermutigung zur Vergeblichkeit“ (Sylvia Geist über Rolf Dieter Brinkmann), Matthias Göritz erkennt in einem anonym verfassten Gedicht das Ausgestoßen-Sein einer unehelich Schwangeren und die erlösende Kraft der Liebe. Angesprochen wird die Außenseiterstellung des Dichters, die Rolle des Zufalls beim Dichten, das Begehren des Stefan George. Welche Wirklichkeit kann Sprache abbilden? Hendrik Rost (Jahrgang 1969) erzählt in seinem Gedicht „Requiem“, wie sein älterer Dichterkollege Thomas Kling (1957-2005) ihn einmal anrief und nur sagte: „Ich beobachte, was du so machst.“ Wahrscheinlich eher eine ausgedachte, aber sehr schöne Geschichte, die auch die Hierarchien im Literaturbetrieb thematisiert.
„Du aber gehst mit weichen Schritten in die Nacht.“ (Georg Trakl)
Michael Braun spricht nur selten deutliche Werturteile aus und nähert sich den Gedichten und ihren Autoren mit einem kühlen, analytischen Blick, immer getragen von einem beeindruckenden Verständnis und Gespür für Hintergründe. Die Herangehensweise der Künstler ist von einer anderen Art der Leidenschaft getragen, weil es auch immer darum geht, sich selbst zu definieren. So erzählt einer von seinen Anfängen als Dichter, als Georg Trakls „An den Knaben Elis“ für ihn und seine damalige Freundin eine Droge war. Auf der Suche eines Lebens zwischen Normalität und Kunst. Eine schreibt, sie habe oft an das von ihr kommentierte Gedicht von Christine Lavant gedacht und weiterleben können. Das Spannende an diesem Buch ist die Möglichkeit, Lyriker aus verschiedenen Perspektiven kennenzulernen: mit einem Gedicht, einem Kommentar zu diesem Gedicht (meist von Michael Braun), und zwei ausgewählten und kommentierten Gedichten, einem zeitgenössischen und einem Klassiker. Die Auswahl dieser Gedichte und die Kommentierungen werfen dann nochmals ein Licht auf die poetologische Position des jeweiligen Dichters/der Dichterin. Gegenwärtige Diskurse werden spürbar. Bezüge zu Traditionen. Abgrenzungen. Es geht immer darum, neue Themen und Ausdrucksformen zu finden. Die Nähe des Gedichtes zum Schreibenden neu auszuloten. Wie wirkt sich die Postmodernediskussion auf die Lyrik aus? Ist das lyrische Ich zeitgemäß oder – nach einer Phase der Ich-losigkeit – wieder ein hohes ästhetisches Wagnis? Es gibt keine Antworten, keine Eindeutigkeiten. (Ich mag das!) Der Lyrik-Taschenkalender lädt dazu ein, die gegenwärtige Lyrikszene kennenzulernen und die eigene sprachliche Wahrnehmungskompetenz zu erweitern.
„sich selbst / erreicht man nicht / durch nachdenken“ (Michael Lentz)
– Gedichte von Zeitgenossen und von Klassikern? Wie definieren Sie den Begriff des Klassikers? Hat das etwas mit dem gesetzlichen Urheberrecht zu tun, das 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers erlischt?
– Nein, schrieb mir Michael Braun, meine (völlig subjektive) Trennung zwischen Klassikern und Zeitgenossen ist das Jahr 1970, der Tod Paul Celans.
Der Lyrik-Taschenkalender 2015 enthält Gedichte und/oder Gedichtkommentare von:
Hans Arp, Mirko Bonné, Rolf Dieter Brinkmann, Carolin Callies, Hugo Dittberner, Annette von Droste-Hülshoff, Ralph Dutli, Christopher Ecker, Sylvia Geist, Stefan George, Johann Wolfgang von Goethe, Matthias Göritz, Anastasius Grün, Anneliese Hager, Emmy Hennings, Ernst Herbeck, Peter Hille, Norbert Hummelt, Gottfried Keller, Jan Koneffke, Ursula Krechel, Nadja Küchenmeister, Jan Kuhlbrodt, Christine Lavant, Michael Lentz, Friederike Mayröcker, Klaus Merz, Martin Merz, Franz Mon, Eduard Mörike, Herta Müller, Alexander Nitzberg, Steffen Popp, Marion Poschmann, Arne Rautenberg, Hendrik Rost, Katharina Schultens, Peter Sendtko, Christian Steinbacher, Jürgen Theobaldy, Georg Trakl, Clemens Umbricht, Jan Wagner, Ernest Wichner, Ron Winkler, Paul Wühr, Henning Ziebritzki, Carsten Zimmermann, Albin Zollinger.
„Ich erwache / unter Stimmen / die Lieder vom Meer“ (Martin Merz)
Sehr lesenswert und keineswegs veraltet sind auch die Lyrik-Taschenkalender 2013 und 2014.
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Michael Braun (Hg.): Lyrik-Taschenkalender. Wunderhorn Verlag Heidelberg