Weltmeisterlich sieht anders aus, als das, was die deutsche Mannschaft bislang in Brasilien praktizierte. Die Euphorie nach dem Portugalspiel ist rasch der nüchternen Erkenntnis gewichen, dass gehobener Durchschnitt allein noch keinen Champion krönen dürfte. Özil fernab der Beständigkeit, Podolski eine Spezialkraft ausser Form, Höwedes hinten solide, nach vorne ohne jede Inspiration. Khediras lange Verletzungspause ist durchweg spürbar. Aber wir haben ja noch eine Spezialkraft ausserhalb des Feldes, der in seinen Kommentaren unentwegt den Optimismus der Stammtischbrüder nährt. Es ist interessant, mit welchem Grad von Humorlosigkeit und Selbstgefälligkeit der Ex-Titan Oliver Kahn das Fussballgeschehen begleitet. Dagegen waren einst Netzers Äusserungen an der Seite von Herrn Delling die reinsten Temperamentsausbrüche. Nun hat er den Deutschen ein problemloses Weiterkommen gegen die Nordafrikaner prognostiziert, die nach dem Russenspiel physisch platt seien. Mal unabhängig davon, dass Herr Kahn kaum die Regenerationsfähigkeiten eines Teams einschätzen kann, das neunzig Minuten schier unermüdlich (und mit enormem technischem Knowhow) den Rasen rauf- und runterraste: die Algerier haben feine Fussballartisten in ihren Reihen, alles andere als eine „Ochsenabwehr“, und verfügen über eine durchsetzungsfähige Offensive. Zudem werden die Algerier, die allesamt jetzt schon Heldenstatus in ihrer Heimat erlangt haben, eine deutsche Tugend praktizieren und „Gras fressen“, kämpfen bis zum Umfallen, und gewiss den einen oder anderen „tödlichen Pass“ erproben, aus der Tiefe des Raumes. Das wird eine spannende Angelegenheit am Montag, doch sollte es den Deutschen gelingen, eine Runde weiterzukommen, wird weiter an einem neuen „Sommermärchen“ gestrickt. Nur dass zu den Erzählern dieser Geschichte „unser Olli“ gehört, stimmt ein wenig skeptisch. Denn in gewisser Weise spiegelt sein monotoner Hang zur Wiederholung vorgestanzter Phrasen die selten beflügelt wirkenden Automatismen der Löwschen Jungs. Man muss kein Prophet sein, diesem Team das Aus vor dem Finale vorherzusagen. Und sollten sie gegen Algerien rausfliegen, würden sie nicht mal erhobenen Hauptes das Feld verlassen. Es würde dann auch keinen small talk von Katrin Müller-Hohenstein am Swimmingpool der Deutschen mehr geben, eine triste Sommerpause droht, nur das Casting-Team von RTL dürfte einen ganz heissen Auftrag erhalten. Die Einschaltquoten würden durchdrehen, wenn sie Oliver Kahn das Dschungelcamp schmackhaft machen können: wir wissen ja nun zur Genüge, bei eingehender Betrachtung seiner Fernsehpräsenz, wie es sich anfühlt, saure Kröten zu schlucken. Es wäre ein Fall von „poetischer Gerechtigkeit“.
2014 28 Jun
Kollateralschäden der Rhetorik (ein paar Bemerkungen zum Ausscheiden der Deutschen vor dem erklärten Ziel)
von: Michael Engelbrecht Filed under: Blog | TB | 2 Comments
2 Comments
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Lajla nizinski:
Ja sehe ich alles genauso. Unseren 11 Freunden werden mit der Camus schen Mittelmeerheat hoffentlich die Waden locker gemacht. Freu mich auch auf das Spiel.
Aber heute nun zunächst meine bissig aufspielende Lieblingsmannschaft. Ach herrje die FIFA mit ihrer Doppelmoral. -
Michael Engelbrecht:
Laut dpa gibt es eine „Hiobsbotschaft“ aus dem deutschen Quartier: Podolski wird im Achtelfinale fehlen. Ich glaube, da hat jemand die Sache mit Hiob nicht ganz begriffen.