Es gibt ja Hypothesen darüber, wieso etliche Teenager einst vom Free Jazz infiziert wurden, genauso wie von den in ihrer Harmonik und Melodik viel versöhnlicheren Ausbruchskünstlern der Pophistorie – von den ersten Schlägen des Mercy Beat bis zu den Ausläufern des Laurel Canyon. Manche bekamen halt früh Joachim Ernst Berendts Jazzbuch in die Finger, und erhielten so eine spezielle Geschichtsstunde in Sachen 20. Jahrhundert. Aber das funktioniert dennoch jenseits aller Systematik: einige meiner ganz frühen, freien und nicht so freien Jazzplatten hiessen, in meiner leicht schwebenden Erinnerung, Ragtime Roll Piano Classics, Sart, Third, Bremen/Lausanne, Infrared (das Dave Pike Set war durchaus bekannt in Jazzdeutschland, und ich erlebte den ersten oder zweiten Auftritt des neu hinzugekommenen Bassisten Eberhard Weber im Dortmunder „Domicil“, und die staunenden Blicke des Gitarristen Volker Kriegel auf der kleinen verrauchten Bühne), Tryptikon, und This Way Out. Letzteres Werk ist meine Lieblingsplatte (ein Doppelalbum aus dem Hause MPS) des Pianisten Joachim Kühn. Als ich zuletzt im Deutschlandfunk Bert Nogliks Beitrag zu Kühns Birthday Edition anmoderierte, wollte ich den nüchternen Fakten noch etwas „storytelling“ hinzufügen, und irrte leicht, was den genauen Titel und die genaue Besetzung anging. Irrte aber nicht, als ich erzählte, dass hier etwas Gefährliches im Spiel war, eine Sprengkraft, während uns im Musikunterricht Der Freischütz angedient wurde. Ich habe noch heute den muffigen Geruch der Musikaula des Max-Planck-Gymnasiums in der Nase. Solche Fehler passieren mir selten, und schon gar nicht mit Lieblingsplatten. Zu meiner Entschuldigung sei gesagt, dass die vielgespielte Zaubermusik (mit dem grossartigen Gerd Dudek, dem famosen Peter Warren und dem einzigartigen Daniel Humair) bei irgendeinem Umzug verloren ging, und sich die Musik einen unendlich kleinen Platz in meinem Hinterkopf einrichtete. Es sind die winzigen Dinge, welche die wilden Träume befeuern, nicht die „auf dem Tisch liegenden“ Tatsachen. Heute ist dieses Opus ein vergrabener Schatz. Nun besorgte ich mir in gut informierten Kreisen Joachim Kühns Telefonnummer, und hatte ihn plötzlich am Apparat, in seinem Zuhause auf Ibiza. Seltsamerweise hatte ich noch nie ein Interview mit ihm gemacht, stellte mich kurz vor und erzählte die Geschichte meiner fehlerhaften Erinnerung. Natürlich auch, weil dahinter ein herzlicher Gruss aus der Ferne steckte, und zwar aus dem Jahr 1973. Nach zehn Minuten waren wir per „du“, ich bekam gute Empfehlungen für meinen ersten Ibizaaufenthalt, und dieses kleine Gespräch sollte noch ein paar andere Dinge in Gang bringen. Auf jeden Fall erlebte ich einige „flashbacks“, und, als könnte es naturgetreu sein, spielten sich Passagen eines sehr langen, frei improvisierten Stückes aus „This Way Out“ aus den tief gelegten Schichten des Unterbewusstseins in die hörbare Gegenwart. Das eine und das andere Motiv, ein Rascheln, ein Reissen, ein gesprungener Ton! Zudem sah ich das Cover (ich stelle es auf eine Stufe mit den vier Luftballons von Belonging) in all seiner Schärfe vor mir, das (wieder dieses Wort!) gesprungene Glas, den warmen Rot-Ton, die springlebendigen Läufe des Joachim Kühn, und manch wundersamen Sound des Bläsers Gerd Dudek, der seitdem, neben Karl Heinz Wiberny und Gunter Hampel, aus welchen erfindlichen Gründen auch immer, zu meinem liebsten deutschen Blasmusikanten zählte. Hampel könnte hier auch eine Menge erzählen, über Kinder und Teenager und Free Jazz. Happy Birthday, Joachim Kühn!