„Die freien Menschen, die permanent suchen, also permanent von ihrem Gesuchten fantasieren, haben eine durch und durch sterile Fantasie und müssen also von jeder – naturgemäß unsauberen, besonderen – Wirklichkeit auf das Äußerste irritiert sein. Wer fantasiert, sterilisiert. Die Hypertrophie der Fantasie führt zur Sterilität alles Begehrten. Menschen, die reich an Fantasie sind, haben keine besonders lebendige Fantasie, sondern eine tote, abtötende.“ (Sven Hillenkamp, Das Ende der Liebe)
Eine Freundin zeigt mir ein buddhistisches Weisheitssprüche-Buch mit Bildern aus Nepal, dem Land, das sie gerade bereist hat. Sie sucht sich regelmäßig einen Spruch heraus und knabbert dann gedanklich den lieben langen Tag daran herum, beim Spazierengehen oder bei der Küchenarbeit. Ich verstehe sie gut, die Liebe, denn mir geht es ähnlich. Und so setzt das obige Zitat von Sven Hillenkamp ad hoc eine Assoziationskette frei, die erklärt, was den Poesiealbenbildchen, manchen Comic-Zeichnungen und den Buchverfilmungen von Miss Pilcher gemeinsam ist: sie wirken steril und blenden die unschöne Wirklichkeit aus. Auch bei Musikveröffentlichungen findet man solches. Ein in die Jahre gekommener Popstar und Pianist schwadroniert im neuen Album von jungen Frauen und ein Verdacht erwächst beim Hören: konstruiert und fantasiert, das Ganze – somit fad, gelackt und inhaltslos. Hingegen singt ein anderer Orpheus von Brüchen und Niederlagen, von gescheiterten Ehen und den dramatischen Niederungen eines schwierigen Lebens (La Difficulté d’être). So jemandem hört man gerne zu – egal, ob das durch Improv-Music, Streichersätze oder Synthie-Sampling veredelt wird. Denn die Welt ist, was der Fall ist und nicht fantasiert.