Sterben (D, 2024) von Matthias Glasner
Deutscher Filmpreis 2024
Vorüber, ach vorüber, Du wilder Knochenmann – fleht das Mädchen in dem Gedicht von Matthias Claudius („Der Tod und das Mädchen“), als der Tod nach ihm greift; genial vertont von Schubert im gleichnamigen Streichquartett, in der sich ein faszinierender musikalischer Dialog entspinnt zwischen dem verängstigten Mädchen und dem Tod, der sie in weicher Moll-Intonation zu beruhigen und zu trösten versucht. Teile dieses Dialoges werden demgemäß oft eingeblendet, wenn der ständig präsente Gevatter sich wieder einmal mehr anschickt, jemand abzuholen. Matthias Glasner, ein Regisseur mit Gespür in der Abwicklung düsterer Themen (Der freie Wille, Requiem) liefert hier eine nur geringfügig entgleiste Nummernrevue über ein existenzielles Thema, das wir lieber in Form von Mord und Gewalt im Film konsumieren als in seinen alltäglicheren Erscheinungsbildern, um nicht zu spüren, dass er die ganze Zeit neben uns hermarschiert wie ein Bodyguard, den wir aber gar nicht bestellt haben.
Das DVD-Cover zeigt ein chaotisches Fingerfarbenbild, in dem bereits deutlich wird, dass etwas aus seinem Gesamtzusammenhang ausgestossen wird oder ihm entflieht. Das verheisst nichts Gutes.
Die User-Rezensionen sind aufgespalten zwischen Begeisterung und Verriss; ein Zeichen für die Abwehr, die ein Filmmotiv auslösen kann, auf das sich mancher nicht einlassen will – kein Wunder, wenn es um den Tod geht und der Film auf wohlfeile Sympathieträger verzichtet. Ein Film über das Leben „angesichts der Unverschämtheit des Todes“ nannte ihn ein Rezensent, womit sich die Frage erhebt, ob der Tod mit Adjektiven personalisiert und benamst werden kann. „Unbeirrbar“ wäre dann sicher das bessere Wort, aber immerhin schafft der Regisseur von Anfang an einen Resonanzraum, in der man dieser Gestalt wie auch immer begegnen kann.
Der Film besteht aus 5 Episoden, in dem jeweils ein Mitglied der Familie Lunies im Zentrum steht und in irgendeiner Weise mit dem Tod konfrontiert ist – sei es realiter oder in einer indirekten oder künstlerisch gefassten Form, dieses Thema durchzieht den Film wie eine Textur oder das Thema einer Fuge.
Konkret manifestiert sich der Knochenmann in der ersten Episode bei den Eltern der Familie, dem dementen Vater und der schwerkranken Mutter, die ihn mit Hilfe einer Haushälterin versorgt und zusehends an ihre Grenzen kommt. Man sieht es ohne Verschönerungen und ohne pseudoversöhnliche Honig-im-Kopf-Klischees aus dergleichen Machwerken, in denen die Alten nie aufs Klo oder geduscht werden müssen und die Szenen, die einem das Herz zerreissen, fehlen hier nicht – wenn der alte Vater im Pyjama alleine am Ende des Flures zurückbleibt und Sohn oder Tochter erleichtert in ihr gewohntes Leben zurückeilen und diese Endhaltestelle gar nicht schnell genug hinter sich zurücklassen können. Und der Vater das weiss.
Bedrückend auch die Szene, in der der Sohn Tom der Mutter mitteilt, dass er in seinem Inneren nur Leere verspüre – da wo die Gefühle für die Mutter sein müssten; die Mutter muss es hinnehmen, weil sie auf Versorgung angewiesen ist – eine unterschwellige Grausamkeit in dieser Szene, der finale Prankenhieb eines Ungeliebten gegenüber einer Wehrlosen, das geht in seiner Point-of-no-return-Anmutung schwerst unter die Haut. Dabei ist Tom eigentlich ein netter Kerl, der seine Begabungen verwirklicht, während die angeblich mehr geliebte Schwester im nächsten Abschnitt ihr Leben im Alkoholrausch vergeigt. Hier entgleitet der Film ins Makabre und Groteske, was dem Regisseur nur eingeschränkt gelingen will – er schrammt ziemlich haarscharf an der Klamotte entlang und der Bezug zum Thema und Gesamtkonzept will sich nicht so recht erschliessen, ausser man fasst den Todesbegriff sehr weit im Sinne eines Absterbens und Verschwindens von Möglichkeiten, Hoffnungen und Lebenschancen – hinter dem Grotesken lauert gern das Absurde und übergibt die letzte Stafette auf der Zielgeraden dann der Verzweiflung. Allerdings hat die Szene im Konzertsaal, als die Schwester ein vom Bruder dirigiertes Musikstück mit dem Titel „Sterben“ durch lautstarkes Husten und Erbrechen als späte Rache stört, durchaus ihren von Schadenfreude gespeisten Reiz und entbehrt nicht einer gewissen Komik. Geschwistergemeinheiten. Der dem Desaster beiwohnende und im übrigen hochnarzisstische und dauergekränkte Komponist des Musikstücks suizidiert sich im Anschluss – was man nicht so recht bedauern kann. Was aber die Frage aufwirft, ob man jemanden am Suizid hindern soll, wenn man um seine Absichten weiss, aber andererseits keine Chance auf ein geglücktes Leben mehr bei ihm sieht. Stoff für Psychotherapie- und Ethikseminare zum Thema Selbstbestimmung contra Bevormundung.
Lars Eidinger und Corinna Harfouch wuppen ihren Part auf gewohnt professionelle Weise und zeichnen das Bild einer weitgehend dysfunktionalen Familie, die ihre Programmierungen auch im Erwachsenenleben nicht überwinden können und bilden immer wieder Modelle für das Abarbeiten subtiler Aggression am jeweils anderen.
Diese Familiendystopie ist ein harter Brocken, genial verschachtelt und aufeinander aufgebaut, Leerstellen eines Kapitels werden im nächsten Kapitel gefüllt und enträtselt, ein Mosaik mit einem deprimierenden Schlussakkord. Der Soundtrack versteht es, das Titelthema immer wieder aufzugreifen und eine andere Variante des Todes zu zeigen – ein friedliches und befreiendes Angekommensein nach allen Disharmonien beziehungsweise im Schubert-Quartett das Zurückscheuen vor diesem Übergang contra dem Lockruf von der anderen Seite. Das hebt den Film noch einmal in eine existenzielle Dimension und macht die Titelgebung erklärlich für einen Film, der eigentlich vom Leben in seinen tragischen Facetten handelt – und auch von seinen lächerlichen, wie die Eskapaden der Schwester und ihres Liebhabers zeigen – ein Fremdkörper im Film und doch zugehörig wie die Szene des Strandens von Tom auf der Landstrasse, der keine Ladesäule für sein E-Auto findet und nicht zur Beisetzung des Vaters kommen kann und am Grab statt einer Rede des Pfarrers eine Handydiskussion mit der Mutter ausklinkt – eine der kleinen Hundsgemeinheiten des Lebens oder späte Rache an den Eltern?
Am Ende gibt es einen Hoffnungsträger: Tom hat ein neues Baby (diesmal wirklich von ihm) mit einer Kollegin, mit der ihn auch nicht wirkliche Liebe verbindet; bei der Beerdigung der Mutter trägt er es als Manifestation einer möglichen besseren Zukunft auf dem Arm und der Zuschauer erahnt die Bürde, die im Moment auf dieses neue Leben geladen wird mit einem chronisch ungeliebten und ausbeutbaren Vater. Dieses Kind muss liefern.
Somit ist dieser Film nicht primär ein Film über den Tod als biologischer Fakt und spirituelles Motiv, sondern ein Narrativ über Egomanie, emotionales Erstarren, Liebesunfähigkeit und Gefühlsleere. Und das ist in der Tat schauriger als das schlimmste Knochengerippe.