Ich wurde nach dem Krieg geboren, wusste nichts davon, fand nur die Ruinen prima zum Spielen. Niemand sprach mit uns über das nur so kurz Vergangene. In vielen Familien fehlten die Väter, die Zurückgekehrten waren nicht mehr die alten, viele tranken und hatten Wutausbrüche und Depressionen. Ich hatte Angst vor der Türklingel – bis heute schrecke ich zusammen wenn es klingelt; problematisch bei einem Beruf, bei dem stündlich einer an der Tür klingelt.
Schon als kleines Kind träumte ich, es würden fremde Männer kommen und mich mitnehmen. Oder ich würde verbannt in den „Osten“ – obwohl ich nicht wusste, was das war – und dort zugrundegehen, vermutlich erfrieren. Oder würde aus meinem Haus vertrieben und eine lange Wanderung antreten. Bis heute habe ich vor jeder kleinen Reise eine Phase mit mulmigen Gefühlen – ein Verlust an Sicherheit und ein Schritt ins Ungewisse, potentiell Gefährliche. Oder meine Mutter würde von einem Mann erstochen. Und Gefahr, die vom Himmel kommt. Und die Luft vergiftet. Lange Fussmärsche durch Eis und Schnee … furchtbar … Winterspaziergänge gehn bis heute nur unter heftigstem Sträuben. Ist mir unheimlich. Später stellte ich dann Fragen: Meine Familie (5 Generationen in einer Wohnung) hatte tatsächlich Angst vor der Türklingel – meine Urgrossmutter schimpfte ständig auf den Führer, auch in der Öffentlichkeit, alle fürchteten sich ständig vor dem Klingeln der Gestapo. Dachau war ja nicht weit. Zudem war meine in der Familie lebende Grosstante Epileptikerin – also ständig in Gefahr, abgeholt und euthanasiert zu werden. Diese Tante träumte später immer wieder, die Nazis wären wieder am Ruder und würden mich holen – ich galt damals als herzkrankes Kind – heute würde man von funktionellen Störungen sprechen. Eine Verschiebung … – oder ein Hineinnehmen in den Kosmos der eigenen Gefährdung.
Mein Grossonkel trat 1941 den langen Marsch in den russischen Winter an und ist dort gefallen. Meine Mutter – hochschwanger mit mir – wurde von einem Besatzungssoldaten mit dem Messer bedroht, weil sie das Kind eines Nazis im Leib hätte. Meine redegewandte Grossmutter machte ihm klar, dass es das Kind eines GIs wäre und er dabei sei, die kleine Familie eines Kameraden umzubringen. Ich war vermutlich damit beschäftigt, den Adrenalinschub meiner Mutter auszuhalten.
Überall eine Gefühlsgemengelage, die sensible Kinder aufsaugten wie trockene Schwämme, die traumatisierten Väter sorgten für die Weitergabe von Gewalt – gottlob hatte ich keinen, unter uns Kindern wurde das damals als Vorteil erachtet.
Am Ende der Strasse war ein Haus mit dunkelhaarigen Menschen mit schönen Nachnamen und merkwürdigen Vornamen – das Judenhaus. Ein Haus für displaced persons, die Dachau überlebt hatten. Mit den Kindern sollten wir nicht spielen, ich tat es natürlich schon. Meine Freundin Mindela vermisste ich furchtbar, als sie wegzog; sie hatte immer ein Auge auf die Kinder im Hause und schärfte ihnen ein, sich anständig zu benehmen. „Wir sind Juden, auf uns wird besonders geachtet!“ Eine Zehnjährige …
Später würden die Traumaforscher von der transgenerationalen Weitergabe von Traumata sprechen – interessanterweise traten diese Phänomene nicht nur bei den Kindern der Opfer auf, sondern auch bei den Kindern von Tätern, sie hatten die gleichen Alpträume, obwohl sie nichts wussten … oder merkwürdige Symptome. Noch später würden die Genetiker feststellen, dass Traumata und beständige Überflutungen mit Stresshormonen Veränderungen in den Genen und der DNA bewirken und damit der Sprung vom Psychischen ins Körperliche geschafft wäre – man kann Traumata und die entsprechenden Deformationen vererben.
Kein Entkommen …