The Quiet Girl (Irland, 2022) von Colm Bairéad
Ein zeitlich knapp gehaltener Film in dem schlechthin – zunächst – nichts passiert. Ein neunjähriges Mädchen einer verarmenden kinderreichen Familie in Irland wird zu Pflegeeltern geschickt, weil die Mutter wieder ein Kind erwartet. Der lieblos wirkende Vater bringt sie dorthin mit der Bemerkung, dass sie jetzt jemand anders „die Haare vom Kopf fressen“ könnte. Die wirkliche Motivation bleibt unklar, denn ein Mädchen dieses Alters wäre für die Mutter in dieser Situation eine wertvolle Haushaltshilfe. So erinnert das Entrée ein wenig an Hänsel und Gretel, die wegen häuslichem Nahrungsmangel in den Wald geschickt werden – oder auch aus ganz anderen Gründen. Die Szenerie wäre somit eine orale – selbst bedürftige Eltern möchten ihre Nahrung nicht teilen, wogegen die Hexe solche reichlich spendet um dann ihrerseits die Kinder aufzufressen. Von Menschen mit Suchtproblemen wird dies oft als Lieblingsmärchen der Kindheit benannt.
Die Pflegemutter nimmt sich liebevoll des Mädchens an – bis hin zu einem warmen Bad, hundert Bürstenstrichen am Abend, der Pflegevater wahrt zunächst Distanz, der Zuschauer erlebt Zustände leichter Paranoia und will – vermutlich ebenso wie die kleine Caít dem Frieden nicht trauen – gibt es etwas wirklich Nährendes oder ist man schon wieder im Hexenhaus? Eine idyllische, bergende – aber auch zuzeiten düstere – Natur unterstreicht diese Gefühlsambivalenz. Ist man in ihr wirklich aufgehoben?
Die Kamera umkreist das Mädchen, kommt ihm nahe und bleibt stets dabei wie ein wachsames Auge. Kamera und Natur fungieren hier als gewissermassen mütterliche Objekte, die das Kind begleiten, in seiner Desorientierung auffangen und ihm helfen, Leerräume mit schlimmen Geheimnissen zu ertragen. Sie fängt Lichtreflexe auf dem Wasser ein, als wollte sie dem Kind – und damit dem Zuschauer – die schöne Seite der Welt zeigen. Ein Aufgehobensein im Sehendürfen und Gesehenwerden. Auch in ihrer Düsterkeit hat die Umgebung etwas seltsam Tröstliches. Kleine Dinge und Gesten – nur angedeutet – schaffen zunehmend Geborgenheit.
Aber warum wurde das Kind wirklich weggeschickt, warum wurde es aufgenommen?Ersteres bleibt unklar, die Aufnahme in die Pflegefamilie wird erklärt durch eine geschwätzige Nachbarin – hier wirklich der Prototyp der bösen Hexe – die Pflegefamilie hat einen Sohn verloren, das Mädchen soll einen Leerraum füllen. Wird es in eine Funktionalisierung ausarten? Der Pflegevater behandelt sie zunehmend wie einen Sohn, sie hilft bei der Stallarbeit, gemeinsam hat man Kontakt zu Tieren, das verstummte Mädchen beginnt Fragen zu stellen.
„Warum dürfen Kälbchen nicht bei ihren Müttern bleiben und die Muttermilch trinken?“
„Die wird verkauft! Das Kälbchen bekommt Hafermilch.“
(Die wiederum gekauft werden muss.)
Die ganze Widersinnigkeit der Situation eines abgeschobenen Kindes artikuliert sich hier – es bekommt ein Surrogat und für die Muttermilch gibt es andere Verwendung, sie steht ihm nicht zu. Die Kamera steht hier im Dunkel des Stalls, hinter dem Kälbchen und beobachtet den Fütterungsvorgang aus der Position des Hungrigen, steht wieder auf der Seite von Caít. Nichts ist mehr an seinem richtigen Platz, aber in der spracharmen, aber wohlwollenden Gegenwart der Pflegeeltern kann das Mädchen gedeihen, Fragen stellen und neue Bindungen knüpfen, die am Ende wieder zerrissen werden als sie in die Familie zurück muss in der vermutlich häusliche Pflichten auf sie warten.
Der Film bricht ab in einem Moment, als die Weichen für die Zukunft gestellt werden – in der Schlusseinstellung fällt sie ihrem Pflegevater zum Abschied in die Arme, er erwidert die Umarmung, die Kamera kommt noch einmal ganz nahe, ist als verbündeter Dritter dabei. Ein bisschen Hoffnung, dass er sie wieder mitnimmt oder dass zumindest etwas bleibt – so empfindet es jedenfalls der Zuschauer.
Wer stille, handlungsarme, minimalistische Filme mit Tiefgang, subtiler Spannung und guter Kameraarbeit liebt ist hier gut bedient.