Replik zu: Das andere Mädchen
Nachdem mir Anja dankenswerterweise das Buch (deutsch, weil mit dem Französisch haperts) mitgebracht hat, musste ich … mich zunächst mal überwinden. Über vierzig Jahre in einem Beruf, in dem man täglich Geschichten von Menschen über noch mehr Menschen erzählt bekommt, prädestinieren nicht gerade zur abendlichen Einverleibung zu noch mehr Geschichten von und über Menschen. Da brauchts eher etwas Menschenleere oder die wohltuende Distanziertheit und Steuerbarkeit eines Fernsehgeräts, das nicht beleidigt ist, wenn man es ausknipst.
Irgendwann ist die kritische Masse eben erreicht. Viele Kollegen meiner Zunft geben an, sich abends ausgesaugt zu fühlen, ich fühle mich eher wie eine genudelte Gans – zuviel Abfüllung mit Fremdschicksalen, zuwenig Raum für Eigenes. Belletristik hat von daher eine recht geringe Chance, von mir genossen zu werden und mein Sympathie-Radar endet bei Böll, Mann, Frisch und danach fällt mir recht wenig ein, was mich noch zu fesseln verstanden hätte. Dann lieber Sachbücher.
Nun ist die Themenwahl von Ernaux eine durchaus attraktive und auch in meinem Fachgebiet oft anzutreffende: Leerräume in Familien, Delegationen und Funktionalisierungen, Rollenzuweisungen und Überlebensschuld, wer muss gehen, damit jemand kommen darf und was ist das alles überhaupt für eine grausame Mathematik, die Leben gegen Leben aufrechnet und wer hat uns dergleichen implantiert?
Der umstrittene Therapeut Bert Hellinger – Friede seiner Asche – pflegte seine Seminarteilnehmer ihre Familien mithilfe anderer Teilnehmer topisch in den Raum stellen zu lassen und entdeckte dabei oft Leerräume, die auf das gesamte Familiensystem einzuwirken schienen, meistens nicht zum Guten. Einer Freundin, die auch durch eine Leere überrascht wurde, riet er, ihren Vater zu fragen, was er verheimlicht hatte und in der Tat fand sich ein ausserehelich gezeugter und verschwiegener Bruder, der sich sehr freute, seine Schwester endlich kennenzulernen.
Leerstellen sind scheinbar höchst kraftvolle und dynamische Wesenheiten, die in unser Befinden eingreifen und wenn man sich selbst in eine derart aufgestellte Gruppe hineinstellen lässt, beginnen tatsächlich Kräfte an einem zu zerren, die man „ichfremd“ erlebt. Das machte das Buch für mich schon mal interessant. Der Mensch mit seinem horror vacui kommt von Leerstellen nicht los, hier sitzt ja auch die Wurzel von Süchten. Und Leere kaschiert auch oft die Anwesenheit von etwas ganz Anderem und wenn ein Patient berichtet, ihm falle heute nichts ein, kann man sich auf eine sehr bewegte Stunde gefasst machen.
Die von Anja beschriebene kraftvolle Sprache konnte ich zunächst nicht entdecken – klar, Übersetzung – ich fand sie kurz, knapp, Situationen und Sachverhalte beschreibend, stakkatoartig, fast wie aus einem imaginären Gewehr abgeschossen, Telegrammstil, ein Warten meinerseits darauf, dass es besser wird. Aber wie besser?
Ich möchte hineingezogen werden in ein Buch, nicht nebenher laufen oder beobachten. Dann nach exakt 54 Seiten, also ziemlich mittig – ein Kipphänomen – Gefühle, Sätze die wirken, Ahnbarkeit von Zorn und Verzweiflung, Sätze – fast für die Ewigkeit, Anja hat ein paar davon zitiert. Ein direktes Ansprechen der verschwundenen und ausgelöschten Schwester und der Versuch, irgendeine Beziehung zu ihr zu formen, zur ewigen Einseitigkeit verurteilt, denn sie antwortet nicht. Das Lesen wird qualvoll, hier versucht sich jemand an einer unlösbaren Aufgabe, jemand Verschwundenen zu entdecken, weil er ihm sein Dasein verdankt. Und wie kann man Schuld empfinden, wenn man sie bereits reichlich verbüsst hat durch lebenslängliches Ersatz-Sein für einen viel Besseren und Liebenswerteren?
Die Psychotherapie würde die Lösung anbieten: Abgrenzung vom gesamten System und Entdecken der eigenen Identität – das heisst auch Verzicht auf nichterfüllte Liebeswünsche an die Eltern – das ist verdammte Knochenarbeit und schaffen viele nicht – vielleicht ist es auch gar nicht zu schaffen. Vielleicht ist der Brief an die Schwester der falsche Kampfschauplatz und das wirklich traumatisierende Geschehen ist die Zuneigungsleere der Eltern zur Tochter, die nicht ihren Normen entspricht.
Dann operiert man nicht am, sondern neben dem Krankheitsgeschehen. Wie die Autorin ist auch das Buch halb tot und halb lebendig, halb sich selbst originär erspürend und halb durch den Schatten einer Toten definiert und begrenzt. Ein gespaltenes Buch. Insgesamt ein interessantes, sprödes und intellektuelles Werk, das teilweise von Verbitterung zeugt und mich emotional aber nicht wirklich erreicht. Wenn ich es mit einem einzigen Wort beschreiben müsste wäre es: Hart.Mit einem Satz: Ein kristallin erstarrter Zorn und eine kristalline Traurigkeit, an deren Spitzen man sich ritzt und die nicht ins Fliessen kommen kann und mich nicht erreicht. Ich kann über das Buch nachdenken, spüren tue ich dabei nichts.