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2024 27 Apr

Der Schatten des Objekts

von: Ursula Mayr Filed under: Blog | TB | 3 Comments

 
 

Replik zu: Das andere Mädchen

 

Nachdem mir Anja dankenswerterweise das Buch (deutsch, weil mit dem Französisch haperts) mitgebracht hat, musste ich … mich zunächst mal überwinden. Über vierzig Jahre in einem Beruf, in dem man täglich Geschichten von Menschen über noch mehr Menschen erzählt bekommt, prädestinieren nicht gerade zur abendlichen Einverleibung zu noch mehr Geschichten von und über Menschen. Da brauchts eher etwas Menschenleere oder die wohltuende Distanziertheit und Steuerbarkeit eines Fernsehgeräts, das nicht beleidigt ist, wenn man es ausknipst.

Irgendwann ist die kritische Masse eben erreicht. Viele Kollegen meiner Zunft geben an, sich abends ausgesaugt zu fühlen, ich fühle mich eher wie eine genudelte Gans – zuviel Abfüllung mit Fremdschicksalen, zuwenig Raum für Eigenes. Belletristik hat von daher eine recht geringe Chance, von mir genossen zu werden und mein Sympathie-Radar endet bei Böll, Mann, Frisch und danach fällt mir recht wenig ein, was mich noch zu fesseln verstanden hätte. Dann lieber Sachbücher.

Nun ist die Themenwahl von Ernaux eine durchaus attraktive und auch in meinem Fachgebiet oft anzutreffende: Leerräume in Familien, Delegationen und Funktionalisierungen, Rollenzuweisungen und Überlebensschuld, wer muss gehen, damit jemand kommen darf und was ist das alles überhaupt für eine grausame Mathematik, die Leben gegen Leben aufrechnet und wer hat uns dergleichen implantiert?

Der umstrittene Therapeut Bert Hellinger – Friede seiner Asche – pflegte seine Seminarteilnehmer ihre Familien mithilfe anderer Teilnehmer topisch in den Raum stellen zu lassen und entdeckte dabei oft Leerräume, die auf das gesamte Familiensystem einzuwirken schienen, meistens nicht zum Guten. Einer Freundin, die auch durch eine Leere überrascht wurde, riet er, ihren Vater zu fragen, was er verheimlicht hatte und in der Tat fand sich ein ausserehelich gezeugter und verschwiegener Bruder, der sich sehr freute, seine Schwester endlich kennenzulernen.

Leerstellen sind scheinbar höchst kraftvolle und dynamische Wesenheiten, die in unser Befinden eingreifen und wenn man sich selbst in eine derart aufgestellte Gruppe hineinstellen lässt, beginnen tatsächlich Kräfte an einem zu zerren, die man „ichfremd“ erlebt. Das machte das Buch für mich schon mal interessant. Der Mensch mit seinem horror vacui kommt von Leerstellen nicht los, hier sitzt ja auch die Wurzel von Süchten. Und Leere kaschiert auch oft die Anwesenheit von etwas ganz Anderem und wenn ein Patient berichtet, ihm falle heute nichts ein, kann man sich auf eine sehr bewegte Stunde gefasst machen.

Die von Anja beschriebene kraftvolle Sprache konnte ich zunächst nicht entdecken – klar, Übersetzung – ich fand sie kurz, knapp, Situationen und Sachverhalte beschreibend, stakkatoartig, fast wie aus einem imaginären Gewehr abgeschossen, Telegrammstil, ein Warten meinerseits darauf, dass es besser wird. Aber wie besser?

Ich möchte hineingezogen werden in ein Buch, nicht nebenher laufen oder beobachten. Dann nach exakt 54 Seiten, also ziemlich mittig – ein Kipphänomen – Gefühle, Sätze die wirken, Ahnbarkeit von Zorn und Verzweiflung, Sätze – fast für die Ewigkeit, Anja hat ein paar davon zitiert. Ein direktes Ansprechen der verschwundenen und ausgelöschten Schwester und der Versuch, irgendeine Beziehung zu ihr zu formen, zur ewigen Einseitigkeit verurteilt, denn sie antwortet nicht. Das Lesen wird qualvoll, hier versucht sich jemand an einer unlösbaren Aufgabe, jemand Verschwundenen zu entdecken, weil er ihm sein Dasein verdankt. Und wie kann man Schuld empfinden, wenn man sie bereits reichlich verbüsst hat durch lebenslängliches Ersatz-Sein für einen viel Besseren und Liebenswerteren?

Die Psychotherapie würde die Lösung anbieten: Abgrenzung vom gesamten System und Entdecken der eigenen Identität – das heisst auch Verzicht auf nichterfüllte Liebeswünsche an die Eltern – das ist verdammte Knochenarbeit und schaffen viele nicht – vielleicht ist es auch gar nicht zu schaffen. Vielleicht ist der Brief an die Schwester der falsche Kampfschauplatz und das wirklich traumatisierende Geschehen ist die Zuneigungsleere der Eltern zur Tochter, die nicht ihren Normen entspricht.

Dann operiert man nicht am, sondern neben dem Krankheitsgeschehen. Wie die Autorin ist auch das Buch halb tot und halb lebendig, halb sich selbst originär erspürend und halb durch den Schatten einer Toten definiert und begrenzt. Ein gespaltenes Buch. Insgesamt ein interessantes, sprödes und intellektuelles Werk, das teilweise von Verbitterung zeugt und mich emotional aber nicht wirklich erreicht. Wenn ich es mit einem einzigen Wort beschreiben müsste wäre es: Hart.Mit einem Satz: Ein kristallin erstarrter Zorn und eine kristalline Traurigkeit, an deren Spitzen man sich ritzt und die nicht ins Fliessen kommen kann und mich nicht erreicht. Ich kann über das Buch nachdenken, spüren tue ich dabei nichts.

 

This entry was posted on Samstag, 27. April 2024 and is filed under "Blog". You can follow any responses to this entry with RSS 2.0. Both comments and pings are currently closed.

3 Comments

  1. Alex:

    Danke, Ursula. Ich hätte das Buch sowieso nicht gelesen. Jetzt weiß ich, warum. Es gibt Autoren, die einen nicht erreichen und andere, die es tun. Erzwingen kann man da nichts.

    Das mit dem „topisch in den Raum stellen der Familie“ hört sich interessant an, aber ich habe es nicht ganz begriffen. Geht es darum, eigene Familienmitglieder, die von Seminarteilnehmern „gespielt“ werden, im Raum zu platzieren, wobei dann eventuell Personen vergessen werden, die dann die Leerräume darstellen? Aber wie kann man da jemanden vergessen? Weil die Familie so groß ist oder man Alzheimer hat? Das ist Quatsch, oder?

  2. Ursula Mayr:

    Nö, geht’n bisschen anders.

    Es ist ein sehr atmosphärisch-intuitives Arbeiten. Du müsstest also aus einer Gruppe von Teilnehmern Leute aussuchen, die Deine Familie (erstmal Herkunftsfamilie) darstellen können, das ist schon mal spannend, wen man da nimmt. Meistens einer, der schon eine Affinität zu demjenigen hat, den er darstellt. Dann verteilst Du die im Raum, so wie Du eben empfindest, dass sie zueinander stehen. Für Dich selbst suchst Du auch eine Person und stellst sie rein und guckst Dir das von aussen an. Da wird’s dann oft schon mal emotional. Dann werden die Hingestellten erstmal befragt, wie sie sich in der Position fühlen.

    Dann kommen die Rückmeldungen – ich fühle mich bedrängt, ich kann meine Mutter nicht sehen, niemand schaut zu mir, ich möchte meine Schwester an meiner Seite, warum schaut mein Vater am Rande ins Nirgendwo und nicht zu uns? Was ist mit dem leeren Platz, auf den jeder schaut? (dann oft ein Verstorbener, Ausgegrenzter, abgetriebenes Kind von dem niemand etwas weiss). Ich bin da mal fast zusammengeklappt, weil ich nicht mehr stehen konnte, nachher erfuhr ich, dass ich eine gelähmte Schwester dargestellt habe.

    Danach wird gemeinsam versucht, für jeden einen besseren Platz zu finden und dann darfst Du Dich selbst reinstellen und sehen welche Veränderungen Du brauchst, um Dich wohler zu fühlen – ein Ausgegrenzter darf herein, der Vater schaut auf die Familie, die Mutter steht neben dem Vater und nicht neben dem Opa … das wirkt sehr stark.

    Es sind Konstellationen bekannt, die erfahrungsgemäss wohltuend sind: Die Eltern hinter den Kindern und nicht davor, so dass der Weg ins Leben frei ist, aber Rückhalt besteht, am Rande Stehende, die nach aussen blicken sind oft suizidal, krank oder sie blicken auf eine verlorene Person … usw. Da scheinen Gesetzmässigkeiten zu existieren. Bei Interesse einfach Bert Hellinger youtube googeln und jetzt nimmste ein paar Playmobilpüppchen oder Halmafiguren und stellst Deine Familie.

    Besser als alle Erklärungen.

  3. Alex:

    Danke, jetzt habe ich es auch begriffen. Eine sehr interessante Technik.


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