Zunächst einmal: Cocteau muss man mögen – man liebt ihn, hasst ihn, oder nimmt ihn nicht sonderlich ernst. Surrealismus ist auch nicht jedermanns Sache; diese Kunstrichtung und die Psychoanalyse haben sich aber wechselseitig immer sehr fruchtbar auseinandergesetzt und sind in einem guten Diskurs geblieben. Obwohl es bei den Grosskopferten der analytischen Filmtheorie als banal und degoutant gilt, im Werk eines Künstlers nach Spuren seiner Biographie zu suchen – was die Literaturwissenschaft schon etwa ein Jahrhundertlang in sehr spannender Form praktiziert – fasziniert es immer wieder, wie sehr persönliche Prägungen in künstlerische Formen gegossen werden, wieviel es in uns arbeitet, ohne dass wir es bemerken.
„Orphée“ ist der mittlere Film einer Trilogie, angesiedelt zwischen „Das Blut eines Dichters“ (1932) und „Das Testament des Orpheus“ (1960). C. bedient sich in „Orphée“ (F, 1950) des Orpheusmythos in einer modernistischen Fassung, um eine Weise von Liebe und Tod eines Dichters zu erzählen.
Der Tod ist hier – Überraschung – eine Frau, das hatte zuletzt jemand 2005 in Salzburg bei „Jedermann“ gewagt, als er die Rolle des Todes gegen den Strich mit der Tatortkommissarin Ulrike Folkerts besetzte. Und die machte das nicht mal schlecht.
Der Film vertwistet also den antiken Stoff auf avantgardistische Weise: Es beginnt in Paris, wo alle grossen Lieben beginnen in – im Cafe Flore, dem Treffpunkt der Existenzialisten. Der junge Dichter Cégeste wird von zwei Motorradfahrern und einer schönen Frau, genannt „die Prinzessin“ entführt, Orphée (natürlich Jean Marais in der Blüte seiner Jahre) folgt ihnen; als sie ankommen ist Cégeste bereits tot, die Prinzessin bringt ihn in das Land hinter den Spiegeln, hier die Topoi, durch die der Tod in die Welt tritt.
Orphée begreift, dass sie der Tod ist, er darf noch einmal zurückkehren. Doch der Tod beginnt, sich in ihn zu verlieben, tritt jede Nacht aus dem Spiegel hervor und betrachtet ihn im Schlafe. Cocteau greift hier zum Stilmittel der auf die geschlossenen Augenlider der Schauspieler aufgemalten Augen, deren er sich auch in „Das Blut eines Dichters“ bediente. Der Träger ist sehend und nicht sehend zugleich, er blickt nach innen, während er vorgibt nach aussen zu blicken. Eine vielsagende Metapher.
Der Blick ist auch ein tragendes Element des Orpheusmythos: der antike Orpheus verliert Eurydike, als er sich umdreht und sie anblickt. Hades und Persephone sind erzürnt und rauben ihm die Gattin erneut. Der Blick ist eine Form von Inbesitznahme: wen ich anblicke, trage ich künftig in meinem Inneren, ob er es will oder nicht.
Der Blick ist etwas sehr Machtvolles und Ritualisiertes. In vielen Kulturen darf der Bräutigam die Braut nicht vor der Hochzeit sehen, in der Bibel wird die Inbesitznahme der Frau als „er erkannte seine Frau“ beschrieben. Zwischen Hades und Orpheus geht es offenbar um einen Machtkampf, Persephone mag auch ihre Gründe gehabt haben. Hades will den Zeitpunkt bestimmen, an dem Orpheus seine Frau wieder „besitzen“ kann, ähnlich wie der Brautvater am Altar die Braut dem Ehemann zuführt und erst dann ihre Hand loslässt. Vielleicht, damit sie nicht zwischen zwei Knechtschaften entwischen kann … honi soit …!
Ein Relikt antiker Männerbündelei in scharfkantigen Macho-Hierarchien, das in diesem Falle entgleist: Orpheus ist voreilig, Hades nimmt Eurydike wieder mit. Bei Cocteau gibt es einen Kampf der Frauen: Die verliebte und eifersüchtige Prinzessin nimmt Eurydike mit in das Todesreich, Orphée folgt ihr unter der Führung des Assistenten Heurtebise, betritt das surreale Land hinter den Spiegeln.
Ein verrätseltes Reich voller mystischer und poetischer Zeichen und Botschaften, in dem die Wanderer gegen einen starken Gegenwind ankämpfen müssen, das Jenseits scheint nicht anzuziehen, sondern diejenigen abzustossen, die es betreten wollen. Der Spiegel wirft den Blick zurück, in ihm sehen wir nur was wir kennen. Das uns Verborgene finden wir hinter den Spiegeln, wenn wir weiter sehen wollen als unser Blick reicht. Hier endet das Sehen und beginnt Erkenntnis und Transzendenz. Wenn man Glück hat – Offenbarung.
Mit geschlossenen Augen sieht man mehr und anderes, auch das Unsichtbare. Eine weise Metapher. Orphée bekommt seine Frau dauerhaft zurück, unter der Bedingung, dass er sie nie mehr ansehen darf, somit verbringt Eurydike die meiste Zeit unter dem Küchentisch; die Stimmung wird zusehends reizbar, er scheint sich emotional von ihr abzuwenden, gibt ihr auch keine Gelegenheit, ihm zu sagen, dass sie ein Kind erwartet. Zuviel weibliche Überflutung erzeugt eher Angst als Lust – Cocteau selbst war ausschliesslich Männern zugewandt.
Heurtebise kümmert sich um Eurydike und verliebt sich seinerseits in das biedere, aber herzensgute Wesen. Bei einem versehentlichen Blick in den Rückspiegel erblickt Orphée jedoch Eurydike, und sie verschwindet in das Totenreich. Er selbst wird von den Freunden Cégestes erschossen, die ihn verdächtigen, diesen getötet zu haben.
Der Tod ist jedoch nicht autonom, er/sie untersteht höheren strafenden Instanzen, ähnlich regelhaft wie in Sartres „Les jeux sont faits“; auf die eigenmächtige Entführung von Eurydike ins Totenreich steht Strafe von einer nicht vorstellbaren Schrecklichkeit. Orphée und der Tod treffen wieder aufeinander und gestehen sich ihre leidenschaftliche Liebe. Die Prinzessin opfert sich damit Orphée weiterleben (ein Dichter muss unsterblich sein) und zu seiner Frau zurückkehren kann, sie vermag die Zeit zurückzudrehen und die vergangenen Ereignisse zu löschen, auch dies ein schwerer Regelverstoss, und wird daraufhin von 2 Boten abgeholt. Orphée kehrt zu Eurydike zurück und beide leben wieder zusammen und freuen sich auf ihr Kind.
Diese durchaus fesselnde Dreierchoreographie wird noch spannender, wenn man sich vor Augen führt, dass Cocteau wirklich zwei Mütter hatte. Seine Mutter, eine elegante dunkelhaarige Lebedame, früh verwitwet nach dem Suizid des Gatten – 10 Jahre nach Jeans Geburt – war viel unterwegs und aushäusig, stand sicher viel vor Spiegeln und verschwand allabendlich in für den Jungen fremdartige Reiche. Betreut wurde er von seinem deutschen Kindermädchen, einem biederen, aber herzensguten Wesen.
Nun ist die Beziehung zwischen Mutter und Kindermädchen auch bei oberflächlicher Übereinstimmung problematisch und hochambivalent, geprägt von Rivalität insbesondere auf Seiten der Mutter, die in der Betreuung zwar entlastet wird, aber ihre Vorrangstellung auf dem Herzensthron des Kindes bedroht sieht, während der Liebe zwischen Kind und der Betreuerin immer etwas Verbotenes und zu Verbergendes anhaftet. Oft verliert das Kind auch seine zweite Liebe, wenn die Eifersucht der Mutter zu heftig wird und diese das Kindermädchen schlicht hinauswirft.
Orphée steht ebenso zwischen zwei verbotenen Lieben, er darf keiner der beiden Frauen wirklich angehören, darf sich unter dem Einfluss der Prinzessin nicht mehr zu seiner Familie bekennen, sie sich nicht durch seinen Blick wieder aneignen, den Andeutungen über die Schwangerschaft nicht zuhören.
Kunstwerke, deren Themen Kristallisationslinien innerpsychischer Konflikte und Traumata folgen, beinhalten oft auch Konfliktlösungen und symbolische Wunscherfüllungen des Schöpfers, die ihm im realen Leben nicht gelangen – im Reich hinter den Spiegeln werden sie möglich; oftmals ohne dass er es selbst bemerkt. Die rivalisierende allmächtige Mutter alias die Prinzessin gibt ihn frei, und er darf sich seiner ursprünglichen Liebe wieder straflos zuwenden. Hier könnte aber eine narzisstische Kränkung lauern – die Liebe einer Mutter, die ihr Kind so leicht einer anderen überlässt, kann so gross nicht sein (sollte man denken).
Cocteau umschiffte diese Kränkung geschickt durch das Opfermotiv: die Prinzessin liebt Orpheus nämlich so grenzenlos, dass sie schlimmste Qualen auf sich nimmt, damit er weiterleben, glücklich sein kann, und als Dichter der Welt erhalten bleibt. Diese Vorstellung mag Balsam sein für die Seele eines Jungen, der seine Mutter oft nur zu sehen bekam, wenn sie sich in der Abendrobe an seinem Bettchen von ihm verabschiedete – ein Gegenbild zur Prinzessin, die Nächte damit verbrachte Orphee verliebt im Schlafe zu betrachten, mit ihren sehenden/nicht sehenden Augen. Eine gelungene, selbstwertstabilisierende, konstruktivistische Umdeutung. Eine bedingungslos liebende Frau, aber doch durchdrungen vom Charakter der realen Mutter: bei der ersten leidenschaftlichen Umarmung spürt Orphee ihre Ambivalenz: ich verbrenne! Aber wie von Eis!
Als Jean älter war, wurde die Beziehung zwischen Mutter und Sohn enger, sie nahm ihn häufig auf Reisen mit, besetzte den Königinnenthron im Herzen des Sohnes letztlich doch – zumindest hat nie eine andere Frau darauf Platz genommen. Daneben sass Jean Marais auf dem Königsthron, und so liess es sich leben.
Ob nun Cocteau diesen Mutterkrieg bewusst in sein Oeuvre hineinkonfiguriert hat, oder ob es eher untergeschlüpft ist, bleibt offen; als Surrealist verstand er auch viel von den Kapriolen des Unbewussten und dessen Bildgebung. Andererseits leidet man in Sachen Selbsterkenntnis am „Blinde-Flecken-Syndrom“, weil bei der Spurensuche im eigenen Gehölz sofort sämtliche Abwehrmechanismen hochfahren, aufploppen und die Sicht verstellen. Womit wir wieder beim Blick wären – es ist schwer, hinter den Spiegel zu sehen, wenn man selbst davorsteht. Cocteau lehrt es uns in diesem seltsamen Traum am Berührungspunkt zwischen Leben und Tod.