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2022 11 Mai

Die Party der Grautöne

von: Jochen Siemer Filed under: Blog | TB | 20 Comments

 

 

„Hinter der vorgeblichen Abwehr von Angriffen Putin-Russlands auf die westliche Demokratie verbirgt sich ein globaler Konflikt um Märkte und Ressourcen und damit einhergehend um Führungsansprüche, Begehrlichkeiten und Bündnisse.“

(Yana Milev, Europa im freien Fall)

„Fuck the EU!“

(Victoria Nuland, US-Diplomatin)

 

Ich war sehr neugierig, wie S die Verhältnisse in Kasachstan und in der Ukraine sieht. Die junge Psychologin mit tatarischem Blut kam als Russlanddeutsche. Sie erzählt, Putin sei um Hilfe gebeten worden und habe bei den Unruhen in ihrer Heimatstadt im Februar als willkommener Schutzpatron geholfen. Die Stadt sei ein gefundenes Fressen für allerlei Banditen in den umliegenden Dörfern, eine stabile Lage ohne Direktive von oben sei nicht möglich. In den westlichen Medien würde oft ein verfälschtes Bild verbreitet hinsichtlich der Verhältnisse. Sie habe viele Freunde sowohl in Russland als auch in der Ukraine, es gebe viele Unvereinbarkeiten und Konflikte. In manchen Landesteilen sei es verboten, Russisch zu sprechen, was viele verstört hätte. S berichtete auch vom Anspruchsdenken vieler Geflüchteter, sie mögen doch bitte alsbald eine schöne Wohnung in Deutschland bekommen, das sei wohl selbstverständlich. Ihr selbst wurde das heimatliche Studium in Deutschland nicht anerkannt. Nun aber sollen Ukrainer:innen problemlos in den Arbeitsmarkt integriert werden. Schon vor dem Krieg gab es in deutschen Großstädten zu wenig bezahlbaren Wohnraum, auch für Deutsche. Warum habe man sich nicht dort schon intensiv um diese missliche Lage gekümmert? Eine andere Frage sei die Bewertung, wer letztendlich der Kriegstreiber sei. Stecken die USA dahinter, denen eine Allianz aller Staaten auf dem europäischen Kontinent, also der Allianz von Russland und Europa, langfristig zu mächtig wäre? Sind wir hier in Deutschland etwa ein Spielball der Amerikaner? Ich habe Anton Hofreiter und Marieluise Beck lange und freundlich zugehört. Mir scheint, sie sind etwas einseitig orientiert. Die Bildzeitung mutiert zur Kriegstreiberpresse. Olaf Scholz wurde Besonnenheit als Schwäche angelastet. Mehr Waffen in die Ukraine hiesse Feuer machen im Kamin. Cui bono – wem nützt es? Dass Putin eine persona non grata geworden ist, ein Kriegsverbrecher und Massenmörder, der nicht mehr an einen Verhandlungstisch gehört, klare Sache. Klar ist ebenso, dass Deutschland kein Interesse hat, das gesamte russische Volk als seinen Feind zu sehen. Ich selbst mag das Wort „Interessenspolitik“, für mich persönlich als Manager meiner eigenen Angelegenheiten und auch für mein Land. Meine Meinungsbildung befindet sich in einem stetigen Prozess, ich höre anderen gerne zu, versuche mir ein Urteil zu bilden mittels mehrwertiger Logik. Peter Sloterdijk erwähnte einst Gotthart Günther, den Erfinder des ersten Computers, als einen wichtigen Einfluss. Jenseits des starren Entweder-Oder entfalten sich Grautöne, Nuancen und Zwischenbereiche: der Ort, an dem man selber denkt. Den rigiden Behauptungen vieler Querdenker (beispielsweise der, wir seien alle fremdgesteuert) halte ich gern mal mit Herrn Grönemeier entgegen: „Hör auf mit der Laberei, wir feiern hier ’ne Party und du bist nicht dabei!“

 

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20 Comments

  1. Michael Engelbrecht:

    „Sie erzählt, Putin sei um Hilfe gebeten worden und habe bei den Unruhen in Almaty im Februar als willkommener Schutzpatron geholfen. Die Stadt sei ein gefundenes Fressen für allerlei Banditen in den umliegenden Dörfern, eine stabile Lage ohne Direktive von oben sei nicht möglich.“

    Sie erzählte. Das ist also eine Version. Ich kenne die Wahrheit nicht. Aber dass ein Soziopath und Faschist um Hilfe gebeten wurde, und dann Banditen verscheucht haben soll, um eine stabile Lage herzustellen … na ja. Fast anrührend :( … Hitler liebte auch seine Hunde.

    Das mit dem Gespür für Grautöne ist eminent wichtig. Dass man eben der Schwarzweißmalerei widersteht! Dass sich da das Denken gut einrichten kann, abwägen, schlussfolgern, das ist nur zu wahr.

    Meinungsbildung, die sich im Prozess findet, erstarrt nicht.

    Aber dann kam eine Bekannte des Hauses hierhin, und erzählte, Putin sei ein analytisch denkender Mensch. (Ich glaube nicht, dass sein Denken analytisch war in der Zeit der Kriegsplanung).

    Seine Rede zum 9. Mai ist die Rede eine komplett Irren, der seinen Irrsinn hinter seinem Patriotismus zu verstecken sucht. Dass die in der Ukraine grossenteils brachliegenden Weizenfelder für immense Hungersöte in Teilen Afrikas auslösen, ist Putin unendlich gleichgültig.

    Dann meinte der Gast, dass sie die Politik der USA besser verstehen könne als ich, weil sie mal anderthalb Jahre dort gelebt habe. (Ogottogott)

    Dann meinte der Gast, Biden sei das kleinere Übel, im Verhältnis zu Trump. Ich sagte: Biden ist eindeutig das grössere Glück.

    Mittlerweile wurden, so erzählte mir ein bei uns lebender russischer Arzt, alle im Ausland arbeitenden Russen seien nun prinzipiell zu Feinden erklärt worden.

    Das Gespür für Grautöne bleibt essentiell. In der kompletten Finsternis eines Geistes wie Putin gibt es Grau allerdings nicht mehr. Um im Bild zu bleiben. Es ist ein irrer Aufwand an Propaganda nötig, dieses trostlose Schwarz seines mentalen Zustandes zu kaschieren.

    In einer Rede sagte er vor Wochen sinngemäss: „Man erkennt schnell, wer ein Patriot ist. Wer kein Patriot ist, wird wie eine Fliege zerdrückt oder ausgespuckt.“

    Nochmal: Biden halte ich tatsächlich für eine gute Option. Dass die kommenden Wahlen seine Handlungsfähigkeit einschränken könnten, und bei den nächsten Präsidentschaftswahlen die amerikanischen Wähler den Irrsinn von 2016 wiederholen – gut möglich, und potentiell sehr bitter.

  2. Lajla:

    Jochen, ich bin dir sehr dankbar für deinen Text.

    Ich höre nächtlich in unserem Staatssender „Fazit, die Kultur vom Tage“. Die ständig einseitige Berichterstattung über ukrainische Künstler hat mich dazu veranlasst, dem Dlf zu schreiben, dass ich die Berichterstattung über russische Künstler vermisse, dass gerade die Kunst grenzenlos sei – sozusagen „jenseits von Gut und Böse“.

  3. Jochen:

    @ Lajla

    Bin ja gespannt auf Sloterdijks aktuelle Farbenlehre – hab’s noch nicht gelesen.

    Man spricht von einem (Alters-) Meisterwerk. Er war ja immer ein Garant dafür, das Denken in alle Richtungen offen zu halten – als Querdenker der unterhaltsamen Art.

  4. Lajla:

    Ich bin auch sehr neugierig auf sein neues Werk. Ich komme im Juni nach Deutschland. Sloterdijk steht ganz oben auf der Einkaufsliste und L.A.B. die Wahnsinnsband aus New Zealand. Sie sind aufgewachsen mit Steely Dan und LED Zeppelin und jetzt machen die fünf Jungs einen noch besseren Sound als ihre Idole. Ihre Texte sind auch gut. Bei mir läuft jedenfalls täglich „Under The Sun“ von ihrem neuen Album FIVE.

  5. Lajla:

    Ich empfehle sehr, die Sendung, die zwar schon 2015 ausgestrahlt wurde, anzuhören. Der russische Schriftsteller Jerofejew erklärt darin sehr plausibel den Russen, den Ukrainer und ihre Unterschiede zum Europäer.

    Putin, Russland und die Krim – Viktor Jerofejew im Gespräch | Sternstunde Philosophie | SRF Kultur

  6. Jochen:

    Schliesse mich der Empfehlung unbedingt an. Das Gespräch hatte ich vor einer Woche bereits genossen. Jerofejew spricht eindrucksvoll auch über den Szenenwechsel im ehemals „ukrainischen Saint Tropez“: nun seien die russischen Mütterchen dort Urlaub machen statt der hippen Kiew-Jugend, statt high life tote Hose. Man erfährt sehr viel über die Absurditäten der russischen Identität, von einem kritischen und doch liebevollen Insider, der auf der Krim aufgewachsen ist und gelebt hat.

  7. Ursula Mayr:

    Micha:

    Dass ein Narzisst und Soziopath Banditen verscheucht, ist durchaus drin: zum Zwecke der Selbstinszenierung und Selbstdarstellung. Denk an Alexis Sorbas in der Szene, als er dem Mob entgegentritt, der die hübsche Witwe steinigen will und sie vom Boden aufhebt. Welche Geste! Dann lässt er sie stehen, geht weg und die Steine prasseln. Es geht gar nicht um die Frau, es geht um die Geste. Ein Narzisst par excellence! Wahrscheinlich waren wir früher ähnlich drauf, weil wir das alle nicht gemerkt haben. Oder die Sehnsucht nach urwüchsiger Männlichkeit im Outlaw-Status in Kontrast zu unseren braven Familienpappis.

  8. Michael Engelbrecht:

    Uschi:

    Schon klar. Gutes Beispiel. Hatte das auch als Selbstinszenierung gesehen.

  9. Lajla:

    Ich habe die Steinigungsszene anders verstanden. Kazantsakis, der Autor von Alexis Sorbas war biblisch inspiriert. Es hat mich an die Geschichte von der Sünderin (Fremdgeherin), die Jesus vor der Steinigung der Gelehrten (also nicht Mob) rettet, erinnert.

  10. Ursula Mayr:

    Ja, wenn er sie gerettet hätte, würde ich ja nichts sagen …

  11. Lajla:

    Buchvorlagen finden in Filmen oft kreative Veränderungen. Jetzt aber nur zu sagen: es war die Geste, er ist ein Narzisst, hmm … und „wahrscheinlich waren wir früher ähnlich drauf“. Was du damit sagen willst, weiß ich nicht.

  12. Ursula Mayr:

    Zur Person Sorbas, wenn ich ihn jetzt so am Biertisch kennenlernen würde:

    Er stromert durch die Gegend, sucht Gelegenheitsjobs, lebt sein Leben. Er hat Familie, sein kleiner Sohn ist verstorben, das hat ihn umgeworfen. Das Tanzen hilft ihm. Wovon lebt seine Familie? Warum ist er nicht bei ihnen, um ihnen über den Schicksalsschlag hinwegzuhelfen. Muss die Mutter an den Pflug oder in den Weinberg? Wer ist dann bei den Kindern? Er scheint nur mit sich beschäftigt. Anvertrautes Geld mit dem er sich und seinem Arbeitgeber eine Existenz aufbauen könnte, gibt er im Puff aus und findet auch gar nichts weiter dabei. Er begleitet scheinbar liebevoll eine alte Dame in den Tod, hinterher fällt sinngemäss das Wort alte Schlampe. Er tritt den Leuten bei der Steinigung entgegen und tut, als wolle er die Witwe schützen, geht aber gleich wieder weg, wobei er fast noch hört, wie die Steine fliegen. Gute Sprüche und Gesten hat er drauf. Als die Seilbahn zusammenbricht – die wiederum eine Existenzsicherung auch für seine Familie bedeutet hätte und auch für das Dorf einiges gebracht, feiert er dies mit einem eindrucksvollen Tanz. Als literarische Figur okay und interessant, aber realiter würde ich mich mit so jemanden kein zweites Mal daten, weil ihm jeder andere ausser ihm selbst anscheinend herzlich egal ist.

    Die Frage für mich lautet also, warum wir den Typen damals alle so toll fanden – okay, Anthony Quinn ist hinreissend – trotz seiner deutlichen menschlichen Defizite, die wir damals zu sehen wohl nicht fähig waren? Welcher Faszination sind wir erlegen und weshalb? Was hat UNS gefehlt?

  13. Lajla:

    Für mich ist die große Faszination nicht in der Rolle von Anthony Quinn in dieser Szene, sondern die große Faszination war doch, als im Film alles zusammenbricht und es trotzdem weitergeht. Diese Leichtigkeit in Sorbas’ Aufforderung: TANZ, vermittelte ein freies Gefühl. Also mir hat 1964 nichts gefehlt. Ich war sehr viel in Clubs unterwegs. Du meine Güte, es gab die Kinks, die Stones, noch die Beatles.

  14. Ursula Mayr:

    Ist ja auch schön, wenn es Menschen gibt, denen nichts fehlt. Aber dann stellt sich doch die Frage, warum diese Generation so heftig revoltierte, wenn ihnen nichts gefehlt hätte, warum sich später die Frauenbewegung und die Friedensbewegung konstituierte, wenn alle so zufrieden gewesen wären. Drogen wurden eingeschmissen. Später liebäugelte man mit Bhagwan. Graues Nachkriegsdeutschland, bleierne Zeit, Adenauer, Leistungsgesellschaft, vorgezeichneter Lebenslauf insbesondere bei Mädchen, bildungsfeindliche Elternhäuser, besonders bei Mädchen, Familiengründungserwartungen, Eigentumswohnung, eine tägliche Arbeit, die einen nicht interessierte, kurzes Abtauchen an Wochenenden und in Urlauben, dann wieder Tretmühle – was nützen mir da die Kinks, wenn der Sunday Afternoon vorbei ist und ich morgen um sechs raus muss?? Da fehlte vielen eine Menge! Und jemand, der sich in Kreta durchs Leben tanzt, wird als Lebensmodell und Ausbruchsphantasie aufgesaugt wie von einem trockenen Schwamm. Und ich fürchte, es gab viele trockene Schwämme in dieser Generation, die diese Leichtigkeit suchten. Und manchmal auf Windeier reinfielen.

  15. Jochen:

    Sloterdijk sprach in Ànlehnung an William James von den glücklichen „Einmalgeborenen“ (once born) und jenen, die wie Stehaufmännchen/weibchen immer wieder neue Anfänge (und vielleicht auch Identifikationen) suchen, auch aufgrund traumatischer Erfahrungen.

    Man begehrte auf gegen all das, was du wunderbar aufgelistet hast, Ursula. Was die Elterngeneration uns auch mitgab, war die Traumatisierung durch Kriegserfahrungen. Das lastete wie ein bleierner Schatten. Einem Iren, der von seinem Land schwärmte (on the road down to Galway), gestand ich einst neidvoll: „Ihr habt dieses Nazi-Ding nicht.“

  16. Michael Engelbrecht:

    Ich denke, es gibt auch hier das grosse Bunte Dazwischen

    Auf der einen Seite die wenigen lucky one born creatures

    Auf der ander die wenigen hier sog. und beschriebenen Stehauffrauchen/männchen

    Und dazwischen das grosse vielfältige schillerne Leben… lucky, sad, searching, beginning, dancing, living… die „Party der bunten Töne“ saugt zudem die Ränder auf – und die Typologien

    Je nachdem, wohin der Blick sich richtete, fehlte den lucky ones dann doch einiges, und den standup creatures ging nicht der Sinn für grosse Feste und Kontinuitäten ab

  17. Ursula Mayr:

    Herrlich – stand up creatures. Hast Du das erfunden?

    Übrigens gab’s Bafög erst ab 1973, da mussten viele Studenten nebenher malochen, wenn’s das Elternhaus nicht hergab. Wenn jemand also einen alten Frankenwein geniesst, dann denke sie/er bitte daran, dass ich vielleicht mit angejahrtem Strohhut und Schlaghosen die edlen Reben gepflückt habe.

  18. Michael Engelbrecht:

    Haha – so schwer war das nicht, aus den zwei Polen, schreibend, einen Mix herzustellen. Epiphänomen gedankengeleiteten Improvisierens (ist mir beim Texten gar nicht aufgefallen das es ein Kom-Positum ist.)

    Wenn man beim Schreiben denkt, wird das Schreiben rational. Wenn man vor dem Schreiben denkt (ein Gedanke als Motiv reicht schon), wird das Schreiben schwebend, fliessend… (ist natürlich pointiert ausgedrückt!)

  19. Ursula Mayr:

    Ich denk manchmal erst nach dem Schreiben …

  20. Michael Engelbrecht:

    Da steckt viel Gutes drin, wird einem aber in der Regel angekreidet.


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