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2022 24 Apr

Der stille Entzug

von: Jochen Siemer Filed under: Blog | TB | Tags:  | 11 Comments

„In Betracht der Freiheit ist das Geschäft der Historiker noch immer dasselbe wie das der Inquisition: die Ausrottung. Es ist gerade nicht das Mißverständnis, das tödliche Konsequenzen hat, sondern das faktische Besserwissen.“

(Dietmar Kamper, Der Augenblick des Ketzers)

 

Diskurse umschwirren mich wie Motten das Licht. Es gibt den Topos von der Ökonomie der Aufmerksamkeit. Dem zufolge buhlen in digital-medialen Zeiten Inhalte um die Gunst des Rezipienten und Sender rufen in der Wüste: „Empfänger verzweifelt gesucht!“ Dies gilt auch und besonders für Verschwörungstheorien. Ausgerechnet in einer Satiresendung meines Vertrauens fand sich ein Gedanke expliziert, den meine Wenigkeit zuvor schon vage ausbaldowert hatte und deshalb in meinem mentalen Kosmos auf Resonanz stiess: dass nämlich diesem ganzen Problem der Querdenkerei eines der Aufmerksamkeits-Ökonomie zugrunde liegt. Die gesamte Szene nimmt im Verhältnis zu ihrer Relevanz viel zu grossen Raum ein. Was interessiert es mich, von wem einst John F. Kennedy „tatsächlich“ ermordet wurde? Was interessiert es mich, wie die Türme des World Trade Centers „in Wirklichkeit“ zu Fall kamen? Pigalle, Pigalle, das ist die grosse Mausefalle von Paris: sich nämlich überhaupt mit derlei Dingen zu beschäftigen. Viele Sachverhalte im Kontext inquisitorisch-historischer Faktenlaberei sind nämlich marginal, sie lenken unnötig ab. Zudem zeigt sich bei jenen, die vorgeben, sie würden hinter den Vorhang schauen, selbst ein Verhalten, das eigentlich nach aussen hin bekämpft werden sollte: notorische Besserwisserei. Ganz im Sinne des Tao gefiel es mir ja immer, wenn der Geist spielerisch und frei umherschweift, auch in der Kunst. Traue niemandem, der sie nicht mag: er kann nämlich zwischen den Zeilen weder wandern noch lesen. Und die wunderbare Luisa Neubauer bringt es in einem dreistündigen Interview auf den Punkt: „Choose your fights!“ Man muss nicht angesichts jeglichen Schwachsinns gleich zur rechtfertigenden Gegenargumentation aufrüsten. Oft hilft schon der stille Entzug.

 

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11 Comments

  1. Ursula Mayr:

    Choose your fights! Wie recht Du hast! Und wie erholsam das wäre …

    Aber wenn andererseits die allgemeine Gesundheit auf dem Spiel steht? Kann man sich da so raushalten??

  2. Uli Koch:

    Nun, Verschwörungstheorien gibt es, weil es Verschwörungen gibt und der menschliche Geist ungern ruht, bevor er nicht eine Erklärung gefunden hat. Aber das ist ja nicht das Problem. Das Problem besteht darin, dass viele und nicht zu selten auf Stammtischniveau eine Erklärung für alles haben, sei es nun handlungsrelevant oder bedeutsam oder halt eben nicht.

    Vielleicht ist es mehr das Fragen, das uns fehlt, wenn es gerade keine erklärende Antwort auf die Widersprüche rudimentärer massenmedialer Erklärungsmodi gibt. Das wäre die philosophische Vorstufe zu einer Theorie, aber viel unvoreingenommener und ergebnisoffener: choose your challenges!

  3. Ursula Mayr:

    Ich sehe bei Verschwörungstheoretikern sehr stark die narzisstische Komponente in Form einer Ich-Durchblicker-Du-dummer-Lemming-Kollision und dem Bemühen dem Lemming die Wahrheit in den Cortex zu trichtern. Das ist das Ärgerliche dran. Im Falle von Chemtrails oder Morgellon-Krankheiten könnte mir das gleich sein, aber im Falle der militanten Impfgegner kann ich das nicht so entspannt sehen.

  4. Jochen:

    @ Ursula

    Danke, das ist klar verständlich gesagt und gut nachvollziehbar. Es soll einem von der Warte einer „höheren Wahrheitsinstanz“ etwas penetrant eingetrichtert werden, deshalb auch das Inquisitions-Zitat. Eine Art mentales Water-Boarding.

    Das macht mich ungeduldig, ratlos, ärgerlich, zuweilen zornig. Und dann diese Resilienz gegenüber rationalen Gegenargumenten. Beispiel Twin Towers: zu viele Menschen wären involviert gewesen in so ein „Geheimprojekt“, es wäre ein Leck entstanden.

  5. Ursula Mayr:

    Ich denke an die viele Zeit, die im Bereich des Gesundheitswesen verdiskutiert wurde, um den Leuten eine Impfung nahezulegen, insbesondere in Arztpraxen, wie mir geklagt wurde, teilweise hat sich da auch die Arbeitszeit verdoppelt da ja auch nach Feierabend dann geimpft wurde. Tagsüber musste man dann über mögliche Unfruchtbarkeiten und genetische Veränderungen, Umprogrammierungen, Illuminaten und Reptiloiden debattieren, meistens erfolglos.

    Und darüber, dass man nichts „Fremdes“ im Körper haben möchte, worauf die beste Antwort wäre, dass man dann am besten auch nichts mehr essen und trinken sollte. Und auch nicht atmen. Und sich auch nicht hinterher einen Burger und ein XXL – Cola reinpfeifen. Für Minderbegabung kann keiner was, ist auch nicht schlimm wenn sie nicht mit Besserwisserei gepaart ist, dieses Duo ist dann so unbesiegbar wie Bud Spencer und Terence Hill beim gemeinsamen Auftritt in einer Bar voller Schurken.

    Schärfstes Argument in einer sich schneeballartig verzweigenden Diskussion mit einer Patientin (wir landeten dann bei Krebserkrankungen), dass man an Krebs Verstorbene nicht auf dem Friedhof beerdigen sollte, da ginge der Krebs dann ins Grundwasser und dann steckten sich alle damit an. Auch wenn sie verbrannt werden.

    Herr, gib mir Gelassenheit … macht er aber eh nicht! Kenn ich schon …

  6. Lajla:

    Ja, es ist „das Fragen, das uns fehlt“. Ich möchte nicht nochmal in die gleiche Diskussion einsteigen. Hatten wir doch schon. Vielleicht kurz ein neuer Input: Querdenker zu sein, war mal ne Ehre. Putinversteher, was gibt s da zu verstehen? Ich finde die sich verändernde Bedeutung von Wörtern interessant.

    Übrigens: Ich bin 2x geimpft, 1 x geboostert, viel herumgereist während der Pandemiezeit. Jetzt komme ich von einer dreitägigen Mountainbike Tour durch große einsame Gegenden zurück – und bin positiv.

  7. Michael Engelbrecht:

    Ächzzz, ja, traurig, leider ziemlich zeitlos. Ich zitiere einen Satz über das Buch eines Philosophen, den ich schätze, seit Ernst Bloch ihn mir, als ich 20 war, in einem Strandkorb auf Langeoog nahebrachte:

    Die 1585 in London erschienene „Cabala del cavallo pegaseo“ ist Giordano Brunos radikalstes Werk, ein über weite Strecken außerordentlich vergnüglich zu lesender, beißend ironischer Text über die menschliche Dummheit, die grauenhaften Folgen des religiösen Fanatismus, die damit einhergehende Verdunkelung der Wahrheit und die daraus resultierende Malaise in der wissenschaftlichen Kultur.

  8. Ursula Mayr:

    Positiv getestet oder schon richtig krank??

    Auf jeden Fall alles Gute!

  9. ijb:

    Oha. Ich sorge mich auch, dass ich am Ende ausgerechnet dann mal ein positives Testergebnis bekomme, wenn ich kurz vor einer Reise stehe. Die Zahlen gehen ja wieder etwas runter, aber dennoch sind wir, die bislang noch kein positives Ergebnis hatten, noch immer recht viele.

    Aber: Soweit ich weiß, ist es nicht ganz korrekt zu sagen „zwei mal geimpft + geboostert“, da längst offiziell anerkannt ist, dass die Corona-Impfung aus drei Dosen besteht (wie z.B. auch die FSME-Impfung) und damit erst mit drei Stichen als vollständig gilt. Die „Booster“-Bezeichnung wurde eigentlich nur für die Vermarktung genutzt, sozusagen damit weniger Kundige das Gefühl haben, es wäre sozusagen einfach eine zusätzliche Option.

    Den Begriff „Putinversteher“ finde ich auch problematisch bis daneben. Zwischen Verstehen und Rechtfertigen liegt ja doch noch ein enormer Schritt. Auch wenn es mir schwerfällt, das unmenschliche Verhalten eines Tyrannen und solchen rücksichtslosen Kriegsführers nachzuvollziehen, kann ich mir dennoch die Mühe machen, seine Motivation zu verstehen. Das heißt ja nicht, dass ich das Verhalten auch nur in Ansätzen gutheiße. In etlichen Kommentarspalten und Foren wird das „Verstehen“ aber mittlerweile mit Gutheißen oder Rechtfertigen gleichgesetzt. Das finde ich echt schwierig bis erschütternd, diese ideologischen Streitereien, die sich anmaßen, Bedeutungen von im Alltag allgemein üblichen Wörtern neu zu definieren.

    @Jochen
    Luisa Neubauer finde ich inhaltlich in der Tat auch „wunderbar“ und wichtig. Ich tue mich nur leider echt schwer damit, ihr länger zuzuhören, weil sie ihre Stimmlage so oft in eine gepresste mädchenhafte Stimme verschiebt. Und ich verstehe gar nicht, warum… Daher kann ich aber zumindest gut nachvollziehen (verstehen), warum sie viele Leute als so nervig und anstrengend empfinden/beschreiben. Ich denke, das hat sehr viel weniger mit ihren Inhalten zu tun als mit dem Gestus ihrer Stimme.

  10. Lajla:

    @ Ursula. 5 Tage krank mit Fieber und Husten. 4 Antigentests gemacht. Zwei positiv, zwei negativ. Michael, deiner war auch dabei. 😀

  11. Michael Engelbrecht:

    @ Lajla: get well soon, und immer daran denken: im Düsseldorfer Möbellager wartet ein Gedichtband von Thomas Rosenlöcher auf dich.


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