Derzeit in der arte-Mediathek, wundersamerweise nicht mal geogeblockt: Thomas Steinaeckers 50-minütiger Film Electronic Vibrations, Untertitel: Ein Sound verändert die Welt.
Drunter tun wir’s nicht. Schon der Einstieg zeigt, wie sehr sich die Wahrnehmung elektronischer Musik in den letzten Jahren in ein ganz anderes Genre verschoben hat. Wer heute mit 20-Jährigen über elektronische Musik spricht, muss darauf gefasst sein, dass die darunter völlig selbstverständlich Tanzmusik verstehen. Da ist ein Blick zurück sicher sinnvoll.
Der Film ist arte-typisch Frankreich-orientiert und beginnt gleich mit einem Missverständnis. Die Anfänge der elektronischen Musik werden vor allem in Frankreich verortet, insbesondere bei Pierre Schaeffer. Dessen Musique concrète war in der Tat hochinteressant und ist auch heute noch hörenswert, aber sie hatte (1.) nichts mit elektronischer Musik zu tun, sondern mit Schallplatten, später Tonbändern und aufgezeichneten Originalklängen, und (2.) war Schaeffer keineswegs der erste, der sich an solchen Werken versucht hat. Der erste, dabei würde ich immer bleiben, war Walter Ruttmann mit seiner Klangmontage Weekend von 1930. Da es noch keine Tonbänder gab, kam Ruttmann auf die Idee, Lichttonfilm zu verwenden. Den konnte man schneiden und beliebig montieren. Selbst die große Lotte H. Eisner war begeistert von dem Resultat. Aber wie gesagt: Mit elektronischer Musik haben solche Montagewerke nichts zu tun, ebensowenig wie die im Film erwähnte „Revolution No. 9“ vom Weißen Album der Beatles (das eigentlich ohnehin nur zeigt, dass sie Stockhausen nicht so ganz verstanden hatten).
Bis zum nächsten Missverständnis dauert es nicht lange. Natürlich kommt man an der Pionierrolle Karlheinz Stockhausens nicht vorbei, und was sein Sohn Simon zu dessen Werk zu sagen hat, ist allemal spannend. Da bewegen wir uns in der Mitte der 1950er Jahre, das legendäre Studio für Elektronische Musik wurde im tiefen Keller des WDR-Funkhauses gegründet und „Elektronische Musik“ groß geschrieben, weil man das, was dort produziert wurde, als eigenständiges Genre wie Jazz oder Streichquartett ansah. Dass Stockhausens erste vollelektronische Studien einiges von den Hörern verlangt haben, ist sicher; mehr noch der legendäre Gesang der Jünglinge, der, weil leicht auf YouTube auffindbar, wahrscheinlich in vielen Fällen das einzige ist, was man von Stockhausen überhaupt kennt. Dass es allerdings, wie der Film behauptet, bei der Aufführung vor Publikum im Sendesaal zu Schlägereien gekommen sei, ist ebenso ein Märchen wie die angebliche Massenpanik bei der Ausstrahlung von Orson Welles‘ Hörspiel War Of The Worlds oder der Aufruhr bei den Uraufführungen von Stravinskys Sacre du Printemps oder Ravels Bolero. (Aber jeder Komponist hätte sich solches natürlich gewünscht.) — Das Missverständnis liegt hier darin, dass der Film mit Ausschnitten zu zeigen versucht, Stockhausen habe die Erfahrungen mit seinen elektronischen Werken auf das Orchester übertragen. Nein, hat er nicht! Werke wie Carré für vier Orchester und vier Chöre oder Gruppen für drei Orchester spielen vor allem Stockhausens Idee durch, instrumentale Klangfarben und Klangmischungen und ihre räumliche Positionierung in den kompositorischen Prozess einzubeziehen, und er tat das, etwa in Punkte für Orchester, lange vor den elektronischen Kompositionen. Diese Erfahrungen hat er dann auf seine elektronischen Werke übertragen. Es mag gewisse Gleichzeitigkeiten gegeben haben — aber wer seine Werke kennt, weiß, dass das ein Lebensthema für ihn blieb.
Und so geht es weiter. Die alte Mär von der musikalischen Wüste im Deutschland der 1960er Jahre, in denen es angeblich nur schreckliche Schlager und sonst nichts gab, darf nicht fehlen, und die selige ach so wilde 68er Zeit desgleichen. Dass Autobahn 1974 ein Geniestreich war, ist unbestritten, dass damit ein neues Musikgenre erfunden wurde, darf man aber anzweifeln — elektronische Popmusik gab es schon vorher. Ralf Hütters Spruch „Wir können nicht so gut reden, deshalb machen wir Musik“ wird ebenso unvermeidlich hervorgekramt wie die falsche Feststellung, der DJ Afrika Bambaataa habe in seinem „Planet Rock“ Samples aus Kraftwerks „Trans Europa Express“ verwendet. Nein, hat er nicht! Er zitiert kurz das Stück, und das auch noch falsch. Das ist alles. Und natürlich darf nicht fehlen, dass daraus Hip-Hop, Acid House und sonstnochwas hervorgegangen ist. Als ob Musiker wie Quincy Jones oder Herbie Hancock wirklich auf Kraftwerk angewiesen gewesen wären, um groovende Rhythmen zu zaubern — ich denke ja, Miles Davis‘ On the Corner war da sehr viel wichtiger, auch wenn die heutigen Musiker das vielleicht gar nicht mehr wissen. Und plötzlich ist man dann holterdipolter in der Love Parade. Aber geschenkt, 50 Minuten sind halt nicht länger.
Trotzdem ist Electronic Vibrations sehenswert. Jean-Michel Jarre, Jan Werner, Peter Baumann und einige andere vermitteln durchaus nachdenkenswerte Einblicke, auch werden einige Künstlerinnen und Künstler vorgestellt, die sich mit der Elektronik befasst haben und von denen ich nie gehört habe. Dass dabei ein Name wie Oskar Sala fehlt, ist bedauerlich. Die unterschiedliche Herangehensweise deutscher und amerikanischer Musiker an den Synthesizer und die resultierende unterschiedliche Musik wird immerhin angedeutet, wenn auch nicht ausgeführt. Aber siehe oben: Man kann in 50 Minuten ein so umfangreiches Feld wie die Geschichte der elektronischen Musik nicht komplett beackern. Der Film gibt eine Menge Anregungen, mal wieder in die Plattenkiste zu greifen.