Ich hatte die Schallplatte mit den Gesängen der Buckelwale bei Zweitausendeins gekauft, himmelblaues Cover, und fühlte mich avantgardistisch damit. Das Wort „Feldaufnahmen“ kannte ich noch nicht. Ich hörte den Begriff zum ersten Mal in Michaels Sendung und dachte, es sei eine Erfindung von ihm. Eine Radiosendung mit Michael hörte ich zum ersten Mal, weil ich rein zufällig an einem Samstag Nachmittag im Juli 1995 das Radio anschaltete, zu „Radio Unfrisiert“. Man konnte Hintergrundmaterial anfordern und erhielt zusammenkopierte Playlisten und Rezensionsauszüge, und das Gefühl, zu einem besonderen Kreis zu gehören. Schätze, die ich sorgsam aufbewahre. Die Spur verlor sich. Im Herbst 1998 entdeckte ich den Deutschlandfunk und Michaels Namen im Programmheft. Seither habe ich keine Ausgabe der „Klanghorizonte“ verpasst, – nur eine, als ich vergaß, den Wecker, den ich auf 4 Uhr gestellt hatte, auf „on“ zu stellen. Es gab nur einen Grund, warum ich das nicht bereut habe: Es brachte mich auf die Autorenliste dieses Blogs. Für mich waren die „Klanghorizonte“ immer mehr als eine Musiksendung mit einer verdammt coolen, schrägen und grenzüberschreitenden Auswahl, viel mehr. Es schimmerte, aus großer Entfernung, ein Lebensentwurf darin, was nicht nur an der Musik lag, sondern vor allem an den außergewöhnlichen und sprachlich verdichteten Moderationen. Als ich Michaels Stimme zum ersten Mal bei „Radio Unfrisiert“ hörte, dachte ich, was ist das nur für ein Typ, er verkörpert seine Sendung vollkommen und wirkt geradezu unverschämt frei. Ich habe mich von dieser Musik ernährt, Kassetten immer wieder zurückgespult, Playlisten erstellt, Mixtapes verschenkt, Teile der Moderation transkribiert. Ich wollte ein Teil von etwas sein, ohne genau zu wissen, wovon. Ich wollte die Aura dessen, was „die Sendung“, wie ich sie immer nannte (als ob es keine andere gäbe, und es gab keine andere), ausmachte, in meine Gedichte aufnehmen, das kristallisierte sich für mich heraus. „Dass so eine Musik existiert, macht Hoffnung“, sagte Michael bei der Moderation des Tracks Mittelfinger aus dem Album Geisterfaust von Bohren und Der Club of Gore. Eben eine Kassettenhülle aufgeschlagen und das Zitat gefunden. Es gäbe so viele davon. Auch wenn der Genuss der Livesendung unübertroffen war: Ich werde meine Aufnahmen wieder und wieder hören und mich nach einer Lieblingsformulierung von Michael durch die Musik an andere Orte transportieren lassen.
3 Comments
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Michael Engelbrecht:
So einen Text lässt man als Mit-Angesprochener besser unbeantwortet. Ich maches es trotzdem. Ein bisschen liest sich das ja wie ein „Nachruf“, auf diese Nächte in 31 Jahren zumindest, die du jetzt mit all den Kassetten in ein akustisches Perpetuum mobile verwandeln kannst. I am still kicking and alive, würde Ian aus Glasgow sagen:)
Eines weiss ich, die letzten zwei Songs, und was ich da, in den knappen zwei Minuten, erzählt habe, im Intro von Tomorrow Never Knows, das war mir ein Fest. Eigentlich viel zu viel Content für 110 Sekunden. Und ich glaube, einer der Sätze war, zumindest echokammermässig (nicht wörtlich): „Und es endet jetzt hier, am 3. September 1976, in der Queen Elizabeth Hall.“ Ein perfekter Zeitsprung, pure Illusion, und doch wahr. „1976. Es ist das Jahr, in dem Joni Mitchells Hejira erscheint.“ Jaco spielt den singenden Bass. Safe Journey.
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Martina Weber:
„Nachruf“ klingt ein bisschen brutal, so sollte es nicht rüberkommen. Melancholie ist schon dabei, auch wenn es für mich keine 31 Jahre waren, sondern nur 23 – plus zweimal Radio unfrisiert. Ja, die Abmoderation war reichhaltig. „See you on the road“ – kam mir sofort bekannt vor, hatte ich mir vor Wochen zu meinen „Nomadland“-Notizen als Titel für eine kleine Mana-Besprechung notiert und umkringelt ;)
Kommt also noch. -
Michael Engelbrecht:
Und jetzt weisst du, wo ich zur Schule gegangen bin, und wer der beste Lehrer in meinem Leben war😉