Wie schnell so etwas geht. Da wollte ich einfach nur herausfinden, von wem eigentlich Manfred Weissleder das Kino kaufte, aus dem er dann den Star-Club machte. Und plötzlich war ich mitten in der Hamburger Kinogeschichte.
Auf St. Pauli, Große Freiheit 39, gab es ein Ballhaus namens „Sternsaal“. 1949 erschien eine gelernte Filmvorführerin mit dem wunderbaren Namen Jeltheda Fraukina Lümmy Iderhoff aus Ostfriesland auf der Bildfläche, kaufte den bereits recht angejahrten Laden und machte daraus die Stern-Lichtspiele, ein Kino mit immerhin 750 Plätzen. Erfahrungen mit der Kinogeschäftsführung hatte sie bereits in Berlin gemacht, vorsichtshalber nahm sie als Geschäftspartner aber noch Walter Cartun dazu, der bereits einige andere St.-Pauli-Kinos betrieb. Frau Iderhoff stieg bereits 1951 wieder aus. Cartun führte die Stern-Lichtspiele allein weiter. 1962 brach ein Brand aus und das Kino hätte renoviert werden müssen. Da das Geschäft zu der Zeit nicht mehr gut lief, kam es Cartun mit Sicherheit sehr gelegen, dass Manfred Weissleder, seines Zeichens König von St. Pauli, dem schon weitgehend die linke Seite der Großen Freiheit gehörte, einen Notausgang für seine Erotic Bar im 1. Stock des Nebenhauses benötigte. Die einzige Möglichkeit, die er dafür hatte, war ein Wanddurchbruch zum Kino, und Cartun nutzte die Gelegenheit, das Gebäude loszuwerden, indem er es Weissleder verkaufte. Der hatte nun den Notausgang, den er brauchte, und ein renovierungsbedürftiges Kino, das er nicht brauchte. Als dann Horst Fascher, Rausschmeißer im Indra, ihm vorschlug, einen Musikclub zu starten, wusste er, wozu das Kino zu gebrauchen war, und so wurde wieder eine Art Ballhaus daraus. Star-Club hieß der Laden dann deshalb, weil Weissleder, praktisch denkend, wie er war, auf diese Weise den Neonstern an der Fassade weiter verwenden konnte. Der ist heute ein Ausstellungsstück im Museum für Hamburgische Geschichte.
Dann stieß ich im Web auf ein Foto der Frau Iderhoff, und es dämmerte mir, dass ich sie kannte. Da war ich wohl 11 oder 12 Jahre alt. Sie hatte nämlich 1951 eine kleine Kinokette gegründet: vier Stadtteilkinos namens „Roxy“, und eines davon lag in der Osterstraße in Eimsbüttel, fünf Minuten von unserer Wohnung entfernt, und kinoverrückt, wie ich als Kind schon war, habe ich ungezählte Jugendvorstellungen dort zugebracht. Die liefen immer Sonntags um 11 Uhr; ich erinnere mich unter anderem an die Fantomas-Trilogie, an U-2000, viele Donald-Duck-Filme und vieles mehr.
An Kinos faszinierte mich wirklich alles, und ich habe dem Personal Löcher in den Bauch gefragt — wo die Lautsprecher sind, was das für eine Folie in den Schaukästen ist, ob sie die „Heute“- und „In Kürze“-Schilder selber gemalt hätten, wie man das Licht dunkler werden lassen konnte (von Dimmern wusste ich noch nichts), wie man die Fotos in den Schaukästen nennt („Lobbycards“, mir unvergesslich), ob man diese Klappsitze eigentlich fertig kaufen könnte, und, und, und. Ich hatte da keinerlei Skrupel. Und — das habe ich erst jetzt auf dem Foto wiedererkannt — eines meiner Opfer war jene Frau Iderhoff. Sie war nicht immer da, ich wusste nicht, wie sie heißt, und schon gar nicht, dass sie die Besitzerin war. Aber sie war sehr geduldig mit mir. Beiläufig habe ich ihr erzählt, dass meine Tante Else (genau gesagt: meine Großtante) in den Eidelstedter Lichtspielen an der Kasse gesessen hatte und jetzt im Esplanade war. Das Esplanade war Hamburgs prachtvollstes Uraufführungskino, ein ehemaliger Ballsaal in einem Hotel.
Tatsächlich, Frau Iderhoff kannte meine Tante. Sie gab mir schöne Grüße mit auf den Weg. Damit war ich für sie dann wohl irgendwie in der Kinofamilie, und plötzlich durfte ich sogar einen Blick in den Vorführraum werfen.
Tante Else gelangte zu 15 Minutes of Fame, als im August 1970 am hellichten Tag die Esplanade-Kasse überfallen wurde. Das ging durch die Presse, und wie ich vermute, wird sie die Zeitungsartikel gerahmt haben. Der Täter wurde nie gefasst, sehr groß kann seine Beute nicht gewesen sein. Das Kino schloss 1982, stimmungsvoll mit Viscontis Tod in Venedig.
1968 wurde das Roxy geschlossen, das Kinosterben machte auch vor der Osterstraße nicht Halt. Das kleine Urania war schon lange weg, McDonald’s zog ein, das Emelka, 100 Meter vom Roxy entfernt, hielt sich auch nicht mehr lange. Immer hatte ich gerätselt, was das für ein seltsamer Name sei — „Emelka“. Die taten da allerdings immer sehr geheimnisvoll. Aber irgendwann hat es mir die Kartenabreißerin verraten: Das Kino gehörte ursprünglich zu einer Filmproduktionsfirma, der Münchner Lichtspielkunst — MLK. Da musste man erstmal drauf kommen. 1969 zog dort ein Pro-Markt ein, dem man bis heute ansieht, dass er mal ein Kino war Und das Roxy wurde abgerissen. Ich klaute aus den Trümmern ein paar Lobbycards und ein „Heute“-Schild. So lebte das Kino in meinem Kinderzimmer noch eine Weile fort.
Noch heute kann ich an keinem Kino vorbeigehen, ohne die Fassade zu fotografieren. Und noch immer habe ich einen fast untrüglichen Blick dafür, ob ein Gebäude mal ein Kino war. Und davon gibt es viele. — Der Hamburger Schriftsteller Wolfgang Borchert schrieb einmal ein Kurzgeschichte namens „Der Stiftzahn“, in der er einen Kinobesuch schildert, in dem jemand vor Lachen seinen Rahmbonbon mit Stiftzahn verliert. Ich bin als Student nach Eppendorf gezogen und wohnte dort quasi „um die Ecke“ von Borcherts Haus. Immer habe ich mich gefragt: In welchem Kino war das wohl? Es hatte ein paar Kinos in Eppendorf gegeben (auch dort war Frau Iderhoff mit einem Roxy präsent, aber natürlich viel später). Eine Stadtteilführung löste das Rätsel: Das Kino war genau gegenüber meiner Wohnung gewesen. Es hieß „Viktoria-Lichtspiele“ und war mit ungefähr 200 Sitzen das, was man in Hamburg als „Flohkiste“ zu bezeichnen pflegte.
Das Kino war 1963 geschlossen worden, aber wenn man sich den Spar-Markt, der jetzt darin war, genauer ansah, dann war der Grundriss eindeutig. Der Seitenausgang zur Straße war noch da, er diente jetzt als Lieferanteneingang, auch der Vorführraum war noch klar im Haus zu lokalisieren. Nach dem Spar-Laden zog Schlecker ein, was nach dem gekommen ist, habe ich nicht mehr mitbekommen.
Ein Buch, das seit Jahren mehr oder weniger ungelesen bei mir im Regal stand, habe ich jetzt wiederentdeckt. Eine unglaubliche Fleißarbeit. Da findet man sie alle wieder, die Kinos. Auf dem Cover sieht man das Harmonie-Kino in Wandsbek, in dem offensichtlich gerade Der Würger von Schloss Blackmoor gezeigt wurde — der einzige Film aus der Edgar-wallace-Reihe, dessen Musik nicht von Peter Thomas, sondern von Oskar Sala und seinem Mixturtrautonium stammt. Den habe ich auch mal besucht, in seinem Charlottenburger Studio. Die Welt ist klein.
Michael Töteberg, Volker Reißmann:
Mach dir ein paar schöne Stunden — Das Hamburger Kinobuch.
Edition Temmen, Bremen 2008.
So war das.