Es muss im Februar 2012 gewesen sein, als Julia Wörle auf der Lesebühne in Darmstadt als neue Teilnehmerin von Kurt Drawerts Textwerkstatt vorgestellt wurde und einen Prosatext las. Ich saß in einer der hinteren Reihen. Julia trug eine schwarze Lederjacke, ihr Text hatte den Titel Casino und verhandelte eine schonungslose Analyse von Machtverhältnissen aus der Sicht einer jungen Frau. Es gibt verschiedene Arten von Stille während einer Lesung. Die Stille während Julias Lesung war getragen vom Respekt gegenüber diesem Text, der unter die Haut ging und etwas wagte. Julia Wörle gelingt es zudem in ihren Texten, mit wenigen Sätzen eine intensive Stimmung zu erzeugen. Nach der Lesung sagte mir Julia, es sei lange her, dass sie den Text geschrieben habe, er sei in Nummer 7 (2002) der Münchener Literaturzeitschrift ausserdem veröffentlicht.
Nach einem weiteren großen Zeitsprung ist nun endlich vor ein paar Wochen Julia Wörles erster Prosaband erschienen: Die kleinen Manöver. In der Mitte des Covers findet sich ein Rettungsring, und zwar genau in dem Moment, in dem er jemandem mit einem Seil zugeworfen wird und es darauf ankommt, ihn aufzufangen. Im Hintergrund Muster wie auf einer ziemlich alten Tapete, Muster, die nach unten hin verblassen, und darunter öffnet sich eine blaue Fläche, das Meer vielleicht oder der Himmel oder auch gar nichts. Rechts oben auf dem Cover, als sei es auf jedes Buchexemplar einzeln mit einem pinkfarbenen Leuchtstift hingekritzelt: „Fuck off / I love you.“
Die Stärke der zwölf Erzählungen liegt – wie in Casino – darin, Nuancen von Machtverhältnissen in Beziehungen sehr verschiedener Art zu erkennen und dafür eine wunderbare Sprache zu finden. „Das Wesentliche spielt sich in den Zwischenräumen ab“, heißt es einmal (S. 114). Das ist Programm, nicht nur für die sehr poetische Sprache, die immer wieder mehrere Wahrnehmungs- und Assoziationsebenen antippt, sondern auch für das Personal und die Handlungsorte. Ein einfaches Hotel an einer Ausfahrtsstraße zum Beispiel. Oder ein Designer-Großraumbüro. Ein Yogakurscenter in Indien. Der Strand auf Coney Island bei New York. Ein verstorbenes Haus. Oder hier, einer dieser Clubs:
„Sie sieht sich kurz in einem der vielen Spiegel: eine kompakte, dunkel gekleidete Gestalt. Das Zerbrechliche, Instabile ist in ihren Augen. Blicke wie splitterndes Glas. Sie stellt sich an die Bar, Alkohol sammelt sich schwer in ihrem Körper. Die Musik fährt ihr unter das Zwerchfell, sie weiß nicht wohin mit den Händen.“
Das Buch Die kleinen Manöver wird auf dem Cover als Episodenroman bezeichnet. Personen tauchen in verschiedenen Texten wieder auf, vereinzelt liegen Jahrzehnte dazwischen. Manchmal kehren Personen nur in der Erinnerung zurück, wie kleine Geister, die weggelaufen sind, ins Nirgendwo. Im Anhang finden sich drei Übersichten, die das gesamte Personal der Erzählungen und ihre Verbindungen aufzeigen. Das funktioniert. Allerdings hatte ich Verbindungen teilweise auch anders gesehen und ich hätte mir auch vorstellen können, dass eine Figur unter einem anderen Namen in einer anderen Geschichte wieder auftaucht. Das erweitert die Lesarten.
In allen Erzählungen geht es um existenzielle, lebensprägende Erfahrungen, Entscheidungen, Wendepunkte, zumeist angesiedelt im privaten oder familiären Bereich. Es ist immer wieder die Sprache, es sind die anschaulichen Vergleiche, die Bilder, die aufblitzen, als wollten sie sagen, hey, lass ma´, sieh es doch so:
„Gerda hat die Silhouette eines Panzerkäfers, eine Frisur, die wie der Plastikhelm eines Playmobilmännchens auf ihrem Kopf sitzt, schnurgerade geschnittene Fingernägel.“ (S. 7)
„Das Hotel ist ein alternder Rockstar, unter dem Samt drücken sich die Knochen durch, Farbe blättert ab, im sanitären Gedärm rumpeln und schwappen Erinnerungen.“ (S. 153)
„Alles nur ein Spiel.“ (S. 103)
Farben spielen in dieser Prosa eine große Rolle. Als ob eine ganze Farbpalette in den Geschichten verarbeitet sei. Grün lackierte Fingernägel eines Mädchens. Ihre pinkfarbene kleine Tasche. Ein helles Gelb, wie ein T-Shirt oder eine Blüte, gepflückt vom Blumenstrauß eines Vorzimmers eines Beratungsunternehmens mit Karriereambitionen.
„(…) und dass ich Leuten nicht vertrauen kann, deren Geschichte ohne Dellen ist.“ (S. 44)
Es gibt Texte wie die Titelgeschichte Die kleinen Manöver, bei denen ich mir nur vorstellen kann, dass die Zuhörenden während Julia Wörles Lesung einfach vergessen, weiter zu atmen.
Phosphor. Ein Leuchten im Dunkeln.