Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

2020 12 Mai

100 Jahre Betzenberg. Stadion zwischen Himmel und Hölle

von: Lajla Nizinski Filed under: Blog | TB | 6 Comments

„Eine Mannschaft ohne Abenteurer ist wie ein Land ohne Poesie.“

(Menotti, Fussballphilosoph)

 

„Und in Erinnerung bleiben die Teams, die mit gutem Spiel gewonnen haben … und nicht die Bastarde der modernen Kultur, die Fussball als reine Ware betrachten.“

(dito)

 

Wenn ich ihn sehe, dann immer an der Hand unserer Mutter. Wenn ich ihn spüre, dann durch seine verschwitzte Hand, die mich den Berg hinaufzog. Wir waren 12, er 14, seine Freunde waren die Söhne der Helden vom „Wunder von Bern“. Fritz Walter war unser Fussballgott. Wir stiegen mit erregtem Gemüt und viel Gaudi hinauf zum Betzenberg, so wie wir später in die Tempel- und Konzertarenen zogen. Wir waren wild things. Wir pendelten zwischen Ottmar Walter’s Kino und der roten Hölle. In K-Town gab es immer eine nervöse Spannung wegen der anwesenden Garnisonen. Auf dem Peak in der Westkurve konnten sich solche Emotionen gefährlich entladen. Günther Netzer: „Da war man schon in grösserer Gefahr.“ Fritz Walter gab den roten Teufeln die Farbe, er spielte während des 2. Weltkriegs bereits in der Soldatenmannschaft „Rote Jäger“. Es waren er und später Sepp Herberger, die den 1. FCK beziehungsweise die Nationalmannschaft geformt hatten. Zu seinem 65. Geburtstag taufte man den Platz auf seinen Namen: Fritz Walter Stadion.

Wenn ich mir meine Leidenschaft für Fussball erklären will, treten rationale Bezüge vollkommen in den Hintergrund. Es sind ganz grosse Gefühle, die ich mit dem „Betze“ verbinde: das Bruder/Schwester Ereignis,  die zarten Küsse meiner ersten Liebe,  die ausgelassene Freude über das 7:4 gegen die Bayern oder 5:0 gegen Madrid. Es sind die Überraschungen, die als 6. grundlegendes Element der Emotionen der Ratio den Platz verweisen. „Take my hand –  life is what happens to you while you’re busy making other plans …“ (John Lennon).

Mein letztes Highlight auf dem Betzenberg war das WM Spiel 2006. Die FIFA hatte mit dem Letzten noch Lebenden der Waltermannschaft, Horst Eckel, einen teuflischen Deal ausgehandelt. Er holte die saudische Mannschaft ins Stadion nach K Town, wo sie gegen die Spanier vor deren König aufliefen.

Ich hatte Tickets für meine Kursteilnehmer aus Saudiarabien von deren Botschafter geschenkt bekommen. Spanien gewann knapp mit 1:0. Nach dem Spiel zogen wir eingehüllt in die islamgrünen Nationalflaggen hinunter zum Marktplatz, wo ich ihnen die Erfolgsgeschichte des 1.FCK erzählte: 4 mal Deutscher Meister, 2 mal Pokalmeister und Fritz Walter, unser Lauterer Bub, erzwang mit seinen Jungs das Glück, am Ende kamen sie als Weltmeister zurück.

Ich zeigte ihnen die Stadt mit dem zu gross geratenen Stadion. Ich beschrieb ihnen, wie die ersten Männer mit Schaufel die Erde vor ca.100 Jahren umgruben. Wie 2002 der Umbau zum WM Stadion erfolgte, der den Niedergang des Clubs bereits ein Jahr später anzeigte. Alle Kredite und Sponsorengelder führten nicht dazu, dass der 1. FCK sich in der 1. Liga halten konnte. Heute spielt er in der 3. Liga, manchmal vor ausverkauftem Stadion, das heisst: vor fast 50.000 Zuschauern. Da bebt es in der Westkurve: wenn der Morgen erwacht und die letzten Schatten vergeh’n, sieht man den FCK wieder oben steh’n.

 

This entry was posted on Dienstag, 12. Mai 2020 and is filed under "Blog". You can follow any responses to this entry with RSS 2.0. Both comments and pings are currently closed.

6 Comments

  1. Michael Engelbrecht:

    Heute Nacht rieb ich mir schon verwundert die Augen, ich hatte Rücken, LWS, eine Paracetamol, und staunend nahm ich die drei langen Texte wahr über K-Town, Peacock und K-Werk. Schon beim Lesen verging der leichte Schmerz, so fesselte mich das.

    Auch für einen BVB-Fan ist Lautern eine vertraute Grösse. Legendäre „Schlachten“ am Betze, den ich selbst nie bestieg. Und selbst ich erinnere mich an die Sportschau, als ich staunend sah, wie Lautern Bayern 7:4 besiegte, ich glaube, nach 1:4 Rückstand.

    Vor der Ära der Geisterspiele besteht die Fussballberichterstattung weitgehend aus Erinnerungen. So auch die Mai-Ausgabe von 11 FREUNDE, auch wenn die grosse Überschrift lautet: Das Spiel geht weiter. Aber wirklich lesenswert, Lajla. Zum Beispiel die Sektion GIBT‘S DOCH GAR NICHT (Wunderbare Geschichten über den ungebrochenen Zauber des Spiels).

    Ansonsten: grosses Kino, der Blog in diesen Tagen. Wie eigentlich immer 😉

    Ich empfehle an dieser Stelle die DVD DOKU über eine grosse Hymne: YOU‘LL NEVER WALK ALONE.

    Und solange der Fussball Typen wie Menotti hervorbringt, wird es Legenden geben, kleine und grosse Geschichten.

    ⚽️⚽️⚽️⚽️⚽️Grüsse von ANTIFA und BVB🥅🥅🥅🥅🥅

  2. Jan Reetze:

    Schöne Geschichte, Lajla! — Ich bin nie ein großer Fußballfan gewesen, aber dies sind so ferne Legenden aus der Kinderzeit. Ich kann mich noch ans Endspiel 1966 erinnern, im Gasthaus Otto in Wahmbeck (richtig, im Weserbergland), das halbe Dorf saß vor dem Fernseher, und ich spüre fast noch die wirklich ungeheure Spannung, die da entstand. Und an die Empörung, als das Ergebnis feststand.

    Da war Fußball zwar eine ernste Angelegenheit, aber immer noch in erster Linie ein Spiel. Die Spieler, auch die Stars, machten nach ihrem Karriereende einen Tabakwarenladen oder ein Sportgeschäft auf, oder wurden Adidas-Vertreter. Heute ist das für mich nur noch Showbusiness, mit horrend überbezahlten Spielern und Fans, deren Verhalten oft ans Irrsinnige grenzt.

    Ach ja, und wenn ich eines immer zum Davonlaufen fand, dann waren das Intellektuelle vom Schlage eines, sagen wir mal: Walter Jens, die über Fußball philosophierten. Ich glaube, die sind mitschuld daran, dass ich irgendwann den Radsport entdeckt habe.

  3. Uwe Meilchen:

    … und beim Radsport hat dann Peter „Menschenpark“ Sloterdijk den einen oder anderen Gedanken beizusteuern.

  4. Jan Reetze:

    Seine Gedanken dazu interessieren mich weniger (same procedure as Walter Jens), aber seit ich weiß, dass Sloterdijk tatsächlich noch mit 60 den Mont Ventoux gefahren ist, habe ich zumindest in dieser Hinsicht einigen Respekt vor ihm.

  5. Michael Engelbrecht:

    Lajla, hier, eine BVB-Legende, ein unglaublich liebenswerter, und sozial sehr engagierter Mensch. Wobei ich Neven sowieso sympathisch finde, auch wenn er nicht über den Tellerramd blicken könnte. Wer hier reflexhaft lästert, hat den Schuss nicht gehört. Ich war übrigens dabei :)

    https://www.youtube.com/watch?v=GmPko8L5A0I

  6. Michael Engelbrecht:

    Und, Uwe, wer viel schreibt, liegt natürlich auch mal daneben. Sloterdijk ist ein wachsamer, heller Geist, der eine unglaubliche Bereicherung zeitgenössischen Denkens und Über Den Tellerrand Hinausblickens ist, wobei wir wieder beim Fussball sind. Ein feines Buch hat er zu selbigem geschrieben, das bei mir gleich neben Ror Wolfs PUNKT IST PUNKT rangiert. Punkt.


Manafonistas | Impressum | Kontakt | Datenschutz